Landwende im Anthropozän: Von der Konkurrenz zur Integration

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4  Transformative Governance für einen solidarischen Umgang mit Land Kasten 4.2-5

Fazit Digitalisierung: Gemeinwohlorientierung stärken und besseres Monitoring zur Beschleunigung einer globalen Landwende nutzen

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Wie die vorangegangenen Kästen zu Digitalisierung (Kästen 3.1-2, 3.2-2, 3.3-15, 3.3-16, 3.4-12, 3.5-1, 4.1-1) verdeutlichen, bietet diese insbesondere für Monitoring, aber auch generell zwar vielfältige unterstützende Potenziale für einen nachhaltigen Umgang mit Land, aber weder schnelle, noch allgemeine Lösungen zur Bewältigung komplexer Probleme. Diese Probleme liegen generell, und auch speziell in Bezug auf Landnutzung, oft jenseits der Digitalisierung. Im Fall der SDG-Indikatorik liegen sie z.  B. in der Überschneidung zwischen Politik und amtlicher Statistik. Die europäische SDGIndikatorik wird gegenwärtig u.  a. aufgrund unzureichender Daten und Indikatoren kritisiert. Deren Auswahl stellt immer auch eine politische Frage dar. Zudem sind reale Entwicklungen und deren zeitlicher Horizont mit Blick auf die Gefährdung der Ziele der Agenda 2030 oft nicht adäquat abgebildet, wodurch ein positiv verzerrtes Bild entstehen kann (SDG Watch Europe, 2020). Digitalisierung ist zwar nicht Ursache dieses Problems, könnte aber durchaus zur Lösung beitragen. Auch wenn die Digitalisierung helfen kann, neue Lösungswege für eine globale Landwende zu beschreiten, ist vorab die Entscheidung für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Land und seinen Ökosystemen notwendig. Erst mit klar definierten Zielen lassen sich kontextadäquate digitale Hilfsmittel entwickeln bzw. implementieren. Vielfach ist dabei jedoch kein Rückgriff auf „fertige Lösungen“ möglich, sondern weitere Forschung und Entwicklung nötig. Für alle Anwendungen sollte zudem vermieden werden, dass Digitalisierung zum „Brandbeschleuniger“ nicht nachhaltiger Produktions- und Konsummuster wird und dazu beiträgt, ökologische und soziale Kosten zu externalisieren (WBGU, 2019b). So bahnbrechend die Monitoring-Fortschritte der letzten Jahre mittels Fernerkundung sind und trotz ihrer verstärkten Nutzung im Rahmen von z.  B. REDD+ (Kasten 3.1-6), ist jenseits von Satelliten auch auf der Erde materielle Infrastruktur nötig, um die anfallenden Daten zu speichern und zu verarbeiten. Diese sollte nicht nur im Hinblick auf Energie- und Ressourcenverbrauch nachhaltig, sondern auch gemeinwohlorientiert gestaltet werden (WBGU, 2019a, b). Dies beinhaltet die Frage nach offenen Daten für transparente, zuverlässige, allgemein zugängliche und nachhaltige nationale Wald­ monitoringsysteme im Rahmen von REDD+. Eine stärkere öffentliche Finanzierung (und öffentlich-rechtliche Gestaltung) für die großskalige Erhebung, Speicherung und Teilung von Daten kann nicht nur informationsbasiert das öffentliche Vertrauen in politische Maßnahmen stärken, sondern ebenso private Investitionen anreizen (Fox, 2018). Als wichtiger Hebel für eine sektorübergreifende Nutzung offener Daten in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft a. kann dabei eine breite Implementierung der aktuell u.  im Kontext der European Open Science Cloud verankerten FAIR-Prinzipien („Findability, Accessibility, Interoperability, and ­Reusability“; Wilkinson et al., 2016; WBGU, 2019b:  416) dienen. Ein umfassendes, internationales Monitoring von Ökosystemen und Landnutzungsdynamiken rückt aktuell in greifbare Nähe, was für verbesserte SDG-Indikatorik ebenso relevant ist wie für einen nachhaltigen Umgang mit Land. Wie die im Zusammenhang mit Copernicus und REDD+ angeführten Forschungsprojekte zeigen, ist jedoch die Implementie-

rung keine rein technische Angelegenheit. Dies gilt ebenso für die Nutzung von Digitalisierung zum Monitoring von Biodiversität und Ökosystemen (­Kasten 3.2‑2). Einerseits muss bei Beobachtungen sichergestellt werden, dass sich keine Risiken im Hinblick auf die Privatsphäre der in den beobachteten Regionen lebenden Menschen ergeben. Andererseits bietet Citizen ­Science vielfältige Chancen, um ­Bürger*innen und ihr Wissen als Pionier*innen des Wandels besser einzubeziehen, bis hin zu einer neuen, ergänzenden Datenquelle für die Wissenschaft sowie SDG Monitoring und Reporting (Kasten 4.1-1). Eine nachhaltige, am Gemeinwohl orientierte Digitalisierung sollte insofern Chancen nutzen, aber potenzielle Risiken stets minimieren. Dazu wirft die Anwendung von Big Data im Zuge der Präzisionslandwirtschaft als Basis für die fortschreitende Nutzung von KI und Robotik die Frage auf, wem die dabei erzeugten und verarbeiteten Agrardaten dienen (Kasten 3.3-16). Nicht nur international besteht das Risiko, asymmetrische Machtverhältnisse von Produzent*innen und Bürger*innen gegenüber der Agrarindustrie weiter zu verschärfen. Zentral ist somit, wer die Technologie und ihre Gestaltung sowie den Zugriff auf Informationen kontrolliert. In diesem Zusammenhang ist die Gestaltung und Governance einer europäischen Agrarplattform als Teil eines größeren Ökosystems („GAIAX“ bzw. „Agri-Gaia“; BMWi, 2020b) gegenwärtig sowohl die Chance, alte Pfadabhängigkeiten aufzubrechen, als auch das Risiko, diese zu verschärfen oder gar neue zu schaffen. Sofern Nachhaltigkeit nicht integraler Bestandteil der Zielsetzung wird, ist jedoch letzteres zu erwarten. Dies verdeutlicht erneut, dass gesellschaftliche Zielkonflikte vor der Entwicklung technischer „Lösungen“ gelöst werden müssen. Selbst wenn digitale „Lösungen“ gewünscht sind, zeigen bisherige Pilotprojekte zu Blockchain und smart contracts im Agrarbereich, dass für deren Einsatz politische und juristische Voraussetzungen sowie gesellschaftliche Debatten und Entscheidungen nötig sind. Eine fundamentale Pfadentscheidung für die Zukunft digital unterstützter Landwirtschaft liegt etwa darin, ob Präzisionslandwirtschaft das bestehende großskalige System industrieller Landwirtschaft als Referenzrahmen nutzt, oder innovative Ansätze einer kleinräumigen digitalisierten Landwirtschaft verfolgt werden (Kasten 3.3-15). Auch im Bereich nachhaltiger Ernährung (Kasten 3.4-12) zeigt sich, dass Apps individuell unterstützen können, nachhaltige Konsum- und Ernährungsstile zu befördern. Jedoch können sie keine verlässliche und durchgängig verbreitete Zertifizierung und bessere Lieferkettentransparenz ersetzen. Erst wenn diese Bedingungen geschaffen werden, ließe sich eine digitale Lösung imaginieren, die alle Informationen zusammenführt. Jedoch wäre dazu nicht zwangsläufig eine App nötig, wie das Beispiel Nutri-Score zeigt. Der VZBV (2020) setzt sich gegenwärtig für seinen national flächendeckenden statt wie bislang freiwilligen Einsatz ein sowie auch für die europaweit verpflichtende Einführung, begleitet von ­omplette einer Informationskampagne. Zudem wäre eine k Digitalisierung dieser wichtigen Informationen ein Ausschließungssystem für Personen, denen es an Endgeräten oder digitalen Kompetenzen fehlt. Beim Thema Bioökonomie (Kasten 3.5-1) zeigt sich darüber hinaus nicht nur ein oft im „Hype“ verzerrtes Bild von Potenzialen und Risiken neuer Technologien, sondern auch, dass Zielkonflikte bei Nachhaltigkeit immer auf ethische, politische und juristische Fragen zurückgehen. Diese lassen sich nicht ausrechnen, wie ein Projekt zur Anwendung von Blockchain in Stakeholder-Prozessen zeigt (Kasten 3.5-1), sondern müssen gesellschaftlich entschieden werden. Dazu


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