Der normative Kompass des WBGU im Digitalen Zeitalter 2.2
räumen für die demokratische Selbstverständigung über mögliche Zukünfte (Schöppner, 2016). Er schlägt vor, Digitalisierung und die damit verknüpften gesellschaftlichen Diskurse über Bildung und Transformation als Chance zu begreifen, um die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften in den Blick zu nehmen. Es gilt nicht, den Menschen für eine veränderte digitale Umwelt vorzubereiten, sondern die Rahmenbedingungen für die Entfaltung der menschlichen Potenziale in einer digitalisierten und ökologischen Umwelt zu schaffen. Konkret bedeutet dies, Menschen zur Zukunftsgestaltung zu befähigen und das aktuelle Bildungsverständnis zu reflektieren. Historisch betrachtet ging mit jeder großen Transformation von Gesellschaften meist auch eine Transformation von Regeln und Normen, des Denkens, der Kommunikationsformen und der Kultur einher. Oft waren diese immateriellen Veränderungen den strukturellen vorgelagert: menschliche Beobachtung, Reflexion und Imagination treiben Abweichungen, Experimente und Innovationen an. Der Report des International Social Sciences Council (ISSC) von 2013 und der UNESCO hat dazu den Begriff der Futures Literacy (Zukunftsfähigkeit) eingeführt: „die Fähigkeit der Menschen, sich Zukünfte vorstellen zu können, die nicht auf versteckten, unhinterfragten und manchmal fraglichen Annahmen zu vergangenen oder heutigen Systemen basieren“ (ISSC und UNESCO, 2013: 69). Imaginationsfähigkeit und Bewertung von Zukünften wird von individuellen Weltanschauungen intentional agierender Akteure und auch von Machtstreben, Interessen und Gerechtigkeitsempfinden beeinflusst. Die zentrale Umsetzungsidee von Zukunftsfähigkeit ist die der Reflexion: „die systematische Herausstellung von blinden Flecken, um in der Imagination unbekannter Zukünfte sowie der kritischen Auseinandersetzung mit Aktivitäten in der Gegenwart mit neuen Beschreibungen (frames) experimentieren zu können“ (ISSC und UNESCO, 2013). Zukunft wird hier nicht als ein möglichst genau zu prognostizierender Zustand begriffen, der auf uns zukommt und auf den es sich vorzubereiten gilt. Zukunft gilt als ein vorstrukturiertes, aber langfristig offenes Ergebnis der heutigen Entscheidungen und Handlungen. Dadurch ist Zukunft auch nicht singulär, sondern es sind viele verschiedene Zukünfte denkbar. Die Auseinandersetzung mit Zukunftsgestaltung umfasst damit sowohl plausible als auch mögliche und wünschenswerte Zukünfte. Um notwendige oder strukturell forcierte Transformationsprozesse möglichst demokratisch und konfliktarm zu gestalten ist also ein Bewusstsein für diese selektive Wirkung von Paradigmen und Annahmen über die Welt wichtig. Positiv gewendet ließe sich formulieren, dass der Grad der Reflexionsfähigkeit und Bildung in einer Gesellschaft ihre Transformationsfähigkeit bzw. Zukunftsfähigkeit direkt beeinflusst.
2.2 Der normative Kompass des WBGU im Digitalen Zeitalter Der WBGU hat 2016 einen normativen Kompass (WBGU, 2016a) als erweiterte normative Grundlage der Großen Transformation zur Nachhaltigkeit (WBGU, 2011; Kap. 2.1) vorgelegt und dort mit Blick auf die transformative Kraft der Städte ausbuchstabiert. Dieser Kompass wird im vorliegenden Gutachten auf die spezifischen Herausforderungen der Digitalisierung angewandt. Grundorientierungen des Kompasses sind die Erfordernisse der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen sowie der Sicherung von Teilhabe und Eigenart.
2.2.1 Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ist ein Kernkonzept der Großen Transformation zur Nachhaltigkeit und bildet eine der drei Dimensionen des vom WBGU entwickelten normativen Kompasses (WBGU, 2016a: 145). Diese Dimension umfasst zum einen die Einhaltung planetarischer Leitplanken, deren Überschreiten heute oder in Zukunft intolerable Folgen mit sich brächte. Zum anderen beinhaltet sie die Vermeidung lokaler Umweltprobleme, deren Auswirkungen in komplexer Wechselwirkung mit globalen Umweltveränderungen stehen können (WBGU, 2016a). Die Digitalisierung beeinflusst aktuelle Lebens- und Wirtschaftsweisen grundlegend und verändert damit auch unsere Möglichkeiten, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten und langfristig solidarische Lebensqualität auf unserem Planeten zu sichern. Die unterschiedlichen Effekte der Digitalisierung auf Ressourcen- und Energieverbrauch gilt es kritisch in ihrer Auswirkung auf die geophysikalischen, biologischen und atmosphärischen Prozesse des Planeten und lokaler Umwelten zu prüfen (z. B. Kap. 5.2.1, 5.2.6). Eine umfängliche, globale Einschätzung dieser Effekte ist derzeit nicht möglich, nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Datenlage (Köhler et al., 2018). Jedoch ist ihre steigende Relevanz, vor allem in Anbetracht der Dringlichkeit globaler und lokaler ökologischer Probleme, unumstritten. Es ist daher notwendig, die Digitalisierung aktiv so zu gestalten, dass planetarische Leitplanken und lokale Umweltveränderungen berücksichtigt werden. Zwei Kernfragen resultieren aus diesem Anspruch: Inwiefern können erstens die Chancen der Digitalisierung dazu beitragen, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten? Wie kann zweitens verhindert
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