WBGU Hauptgutachten: Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte

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Handlungsempfehlungen

9.1 Herausforderungen Bereits heute lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten. Es wird erwartet, dass dieser Anteil bis Mitte des Jahrhunderts auf rund zwei Drittel ansteigt, so dass dann ca. 6,5 Mrd. Menschen in Städten leben werden. Ausgangslage und Dynamiken unterscheiden sich in den Weltregionen fundamental: Während in Europa und Nordamerika der größte Urbanisierungsschub bereits im letzten Jahrhundert erfolgte, verzögert auch in Lateinamerika, und in diesen Regionen heute bereits mehr als drei Viertel der Menschen in Städten leben, sind es in Asien und Afrika heute noch deutlich weniger als die Hälfte. Die Wucht der derzeitigen Urbanisierungsdynamik konzentriert sich daher vor allem in Asien und Afrika (Kap. 2.1). Die Auswirkungen sind so groß, dass man sich diesem Trend stellen muss. Es ist anzunehmen, dass bis Mitte des Jahrhunderts zusätzlich etwa 2,5 Mrd. Menschen in Städten leben werden (UN DESA, 2014). Vor dem Hintergrund der bestehenden kognitiven, technischen, ökonomischen und institutionellen Pfadabhängigkeiten würde ein „­Weiter so“, also eine ungestaltete, gleichsam automatisch ablaufende Urbanisierung zu einer nicht nachhaltigen WeltStädte-Gesellschaft führen. Bereits heute leben mehr als 850 Mio. Menschen in inadäquaten Wohnverhältnissen ohne substanzielle Basisversorgung (UN DESA, 2015). In Afrika südlich der Sahara leben derzeit mehr als 60  % der Stadtbevölkerung in Slums, in Asien sind es etwa 30  % (UN DESA, 2015). Bis 2050 könnte sich die Zahl der in inadäquaten Wohnverhältnissen lebenden Menschen um 1–2 Mrd. erhöhen, sofern keine wirksamen Maßnahmen dagegen unternommen werden (UN DESA, 2013). Die Differenz zu den insgesamt etwa 2,5 Mrd. zusätzlich erwarteten Stadtbewohnern, also bis etwa 1,5 Mrd. Menschen, würden in diesem Fall demnach nicht in Slums, sondern in neuen, in kurzer Zeit entstehenden Stadtquartieren hinzukommen. Dieser Umzug der Menschheit könnte der wirkungsmächtigste Prozess sozialen Wandels im 21. ­Jahrhundert werden.

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Damit sind immense Herausforderungen für die Sicherung adäquater Wohn- und Lebensverhältnisse in bestehenden und in großer Zahl neu entstehenden Städten oder Stadtquartieren verbunden. Zusätzlich sehen sich viele Städte mit den Herausforderungen des B. müssen Antworten Klimawandels konfrontiert, z.   auf die Bedrohung zahlreicher Küstenstädte durch den Anstieg des Meeresspiegels und Sturm- und Überflutungsrisiken gefunden werden (Revi et al., 2014a). Der Urbanisierungsprozess geht mit einer besonders hohen Wachstumsdynamik in Mittelstädten einher (medium sized cities: 1–5 Mio. Einwohner). Die Herausforderung besteht auch darin, der wachsenden Stadtbevölkerung langfristig einen angemessenen Zugang zu Infrastrukturen und Einkommensmöglichkeiten sowie eine gute Lebensqualität zu ermöglichen, sie zur Mitgestaltung zu gewinnen und zu befähigen und gleichzeitig den Urbanisierungsschub ressourcenschonend und klimaverträglich zu gestalten, so dass ­planetarische Leitplanken eingehalten werden. Dafür sind fundamentale Veränderungen in der urbanen Entwicklung erforderlich, die der WBGU als Große Transformation zur Nachhaltigkeit beschrieben hat (WBGU, 2011; Kap. 3.1).

9.1.1 Stadtentwicklung neu ausrichten und gestalten Wie wir in den Städten leben ist gestaltbar und nicht das Ergebnis einer unausweichlichen Urbanisierungsdynamik. Ob Wohnen erschwinglich ist, ob Städte in wohlhabende und prekäre Stadtquartiere zerfallen, ob Straßen­ lärm und Luftverschmutzung hingenommen werden, ob Durchgangsstraßen die Städte zerschneiden oder ob sich Mobilität in Städten dem Primat des privaten Autoverkehrs unterordnen muss, kann von den Städten und Stadtgesellschaften beeinflusst werden. Dabei gehen die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Städten und der Beitrag der Städte für die globale Transformation zur Nachhaltigkeit Hand in Hand. Städte sind eingebunden in eine Hierarchie von Regie-

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