WBGU Hauptgutachten: Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte

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Transformatives Handlungsfeld „Urbane ­Gesundheit“  4.5

(WHO, 2014b). Die Außenluftverschmutzung verursachte im Jahr 2012 weltweit 3,7 Mio. Todesfälle (WHO, 2014a). Verkehr, Kraftwerke, Industrie sowie offene Feuer (Abfälle, Biomasse, Heizen, Kochen) sind hierfür vorwiegend verantwortlich (Lelieveld et al., 2015; WHO und UN-Habitat, 2010). Waldbrände (in Südostasien, aber z.  B. auch in Nordamerika) sind eine weitere signifikante Quelle für Luftverschmutzung in Städten und tragen zu einem Anstieg chronischer Atemwegserkrankungen bei (UN Habitat, 2010b). Der weitaus größte Teil der Todesfälle betrifft Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen in Asien und Afrika (WHO, 2014a, b; Kap. 2.3.4.1). In China ist die Luftverschmutzung eine der häufigsten Todesursachen überhaupt (Lelieveld et al., 2015). Oft sind die Menschen in einkommensschwachen Nachbarschaften der Luftverschmutzung überdurchschnittlich stark ausgesetzt (WHO und UN-Habitat, 2010). Die gesundheitsschädliche urbane Luftverschmutzung setzt sich vor allem aus Feinstaub und verschiedenen schädlichen Gasen zusammen (Kap. 2.3.4.1). Die durch Luftverschmutzung ausgelösten Krankheiten betreffen vor allem die Atemwege (z.  B. akute Erkrankungen der unteren Atemwege, chronische obstruktive Lungenerkrankungen, Lungenkrebs) sowie das HerzKreislauf-System (z.  B. Herzinfarkt, Schlaganfall; WHO, 2014a, b). Eine Transformation ist nicht zuletzt deswegen notwendig, um die ansonsten zu befürchtende Verdopplung der weltweiten Sterblichkeit bis 2050 durch Luftverschmutzung außerhalb von Gebäuden (Lelieveld et al., 2015) zu vermeiden. Die Städte haben hier einen großen Beitrag zu leisten. Technische Lösungen (z.  B. Umstieg auf andere Brennstoffe, Katalysatoren und Filter, Motorendesign) und politische Instrumente (z.  B. Grenzwerte, Emissionsstandards, Verbote, Steuern und Abgaben, Anreizmechanismen, Bildung und Aufklärung) zur effektiven Bekämpfung der Luftverschmutzung sind in den letzten Jahrzehnten entwickelt worden. Die Erfahrungen, die in den bereits seit längerem bestehenden Megastädten gemacht wurden (z.  B. Los Angeles oder Mexiko-Stadt) bieten wertvolle Hinweise für eine effektive Luftreinhaltepolitik in den heute rasch wachsenden Städten in Schwellen- und Entwicklungsländern (WMO und IGAC, 2012). Konsequente Umwelt- und Gesundheitspolitik zur Regulierung von Verbrennungsprozessen innerhalb wie außerhalb von Gebäuden (von offenen Feuern für Müllverbrennung, Heizen und Kochen über die Großindustrie und Kraftwerke bis hin zu Verkehr und Tabakrauch) sind der Schlüssel zum Erfolg (WHO und UN-Habitat, 2010; WMO und IGAC, 2012). In Europa sind die durch urbanen Feinstaub verbliebenen Probleme lösbar, wenn die bereits beste-

henden Regeln konsequent angewandt und die besten technisch verfügbaren Technologien eingesetzt werden (Kiesewetter et al., 2015). Auch in den dynamisch wachsenden Städten in Schwellen- und Entwicklungsländern finden die genannten Techniken und Instrumente Anwendung; allerdings werden die so erreichten Fortschritte durch den insgesamt rasant steigenden Einsatz fossiler Energien häufig konterkariert (UNEP, 2012b). Daher erscheint dort eine inkrementelle Strategie nicht ausreichend, sondern es sollte versucht werden, eine konsequente transformative Strategie der vollständigen Dekarbonisierung der Energiesysteme zu verfolgen (WBGU, 2011, 2014a). Dabei geht es zum einen um Rahmenbedingungen, die auf nationaler Ebene entschieden werden, etwa die Festlegung quellenbezogener Grenzwerte oder Steuern. Eine Reform der Energiesubventionen könnte die durch Luftverschmutzung verursachten vorzeitigen Todesfälle um mehr als die Hälfte verringern (Coady et al., 2015). Zum anderen ist den Städten selbst eine sektorenübergreifende, schutzgutbezogene, langfristige und transformative Strategie zu empfehlen, die Verkehr, Gebäude, Energieproduktion, Industrie und Abfallentsorgung umfasst (WHO und UN-Habitat, 2010). Maßnahmen zur Luftreinhaltung sind sehr effizient, denn dadurch können gesundheitliche Beeinträchtigungen sowie hohe Kosten durch Gesundheits- und Todesfolgen vermieden werden. Die durch eine solche Transformation erzielbaren mehrfachen Zusatznutzen (Gesundheits- und Klimaschutz, Versorgung mit nachhaltiger Energie, Ernährungssicherung, Lärmvermeidung) werden in Kasten 4.5-4 beschrieben.

4.5.5 Folgerungen: Transformationspfade urbaner Gesundheit Städte weisen spezifische Chancen, aber auch Risiken für die urbane Gesundheit auf. Dabei variieren weltweit die Lebensbedingungen, Lebensqualitäten und die Krankheitslast sowohl zwischen als auch innerhalb von Städten. Ziel der urbanen Transformation ist es, Ressourcen und Potenziale für ein gesundes Leben und Aufwachsen in allen Städten zu stärken und Belastungen zu minimieren. Dabei sieht der WBGU vor allem drei zentrale Herausforderungen: (1) der Anstieg nicht übertragbarer Erkrankungen und die Ausbreitung ungesunder Konsumgewohnheiten, (2) die Gefahr durch urbane Epidemien und neue Infektionskrankheiten sowie (3) die Zunahme gesundheitlicher Ungleichheiten in urbanen Gesellschaften. Diese Herausforderungen bedürfen einer salutogenetischen (Kasten 4.5‑1), sektorübergreifenden und holistischen

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