Der Phantastische Reiseführer 2020 zur Leipziger Buchmesse

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∏ Midgard, Alt-Dresden, 9. August

W

ar der Übergang zwischen den Welten ein unwirkliches Erlebnis gewesen, so vermochte er es nicht einmal ansatzweise, mit der Landschaft jenseits des Schleiers zu konkurrieren oder gar seine wunderliche Schönheit zu übertreffen. Wo im Bruchteil einer Sekunde die Welten verschwommen, die Körper verschwunden und die Formen vergangen waren, stemmte sich grotesk die Stadt mit scharfen Kanten in die ihr noch mögliche Höhe und erzählte von ihrer vergangenen Größe. Hoch war sie nicht. Nicht ein Funken der ehemaligen Pracht schien nach den Jahren des Verfalls noch in den Trümmern geblieben. Wie ein Gebirge in Schwarz ragten die ehernen Mauern. Wie Schnee stob der Staub in der Sommerhitze. Vor uns streckte eine ganz andere Wüste ihre trockenen Finger zum Horizont, bedeckte den Boden mit einem Mantel des Todes und zeigte uns die Schrecken ihrer Geschichte auf: ihre Zerstörung im Feuer, ihre stürzenden Steine, ihre gefallenen Mauern, die gebrochenen Räume und schließlich die Menschen, die in ihr den Tod gefunden hatten ... Ob sie unter den Ziegeln noch immer ruhten, die Menschen? Die Steine lagen wie einst belassen. Nur bei wenigen Gebäuden war die ursprüngliche Silhouette zu erahnen, die einmal dieser Stadt ihr Antlitz verliehen und ein unverkennbares Bild als die Stadt an der Elbe für Reisende und Händler geboten hatte – bei weniger noch konnte man nunmehr erkennen, wozu sie einmal gedient haben mochten. Lebende Menschen waren keine geblieben und der Grund dieser Gräber war lange vergangen. Geblieben waren bloß noch tote Trümmerteile, traurige Stützen der Mauerkolosse und die Erinnerung an den vergessenen Lebensfunken. Nicht schwer fiel es mir daher, die Spuren des Krieges zu sehen. Er hatte hier gewütet und getobt – noch vor meiner Zeit. Und nicht schwer fiel es mir weiter, meinen Schwur zu erneuern: nicht zuzulassen, dass solch Unglück erneut hier geschah, während Unschuldige starben und Machtgierige siegten. Njörds Atem ging in zitternden Zügen, als der Vane den Blick über die Zerstörungen und das Chaos der zermalmten Stadt schweifen ließ. Zwar wusste ich wohl, dass er vor mir hier gewesen war – nicht aber, was er hier erlebt haben mochte und welche Bilder ihm nun durch die Gedanken spukten.


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