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Dem Werdenden in seiner Entfaltung beistehen
von Leonhard Weiss und Tobias Richter
„Die Erziehung ist eine Kunst, deren Ausübung durch viele Generationen vervollkommnet werden muß. […] Zwei Erfindungen der Menschen kann man wohl als die schwersten ansehen: die der Regierungs- und die der Erziehungskunst nämlich“.
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Nein, es ist nicht Rudolf Steiner, der hier ganz selbstverständlich von der Erziehung als „Kunst“ spricht. Es ist vielmehr der Philosoph Immanuel Kant, für den Pädagogik anscheinend fraglos als „Kunst“ zu bezeichnen ist (vgl. Kant, 1977, S. 702f). Auch wenn uns der Ausdruck „Erziehungskunst“ heute oft als Spezifikum der Waldorfpädagogik erscheint: Eigentlich steht Steiner mit der Verwendung dieses Begriffes in einer langen Tradition. Diese Tradition umfasst u. a. eben Kant, aber etwa auch dessen Zeitgenossen Jean-Jacques Rousseau, der in seinem einflussreichen Erziehungsroman „Émile“ ebenfalls von der Pädagogik als „Kunst“ spricht. Und wenn in der Mitte des 18. Jahrhunderts an der Universität Halle erstmals ein Lehrstuhl für Pädagogik eingerichtet wird und der erste Inhaber dieses Lehrstuhls, Ernst Christian Trapp, seine Antrittsvorlesung mit dem Titel „Von der Notwendigkeit, Erziehung und Unterrichten als eine eigene Kunst zu studieren“ versieht, dann ist auch das Ausdruck dieser Tradition, deren Wurzeln bereits in der griechischen Antike liegen.
„paidagōgike technē“
Sprachen doch schon die alten Griechen von einer παιδαγωγικὴ τέχνη (paidagōgike technē) – und verwiesen mit technē auf Kunst, die wiederum immer als „Zwilling“ untrennbar mit poiesis verbunden war. Wobei technē nicht unsere „Technik“ meint, sondern vielmehr das Können (etwa der Handwerker, aber, wie bei Kant, auch der Politiker) und poiesis das (kunstmäßige) Hervorbringen. Unterschieden war die technē bei den Griechen von der episteme, worunter ein Wissen um Ursachen, eine Kenntnis von Tatsachenerklärun- gen verstanden wurde – also ein eher „theoretisches Wissen“. Pädagogik ist dagegen immer eine Kunst – weil sie eine Praxis ist, in deren Zentrum nicht Allgemeines, sondern Individuelles steht.
Der Blick für das Individuelle Genau im oben skizzierten Sinne erklärt übrigens auch Steiner, warum seinem Verständnis nach „der ganze Unterricht von Kunst […] durchdrungen sein [muss]“: „Im Künstlerischen ist […] jeder Mensch eine Individualität“. Und Individualitäten stehen im Zentrum und im Fokus der Pädagogik. Daher darf, wer einem Heranwachsenden im Rahmen einer als „Kunst“ verstandenen Pädagogik gerecht werden möchte, diesen nicht als „‚einzelnen Fall’, den er nach einem Allgemeinen beurteilt“, begreifen, sondern als „ganz individuelles Rätsel, das er zu lösen sucht“ (Steiner, 1982, S. 271). Dies aber erfordert, so Steiners Überzeugung, einen „künstlerischen“ Zugang.
Das Mögliche werden lassen
Wie ist nun Steiners Kunstbegriff? In seinem 1889 im Wiener Goetheverein gehaltenen Vortrag, der dann als Autoreferat unter dem Titel „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“ erschien und immer wieder auch mit einigen Ergänzungen Steiners neu aufgelegt wurde, formuliert er so: „Nicht was ist, liegt also den Schöpfungen der Kunst zugrunde, sondern was sein könnte, nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche…“ Und weiter: Das was in der Kunst zum Ausdruck kommt, ist nicht „die Idee in Form der sinnlichen Erscheinung“, das ist gerade das Umgekehrte, das ist eine „sinnliche Erscheinung in Form der Idee“ (GA 271, S. 30ff). Künstler sei also der, der das Material so zu gestalten wisse, dass darin Mögliches in Erscheinung treten könne. Michelangelo hat das an seiner über 5 Meter hohen David-Skulptur gezeigt – seinem „Gigante“, den er aus einem missratenen, beschädigten und verhauenen
Marmorblock geschlagen hatte –, wenn er auf die Frage, wie ihm ein solch herausragendes Werk gelingen konnte, (angeblich) antwortete: “Ich habe nur das weggenommen, was zu viel war.“
Den Möglichkeiten des anderen Menschen begegnen
Und hier lässt sich wiederum die Brücke zur Pädagogik schlagen: zu einer Pädagogik, die sich als „Mäeutik“, als „Hebammenkunst“ versteht, die hilft, das im Kind veranlagte Mögliche, das Potenzielle immer wieder in Erscheinung treten zu lassen (s. o). Wobei immer zu erleben ist: Dieses Potenzielle gestaltet mit. Joseph Beuys beschreibt diese Erfahrung als Maler so: „Dem Bild in seiner Entfaltung beizustehen, jeden weiteren Schritt aus ihm zu erfragen, geduldig seinen leisesten Regungen zu lauschen und es nicht in seinem Werden durch gewaltsame, übereilte Eingriffe zu gefährden, es zu geleiten, bis es einen entlässt…“ (Beuys, 1995, S. 27).
Darin wird die Haltung eines Künstlers im Schaffensprozess deutlich, die auf dem vorher Dargestellten gründet: auf dem Können und dem Hervorbringen – auf technē und poiesis. Es ist zugleich aber auch die Haltung des Pädagogen, so wie ihn Steiner versteht – oder erträumt: desjenigen, der durch seine sich in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen zeigenden künstlerischen Möglichkeiten (und für Beuys ist es eine Urerfahrung, dass über eine solche jeder Mensch verfügt!) den Möglichkeiten des Kindes, des Jugendlichen – aber natürlich auch der Kollegin, des Kollegen und der Eltern –begegnet. ¶
Tobias Richter & Leonhard Weiss sind Dozenten am Zentrum für Kultur und Pädagogik.
Literatur:
Beuys, J. (1995): Ausstellungskatalog van der Grinten. Joseph Beuys Fluxus, in: Hitsch, C./Matthiessen, J./Richter, T.: Die Kunst als Quelle der Pädagogik, Stuttgart.
Kant, I. (1977): Über Pädagogik, in: Kant, I.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Frankfurt/Main.
Steiner, R. (1982): Die pädagogische Zielsetzung der Waldorfschule in Stuttgart, in: Steiner, R.: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915 - 1921, GA 24, Dornach.
Steiner, R. (1991): Goethe als Vater einer neuen Ästhetik, in: Steiner, R.: Kunst und Kunsterkenntnis, GA 271, Dornach.