Wege zur Literatur

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mit

ler a t i g i d abe g s u A Deutsch am Gymnasium 4

Verlag Fuchs

Literatur

ISBN: 978-3-03743-880-0

– Interpretieren – Literaturbetrieb Checklisten Literarische Figuren

Verlag Fuchs

– Grundlagen – Erzählende Prosa – Dramatik – Lyrik

Pascal Frey

Wege zur Literatur Deutsch am Gymnasium 4


Vorbemerkungen 2

Vorbemerkungen Inhalt An der Mittelschule führen zwei Wege zur Literatur: der Weg der Analyse und der Weg der eigenen Produktion literarischer Texte. Die literarische Analyse deckt der Band 3 von «Deutsch am Gymnasium» ab. Der vorliegende 4. Band des Lehrwerks bietet eine produktionsorientierte Einführung in die Literatur und ins literarische Schreiben. Literaturnahe Texte selber zu schreiben, erlaubt einen praktischen Zugang zur Literatur. Der Band «Wege zur Literatur» lässt sich als eigenständiges Lehrmittel im Unterricht einsetzen. Er ergänzt den 3. Band «Literatur», ersetzt ihn jedoch nicht.

Lehrmittel «Deutsch am Gymnasium» ist ein Lehrmittel für das Fach Deutsch an Gymnasien. Es ist bestimmt für die Hand der Schülerinnen und Schüler. Das Lehrmittel kann auch in den Lehrgängen der Berufsmaturität und der Fachmittelschule eingesetzt werden. Dieser Band 4: «Wege zur Literatur» ist besonders gut geeignet für SOL (selbst organisiertes Lernen).

Praxisnähe Sämtliche Seiten, alle Anleitungen, Übersichten und Beispiele dieses Lehrmittels wurden in der Praxis des gymnasialen Deutschunterrichts erprobt. Das trifft insbesondere auf die Formulierungen zu. Der Autor dankt an dieser Stelle all jenen, die dazu beigetragen haben, die Sprache einfach und verständlich zu machen.

Beispiele Alle nicht gekennzeichneten Beispiele stammen vom Autor.

Sachregister Das Sachregister verzeichnet sämtliche Fachbegriffe, die verwendet werden.

Geschlechterneutrale Formulierung Der Autor dieses Bandes ist sich der Problematik der ausschliesslichen Verwendung männlicher Formen für geschlechtergemischte Gruppen bewusst. Aus Gründen der leichten Lesbarkeit wurde auf Doppelformen nach dem Muster «Autorinnen und Autoren» verzichtet. Mehr Informationen zum Umgang mit geschlechterneutralen Formulierungen findet man im Band «Sprache und Kommunikation». Deutsch am Gymnasium 1: «Sprache und Kommunikation», siehe S. 30 f.

Deutsch am Gymnasium Das Lehrwerk «Deutsch am Gymnasium» besteht aus vier Teilen. –– «Sprache und Kommunikation» Deutsch am Gymnasium 1

–– «Literatur» Deutsch am Gymnasium 3

–– «Einfach schreiben» Deutsch am Gymnasium 2

–– «Wege zur Literatur» Deutsch am Gymnasium 4


Inhaltsverzeichnis 3

Inhaltsverzeichnis Weg 1: Erzählen

5. Schritt: Bildlich machen 6. Schritt: Starke Metaphern bilden 7. Schritt: Allegorien bilden 8. Schritt: Mit Wörtern spielen 9. Schritt: Die Wahrnehmung lenken 10. Schritt: Mit der Grammatik spielen 11. Schritt: Strophen bauen Versuchsstück: Ein Sonett schreiben Abstecher: Konkrete Poesie

1.1  Überblick: Erzählen 10 1.2  Schritte zur Erzählung 11 1. Schritt: Geschichten erzählen 11 2. Schritt: Die Geschichte jemandem erzählen 12 3. Schritt: Den Erzähler positionieren 13 4. Schritt: In die Figuren sehen 14 5. Schritt: Den Erzähler kommentieren lassen 15 6. Schritt: Eine Handlung entfalten 16 7. Schritt: Der Handlung Zeit geben 17 8. Schritt: Figuren ins Leben rufen 18 9. Schritt: Schauplätze beschreiben 20 10. Schritt: Die Figuren mitsprechen lassen 21 11. Schritt: Die Figuren erleben lassen 22 12. Schritt: Andeuten und zurückblicken 23 13. Schritt: Spannung erzeugen 24 14. Schritt: Montagen bauen 25 15. Schritt: Der Erzählung einen Stil geben 26 1.3 Versuchsstück: Eine Kurzgeschichte schreiben 27

4.1  Überblick: Slammen 4.2 Schritte zum Slammen Einführung: Slam Poetry 1. Schritt: Seine Stimme finden 2. Schritt: Themen finden 3. Schritt: Anfangen 4. Schritt: Stilmittel einsetzen 5. Schritt: Den Text dramatisieren 6. Schritt: Am Text feilen 7. Schritt: Rollen spielen 8. Schritt: Auftreten 9. Schritt: Das Publikum gewinnen 4.3 Checklisten für Slam-Poeten

Weg 2: Dramatisieren

5. Übersichten

2.1  Überblick: Dramatisieren 30 2.2 Schritte zum Drama 31 1. Schritt: Spielen 31 2. Schritt: Darstellen 32 3. Schritt: Sprechen 33 4. Schritt: Auf der Bühne stehen 34 5. Schritt: Konflikte schüren 35 6. Schritt: Das Publikum berühren 36 7. Schritt: Das Publikum zum Lachen bringen 37 8. Schritt: Eine Handlung komponieren 38 9. Schritt: Klassische Dramen bauen 39 10. Schritt: Spielfilme drehen 40 11. Schritt: Episches Theater machen 42 2.3 Versuchsstück: Ein Dramolett bauen 44

5.1 A bis J: Erzählen 5.2 K bis Q: Dramatisieren 5.3 R bis X: Dichten

Weg 3: Dichten 3.1  Überblick: Dichten 3.2  Schritte zum Gedicht 1. Schritt: Verdichten 2. Schritt: Verse schmieden 3. Schritt: Reimen 4. Schritt: Zum Klingen bringen

46 47 47 48 49 50

3.3 3.4

51 52 53 54 55 56 58 59 60

Weg 4: Slammen 62 63 63 65 66 68 70 72 74 75 76 78 79

82 94 101

6. Tafeln: Literaturgeschichte 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12 6.13

Idee und Absicht der Tafeln Barock Aufklärung Sturm und Drang Weimarer Klassik Romantik Frührealismus Realismus Naturalismus Moderne Expressionismus Kriegs- und Zwischenkriegszeit Literatur nach 1945

110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122

Die literarische Erörterung 123 Alle Aufgaben auf einen Blick 125 Literaturverzeichnis 126 Sachregister 127



Weg 1: Erzählen


1.1 Überblick: Erzählen

10

Überblick: Erzählen Die Geschichte 1. Schritt

2. Schritt

Geschichten erzählen 1 Aufgabe, 20 Minuten

S. 11

Die Geschichte jemandem erzählen 2 Aufgaben, 20 Minuten S. 12

Der Erzähler 3. Schritt

4. Schritt 5. Schritt

Den Erzähler positionieren 2 Aufgaben, 40 Minuten

S. 13

In die Figuren sehen 2 Aufgaben, 30 Minuten

S. 14

Den Erzähler kommentieren lassen 1 Aufgabe, 40 Minuten S. 15

Die Handlung 6. Schritt 7. Schritt 8. Schritt 9. Schritt

10. Schritt

11. Schritt

Eine Handlung entfalten 2 Aufgaben, 50 Minuten

S. 16

Der Handlung Zeit geben 2 Aufgaben, 45 Minuten

S. 17

Figuren ins Leben rufen 4 Aufgaben, 80 Minuten

S. 18

Schauplätze beschreiben 1 Aufgabe, 30 Minuten

S. 20

Die Figuren mitsprechen lassen 2 Aufgaben, 40 Minuten

S. 21

Die Figuren erleben lassen 2 Aufgaben, 45 Minuten

S. 22

Spannung und Stil 12. Schritt 13. Schritt 14. Schritt

15. Schritt

Andeuten und zurückblicken 2 Aufgaben, 15 Minuten

S. 23

Spannung erzeugen 2 Aufgaben, 40 Minuten

S. 24

Montagen bauen 2 Aufgaben, 30 Minuten

S. 25

Der Erzählung einen Stil geben 3 Aufgaben, 70 Minuten

S. 26

Versuchsstück


DaG 3: Literatur, S. 20 und 21 11

1.2 Schritte zur Erzählung

1. Schritt: Geschichten erzählen Im Alltag erzählen wir oft. Wir sprechen zu anderen von unseren Erlebnissen oder von Ereignissen, von denen wir gehört haben.

Vom alltäglichen zum literarischen Erzählen Während alltägliches Erzählen an persönliche Erlebnisse und die Ich-Form gebunden ist, gelten für den literarischen Erzähler diese Einschränkungen nicht. Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Fliederbäumen das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst!

(Heinrich Mann, Der Untertan, 1914)

Der literarische Erzähler kann insbesondere Position

– die Geschichte erzählen, ohne dass er sie erfahren oder erlebt haben muss; – eine distanzierte Aussensicht einnehmen, d. h., er kann auch aus der 3. Person erzählen («Diederich»war ein«weiches Kind»).

Charakteri­ sierung

seinen Figuren Eigenschaften und Gewohnheiten zuschreiben («Ungern verliess er im Winter...»).

Kommentar

seine Figuren und die Handlungen kommentieren («weiches Kind, das am liebsten träumte»; «dem geliebten Märchenbuch»).

Innensicht

in die Figuren hineinsehen («sich vor allem fürchtete») und deren Empfindungen kennen («halb so gross wie er selbst»).

Geschichten werden erzählt. Deshalb gibt es immer einen Erzähler.

Aufgabe

Aufgabe

Literarisieren einer alltäglichen Erzählung

Zeit

ca. 20 Minuten

Umfang

ca. ½ Seite

Titel

passend zur Erzählung

Vorgaben

–– Präteritum –– persönliches Erlebnis –– Schauplatz –– Kunstmittel des literatischen Erzählens –– Figuren

Referenz

Übersicht A, S. 82

«Literarisieren» Sie eine alltägliche Erzählung. Gehen Sie schrittweise vor. a) Setzen Sie sich mit einer Kollegin oder einem Kollegen zusammen. Erzählen Sie einander ein persönliches Erlebnis, d. h., eines, das nicht jeder erfahren haben kann. Erzählen Sie alltäglich, also im Präsens / Perfekt, in Mundart, in Ich-Form. Schreiben Sie das gehörte Erlebnis auf. «Literarisieren» Sie es: –– Schreiben Sie in der Standardsprache. Erzählen Sie im Präteritum. –– Wechseln Sie in die 3. Person. Geben Sie der Person einen beliebigen Namen. –– Setzen Sie das Ereignis an einen passenden Schauplatz. Überlegen Sie sich auch, welche Symbolik der Schauplatz ausstrahlen soll. –– Fügen Sie weitere Kunstmittel des literarischen Erzählens ein (Innensicht, Kommentar, fiktive Ausschmückung usw.). Die Einfügung muss nicht «wahr» sein, also nicht mit der ursprünglichen Erzählung übereinstimmen. b) Lesen Sie die Geschichte, die Ihr Kollege oder Ihre Kollegin geschrieben hat, und vergleichen Sie sie mit dem, was Sie erzählt haben.


DaG 3: Literatur, S. 25 12

1.2 Schritte zur Erzählung

2. Schritt: Die Geschichte jemandem erzählen In der erzählenden Literatur sind Autor und Erzähler nicht identisch. Während der Autor sich ausserhalb des Werkes in der Realität befindet, gehört der Erzähler zum Werk und ist ein Teil der Fiktion. Dennoch erzählt der Erzähler für ein Publikum, das sich ausserhalb des Werkes in der Realität befindet: die Leser.

Der Erzähler und sein Publikum

Am 4. Mai 1771

Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß, du verzeihst mir’s.

(Johann W. Goethe, Die Leiden des jungen Werther)

In diesem Beispiel erzählt der Erzähler («ich») einem fiktiven Zuhörer («Freund», «dich») seine Geschichte. Der Autor Goethe kommt im Werk nicht vor. Der Erzähler erzählt immer für ein Publikum.

Realität realer Leser

Autor

ausserhalb des Werkes

erfindet

Fiktion

Erzähler (ich, Werther)

für Zuhörer

im Text

erzählt seine Erlebnisse

fiktiver Leser (bester Freund)

Der Erzähler ist Teil des fiktiven Werkes. Die Leser dieses Werkes befinden sich aber in der Realität. Das ergibt die merkwürdige Konstellation, dass sich ein fiktiver Erzähler an ein reales Publikum wendet, die wirklichen Leser nämlich.

Aufgaben Aufgaben

Erzählung und Grafik

Zeit

ca. 20 Minuten

Umfang

ca. ¾ Seiten

Titel

Grossvater erzählt

Vorgaben

–– Grossvater (Grossmutter) erzählt –– fiktive Zuhörer –– grafische Darstellung der Szene

Referenz

Übersichten B, C, S. 83 f.

1. Gestalten Sie eine Situation, in der eine Grossmutter oder ein Grossvater den Enkeln ein Märchen erzählt. Das Märchen selber können Sie in der Erzählung überspringen. Wichtig ist, dass in Ihrer Erzählung ein Erzähler und ein fiktives Publikum vorkommen. Um das reale Publikum müssen Sie sich nicht kümmern; es existiert, sobald jemand Ihren Text liest. Anmerkung: Die von Ihnen zu erzählende Situation ist eine Rahmenhandlung, das Märchen selber ist die Binnenhandlung (Übersicht C, S. 84). 2. Stellen Sie Ihren Text analog zur Grafik oben grafisch dar.


DaG 3: Literatur, S. 27 bis 31 13

1.2 Schritte zur Erzählung

3. Schritt: Den Erzähler positionieren Die Nähe des Erzählers zum Geschehen Der Erzähler kann aus verschiedenen Blickwinkeln auf das Geschehen blicken. Dementsprechend gibt er mehr oder weniger preis. Neutrales Erzählen

Personales Erzählen

Auktoriales Erzählen

Der Erzähler steht ausserhalb der Erzählung. Er berichtet nur, was er sehen und hören kann. Er verhält sich also gegenüber der Handlung wie ein Kinooder Theaterzuschauer. Neutrales Erzählen kommt eher selten vor und meistens nur über kurze Passagen.

Der Erzähler beobachtet eine Figur (3. Person), oder er schlüpft in die Haut einer Figur (1. Person). In beiden Fällen hat er Innensicht in diese Figur.

Der Erzähler steht ausserhalb der Handlung, verfügt aber über Innensicht in alle Figuren. Er weiss sogar mehr als sie, denn er kennt den Verlauf der Handlung im Voraus. Er kommentiert deshalb die Handlung und die Figuren.

Die Position des Erzählers gegenüber der Handlung ist seine «Perspektive».

Neutrale Perspektive

Personale Perspektive

Auktoriale Perspektive

(Beobachtersicht)

(Sicht der Mutter)

(allwissende Aussensicht)

«Um elf bist du zuhause. Du warst schon vorgestern sehr lange aus.» «Ach, Mama, kein Mensch ist am Freitag um elf zuhause. Das kannst du nicht machen.» Die Tür öffnete sich. «Sag du ihm, dass er nicht immer bis nach Mitternacht draus­ sen rumstreunen soll.» «Ha, jetzt rufst du Papa um Hilfe! Der ist sowieso auf deiner Seite. Nie darf ich so, wie ich will …» «Jetzt hab ich aber genug von deiner ewigen Nörgelei. Schluss, aus.» Sie verliess den Raum.

Wieder einmal hatten sie sich gestritten. Leider. Eigentlich hatte sie heute nachgeben wollen, aber das weinerliche Geflenne Jans ging ihr auf die Nerven. Sie wollte die Ruhe bewahren, aber sie spürte, wie es in ihr kochte. Ihr Mann war ihr keine Hilfe. Der schien sich nichts aus der Sache zu machen. Als Jan sie angriff, hatte sie genug. Es reichte. Schluss. Sie musste weg, sonst musste sie nur wieder Beruhigungsmittel nehmen. Sie verliess den Raum.

Wieder einmal hatten die beiden sich um den Zeitpunkt der Heimkunft gestritten. Julia wollte nur das Beste für ihren fünfzehnjährigen Sohn. Doch der war wie immer uneinsichtig und stur. Ihr Gatte Michael war da auch keine Hilfe. Es stimmte nämlich nicht, dass er die Sache so sah wie sie. Es war nur so, dass er sich lieber aus der Sache heraushalten wollte. Als Jan beleidigend wurde, hatte sie für heute genug. Es musste ein Machtwort gesprochen werden. Danach verliess sie den Raum.

Aufgabe 1

Perspektive einhalten

Zeit

ca. 30 Minuten

Umfang

ca. 1 Seite

Titel

Menschen im Fahrstuhl

Vorgaben

3 Personen

Referenz

Übersicht B, S. 83

Aufgabe 2

Perspektive überprüfen

Zeit

ca. 10 Minuten

Referenz

Übersicht B, S. 83

Aufgaben 1. Wählen Sie eine Perspektive. Schreiben Sie aus dieser Perspektive in der dritten Person eine kleine Geschichte, die in einem Fahrstuhl spielt. Darin müssen genau drei Personen vorkommen. Wichtig ist, dass Sie Ihre Perspektive genau einhalten. Beachten Sie, dass das Erzähltempus das Präteritum ist. 2. Überprüfen Sie die Geschichte einer Mitschülerin oder eines Mitschülers darauf, ob die Perspektive darin eingehalten wurde.


DaG 3: Literatur, S. 21 und 30 14

1.2 Schritte zur Erzählung

4. Schritt: In die Figuren sehen Ein Erzähler kann von aussen auf das Geschehen blicken (Aussensicht). Ein wichtiges Merkmal literarischen Erzählens ist aber der Umstand, dass der Erzähler nicht nur erzählen kann, was er sieht und hört, sondern auch, was in den Figuren vorgeht, was sie denken und fühlen. Er verfügt also über eine Innensicht.

Innensicht Nicht alle Erzähler haben Innensicht in die Figuren. Neutrale Erzähler kennen keine, personale Erzähler haben nur eine Innensicht in die Figur, aus deren Sicht sie die Handlung erzählen. Nur auktoriale Erzähler haben Innensicht in alle Figuren. Er war so schlecht gekleidet, dass mancher, der sich in seine Anmut schickte, sich geniert hätte, am helllichten Tage in solchen Lumpen über die Strasse zu gehen. [...] In der Seele des jungen Mannes jedoch hatten sich bereits so viel Grimm und Verachtung angesammelt, dass er, ungeachtet einer mitunter ganz jugendlichen Empfindlichkeit, sich seiner Lumpen auf der Straße am wenigsten schämte.

(Fjodor Dostojewski, Verbrechen und Strafe. Übersetzung S. Geier)

In diesem Beispiel sieht der Erzähler in die Psyche des geschilderten jungen Mannes («In der Seele ... angesammelt»; «sich seiner Lumpen ... schämte»). Er gibt keine Gedanken des jungen Mannes wieder, sondern verfügt über ein Mehrwissen, das seine Figur selber nicht hat. Dazu verwendet er Erzählerkommentar. Der Erzähler kann in die Figuren hineinsehen. Er weiss, was sie fühlen, denken, wollen, hoffen, fürchten. Weitere Möglichkeiten zur Wiedergabe von Innensicht Die wichtigsten Mittel zur Wiedergabe von Innensicht sind Erzählerkommentar (siehe Schritt 6, S. 16); Gedankenrede (der Erzähler gibt die Gedanken der Figur wieder) und erlebte Rede (siehe Schritt 11, S. 22)

Aufgaben Aufgaben

Innensicht / neutrale Sicht

Zeit

2 × 15 Minuten

Umfang

2 × ½ Seite

Titel

Geheimnisse

Vorgaben

–– auktorial (neutral) –– mind. 2 Figuren –– Innenansicht –– Präteritum

Referenz

Übersichten A, B, S. 82 f.

1. Erzählen Sie aus auktorialer Sicht eine Situation, in der eine Figur ein Geheimnis verbirgt, das der Erzähler berichtet. Das Geheimnis bleibt in der Handlung gewahrt, der Erzähler lüftet es aber für die Leser. Ihr Erzähler erzählt auktorial, es kommen mindestens zwei Figuren vor, er hat Innensicht in eine Figur, Erzählzeit ist das Präteritum. 2. Erzählen Sie dieselbe Situation aus der Sicht eines neutralen Erzählers. Tipp: Verwenden Sie dazu Figurenrede. Schreiben Sie nur das, was man sehen und hören kann. Vermeiden Sie für die neutrale Perspektive die Innensicht!


DaG 3: Literatur, S. 30 15

1.2 Schritte zur Erzählung

5. Schritt: Den Erzähler kommentieren lassen Steht der Erzähler ausserhalb der Handlung, kann er aus Distanz das Geschehen und die Figuren kommentieren. Deshalb ist der Erzählerkommentar ein Hauptmerkmal des literarischen Erzählens.

Der Erzählerkommentar Als Kommentar kommen ganze Sätze, wenige Worte oder sogar nur einzelne Wörter in Frage. Die beiden Mädchen kicherten hinter seinem Rücken. Dabei wollte er sich immer nur ritterlich geben. Er hatte sie zur Schule begleitet, sogar zum Eis einge­ laden. Das hätte er nicht tun sollen, denn jetzt lachten sie ihn nur noch mehr aus. Seine aussichtslosen Versuche, ihr Vertrauen zu gewinnen, zermürbten ihn nur. Langsam dämmerte es ihm, dass er schonungslos ausgenutzt wurde.

Der Kommentar verfolgt unterschiedliche Ziele. Details

Der Erzähler berichtet Handlungsdetails, die nur er wissen kann, die also nicht in der Handlung selbst zu beobachten sind: «Langsam dämmerte es ihm, dass er schonungslos ausgenutzt wurde.»

Strukturierung

Der Erzähler strukturiert die Handlung durch urteilende Wortwahl, z. B. «dabei», «immer nur», «sogar».

Urteil

Der Erzähler beurteilt die Taten oder Aussagen seiner Figuren: «Das hätte er nicht tun sollen», «aussichtslos».

Besonderheit des auktorialen Erzählers Der auktoriale Erzähler kennt von Anfang an die Geschichte, die Figuren und ihre Absichten. Er weiss sogar mehr als sie, denn er weiss schon, was die Figuren erwartet, bevor es geschieht, und er weiss, wieso die Figuren tun, was sie tun, auch wenn diese es selber nicht wissen. Das erlaubt dem auktorialen Erzähler gewisse «Manipulationstechniken». Erwartungs­ steuerung

Mittels Raumbeschreibung und Figurencharakterisierung lenkt der Erzähler die Erwartung des Lesers gegenüber der Handlung und den Figuren (siehe Schritte 9 und 10, S. 20 f.).

Spannung

Mittels Vorausdeutungen, Anspielungen und vieler anderer Mittel erzeugt der Erzähler Spannung (siehe Schritt 13, S. 25).

Der Erzähler kann mit Dosierung der Informationen die Lesererwartung steuern. Aufgabe

Auktoriales Erzählen

Zeit

40 Minuten

Umfang

½ Seite

Titel

Nachdem er gestorben war

Vorgaben

–– auktorial –– 3. Person mit Namen

Referenz

Übersicht B, S. 83

Aufgabe Schreiben Sie eine Geschichte aus einer ausgeprägt auktorialen Perspektive. Wenden Sie möglichst viele Kommentare und weitere Mittel des auktorialen Erzählens an. Ihre Geschichte trägt den Titel: «Nachdem er gestorben war». Sie muss zu diesem Titel passen.


DaG 3: Literatur, S. 32 16

1.2 Schritte zur Erzählung

6. Schritt: Eine Handlung entfalten Jede Handlung verfügt über verschiedene Bestandteile. Sie spielt an einem Ort mit Personen, die etwas erleben, denken, tun. Sie dauert eine gewisse Zeit und findet zu einem gewissen Zeitpunkt statt. Damit die Handlung abgeschlossen ist, muss sie eine Konsequenz haben. Andernfalls fragen sich die Leser: «Und dann? Was folgt?»

Die Elemente der Handlung Der makedonische König Alexander traf den Philosophen Diogenes, der nichts anderes besass als eine Tonne, in der wohnte. Alexander versprach dem Philo­ sophen: «Was immer du dir von mir wünschst, ich werde dir diesen Wunsch erfüllen.» Diogenes antwortete: «Geh mir ein wenig aus der Sonne.»

Diese berühmte Anekdote enthält trotz ihrer Kürze alle Bestandteile einer Handlung. Jede Handlung verfügt über fünf Elemente. Z

Zeit

Zeitpunkt und Dauer des Ereignisses / Handlungsdauer (einen Moment) Ereigniszeitpunkt (offenbar Tag, denn die Sonne scheint)

O

Ort

Schauplatz der Handlung (vor Diogenes’ Zuhause)

P

Person(en)

Handelnde Personen (Diogenes, Alexander)

E

Ereignis

Geschehen (Alexander verspricht dem Diogenes, ihm einen Wunsch zu erfüllen)

F

Folge

Was aus dem Geschehen folgt (der unerwartete Wunsch des Diogenes)

Handlung = ZOPEF

Aufgaben 1. Untersuchen Sie eine Erzählung oder ein Kapitel eines Romans gemäss der Formel ZOPEF.

Aufgaben

Handlung untersuchen / Handlung komponieren

Zeit

ca. 30 Minuten

Umfang

Tabelle

Titel

Da war es wieder

Vorgaben

ZOPEF

Referenz

Übersicht C, S. 84

2. Verfassen Sie eine kleine Geschichte. Achten Sie darauf, dass alle Elemente der Handlung (ZOPEF) ausgeprägt und leicht erkennbar vorkommen. Ihre Geschichte beginnt mit dem Satz: «Da war es wieder.» Variante: Verfassen Sie selber eine Anekdote über einen Mitschüler oder einen Lehrer Ihrer Schule. Achten Sie darauf, dass alle Elemente der Handlung ausgeprägt und leicht erkennbar vorkommen. Achten Sie darauf, die Anekdote glaubwürdig zu gestalten und den Mitschüler oder den Lehrer nicht zu beleidigen.


DaG 3: Literatur, S. 33 bis 35 17

1.2 Schritte zur Erzählung

7. Schritt: Der Handlung Zeit geben Zeit in der Erzählung meint zwei unterschiedliche Zeitspannen. Das Ereignis hat nämlich eine gewisse Handlungsdauer. Es braucht anderseits eine gewisse Zeit (eine gewisse Anzahl Seiten), um es zu erzählen.

Das Tempo der Handlung Aus der Kombination von Erzählzeit (Dauer des Erzählens) und erzählter Zeit (Dauer der Handlung) ergeben sich folgende Zeitverhältnisse: Zeitdeckung

Zeitdehnung

Zeitraffung

Erzählzeit und erzählte Zeit sind deckungsgleich.

Die Handlung dauert länger als das Erzählen (Zeit­lupen-Effekt). Die Zeitdehnung wird in der Regel als Spannungselement eingesetzt.

Die Handlung dauert weniger lang als das Erzählen.

Ich trat vorsichtig ins Haus. Im hinteren Flur konnte ich im Halbdunkeln nichts erkennen. Oben hörte ich ein Geräusch und erschrak. Dann war es ruhig. Ich stieg nach oben, Stufe für Stufe. Links war das Kinderzimmer, kein Interesse, vorne das Elternschlafzimmer. Nichts wie hin, dachte ich und machte ein paar schnelle Schritte.

Mit einem sachten, um absolute Lautlosigkeit bemühten Auftreten, vorausblickend und berechnend, schlich ich über die Schwelle der Hintertür im Erdgeschoss. Leise wie eine pirschende Katze sah ich mich im Flur um. Ich sah nur wenig, es war zu dunkel. Da! Hörte ich nicht ein Geräusch? Nein. Es war wohl nichts. Jedes Haus hat sein eigenes Gebrumm. Wer lange genug darin wohnt, nimmt es gar nicht mehr wahr, merkt es erst wieder, wenn es fehlt. Da vorn war die Treppe.

Ins Haus eingestiegen, verschaffte ich mir einen Überblick. Es blieb alles ruhig. Im ersten Stock räumte ich das Schlafzimmer und das Büro aus. Unten verlor ich keine Zeit mit der Suche. Zuhause türmte ich den Schmuck vor mir auf, zählte das Bargeld.

Aufgaben Aufgabe 1

Zeitverhältnis

Zeit

ca. 30 Minuten

Umfang

3 Seiten

Titel

Zeitverhältnis­ geschichte

Vorgaben

–– Aufgabe zulosen –– Ich-Form personal –– Präteritum

Referenz

Übersicht E, S. 86 f.

Aufgabe 2

Spannung durch Zeitdehnung

Zeit

ca. 15 Minuten

Umfang

ca. ½ Seite

Titel

passend zur Aufgabe

Vorgaben

Zeitdehnung

Referenz

Übersicht E, S. 86 f.

1. Wählen Sie eine Aufgabe (a, b oder c). Schreiben Sie Ihren Text im entsprechenden Zeitverhältnis. Die Erzählzeit ist 3 Minuten; das entspricht einem Umfang von etwa 3 handgeschriebenen Seiten bzw. 1 Seite auf dem PC. Die erzählte Zeit variiert mit der Aufgabe: a) Zähne putzen oder Sandwich essen (Zeitdeckung) b) Schuhe binden oder Hände waschen (Zeitdehnung) c) das Zimmer neu streichen oder eine Schulwoche erleben (Zeitraffung) Tipp: Setzten Sie sich in Gruppen so zusammen, dass alle Zeitverhältnisse vorkommen, und lesen Sie die anderen Geschichten. 2. Erzählen Sie eine kurze Begebenheit, in der Sie eine Zeitdehnung als Spannungselement einsetzen. Beachten Sie Übersicht E (siehe S. 87).



Weg 2: Dramatisieren


2.1 Überblick: Dramatisieren

30

Überblick: Dramatisieren Darstellung Spielen 1 Aufgabe, 30 Minuten

S. 31

2. Schritt

Darstellen 1 Aufgabe, 30 Minuten

S. 32

3. Schritt

Sprechen 1 Aufgabe, 40 Minuten

S. 33

Auf der Bühne stehen 1 Aufgabe, 30 Minuten

S. 34

1. Schritt

4. Schritt

Wirkung 5. Schritt

6. Schritt

7. Schritt

Konflikte schüren 2 Aufgaben, 30 Minuten

S. 35

Das Publikum berühren 2 Aufgaben, 40 Minuten

S. 36

Das Publikum zum Lachen bringen 3 Aufgaben, 60 Minuten S. 37

Komposition 8. Schritt

9. Schritt

10. Schritt

11. Schritt

Eine Handlung komponieren 2 Aufgaben, 40 Minuten

S. 38

Klassische Dramen bauen 1 Aufgabe, 20 Minuten

S. 39

Spielfilme drehen 1 Aufgabe, 20 Minuten

S. 40

Episches Theater machen 2 Aufgaben, 100 Minuten

S. 42

Versuchsstück


2. 2 Schritte zum Dramatisieren

DaG 3: Literatur, S. 67 31

1. Schritt: Spielen In Dramen und in Spielfilmen agieren Figuren an einem Schauplatz, sie sprechen miteinander, daraus entsteht die Geschichte. Sie wird also dargestellt. Eine Geschichte darzustellen, ist eine völlig andere Form der Darbietung als eine Geschichte zu erzählen. Die Darstellung erfordert, eine Geschichte zu spielen.

Darstellen der Handlung für Publikum CLAUDIA. Denn hab ich dir schon gesagt, dass der Prinz unsere Tochter gesehen hat? ODOARDO. Der Prinz? Und wo das? CLAUDIA. In der letzten Vegghia, bei dem Kanzler Grimaldi, die er mit seiner Gegenwart beehrte. Er bezeigte sich gegen sie so gnädig – ODOARDO. So gnädig? CLAUDIA. Schien von ihrer Munterkeit und ihrem Witz so bezaubert – – ODOARDO. So bezaubert? CLAUDIA. Hat von ihrer Schönheit mit so vielen Lobeserhebungen gesprochen – – ODOARDO. Lobeserhebungen? Und das alles erzählst du mir in einem Tone der Entzückung? O Claudia! Claudia! eitle, törichte Mutter!

(Gotthold E. Lessing, Emilia Galotti, II.4)

Der Dialog im Drama unterscheidet sich vom alltäglichen Gespräch. Er leistet mehrere Aufgaben gleichzeitig: Er hat ein Thema (die Tochter Emilia), er führt die Geschichte weiter (wir erfahren, dass sich der Prinz Emilia genähert hat), er stellt uns die Figuren vor (wir erfahren, dass Claudia das Hofleben gefällt, ihr eine Verbindung der Tochter mit dem Prinz nicht missfallen würde. Odoardo hingegen tritt uns als jemand gegenüber, der die Welt kennt und verdeckte Intrigen ahnt), und er transportiert immer auch die gegenwärtige Gefühlsregung der Figuren (Claudias Entzückung, Odoardos ungläubiges Staunen). Im Drama treten Figuren auf, die Rollen darstellen und die miteinander reden. Die Handlung ergibt sich aus dem Konflikt zwischen den Figuren; sie berührt das Publikum entweder durch Anteilnahme und Mitgefühl oder durch Lachen und Komik.

Aufgabe

Aufgabe

Eine Handlung spielen

Zeit

ca. 30 Minuten

Umfang

ca. 2 Seiten

Titel

Jemand ist in den falschen Zug eingestiegen (oder eine der Varianten)

Vorgaben

–– in der Gruppe –– 4 oder 5 klare Rollen –– mehrfach spielen und schreiben

Referenz

Übersichten K, L, M, S. 94 bis 96

Bilden Sie eine Gruppe von 4 bis 5 Teilnehmern. Spielen Sie die Szene «Jemand ist in den falschen Zug eingestiegen» zuerst mehrmals durch und schreiben Sie die Szene dann auf. Wählen Sie dabei bestimmte Typen für die falsch eingestiegene Person (aggressive alte Frau, grossspuriger Tourist, rechthaberischer Akademiker usw.) und für die im Zug Mitreisenden (Schülergruppe, Kegelklub, verschiedene, aber seltsame Einzelreisende usw.). Varianten: –– Ein Mann kommt aus der Frauentoilette, vor der sich bereits eine Schlange gebildet hat –– Jemand drängelt am Schalter oder an der Kasse vor –– Geschäftsleute streiten ums Bezahlen der Rechnung.


2. 2 Schritte zum Dramatisieren

DaG 3: Literatur, S. 73 32

2. Schritt: Darstellen Im Drama kann kein Erzähler Räume beschreiben oder Figuren charakterisieren, mittels Kommentar die Aufmerksamkeit auf Details lenken oder in der Handlung zurückspringen. Selbst die kleinste Kleinigkeit muss «dargestellt» werden, und zwar indem man sie an eine Figur bindet, die entweder spricht oder handelt.

Das Prinzip Darstellung In einer Szene aus Wedekinds Drama «Frühlingserwachen» sprechen die Klassenkameraden Moritz, Robert, Georg und andere miteinander (1. Akt, 4. Szene). Prosa Professor Knochenbruch beobachtet Schüler seiner Klasse. Wieso, denkt er, gibt sich sein bester Schüler gerade mit dem allerschlechtesten ab? (Variation)

Dramatisierung (Die Professoren Hungergurt und Knochenbruch gehen vorüber.) KNOCHENBRUCH. Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega, wie sich der beste meiner Schüler gerade zum allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann. HUNGERGURT. Mir auch, verehrter Herr Kollega. (Originalversion)

Wieso tritt neben dem Lehrer Knochenbruch auch der Lehrer Hungergurt auf, obwohl der eigentlich nichts zu sagen hat? Dramatisieren heisst: Darstellen durch Sprechen. Also muss Knochenbruch das, was er denkt, jemandem sagen, sonst ist es für das Publikum nicht erkennbar. Jedes für die Handlung wichtige Element muss auf der Bühne von einer Figur gesprochen oder gezeigt werden. Darstellen heisst: Ohne Figur keine Handlung.

Dramatisieren Der Dramenautor steht also vor der Aufgabe, alle Elemente einer Handlung zu «dramatisieren». Ihm stehen dazu einige Kunstmittel zur Verfügung. Rolle

Jede Figur übernimmt eine bestimmte Aufgabe (Übersicht K, S. 94).

Sprechformen

Dialoge sind die wichtigsten Bestandteile eines Dramas (Übersicht L, S. 95).

Handlungen

Die Schauspieler können vor dem Publikum nicht nur reden, sie können auch handeln, z. B. eine Ohrfeige austeilen (Übersicht M, S. 96).

Traditionelle Formen

Die Wirkung von Dramen ist an die klassischen Formen Tragik und Komik gebunden (Übersichten N und O, S. 97 und 98).

Aufgabe

Handlung dramatisieren

Zeit

ca. 30 Minuten

Umfang

–– Prosatext ca. 30 Min. –– Dramatisierung ca. 2 Seiten

Titel

Dramatisieren heisst darstellen

Vorgaben

Elemente in Dialog übersetzen

Referenz

Übersichten K, L, S. 94 f.

Aufgabe Dramatisieren Sie einen Abschnitt einer Erzählung oder eines Romans. Wählen Sie keinen Abschnitt, in dem direkte Rede überwiegt. Achten Sie bei der Dramatisierung darauf, dass Sie alle Elemente des erzählenden Textes (Erzählerbericht, Beschreibung oder Figurencharakterisierung, Erzählerkommentar, erlebte Rede usw.) in geeigneter Form umsetzen. Achten Sie auch darauf, dass der Dialog in etwa dasselbe darstellt, wie der gewählte Abschnitt erzählt.


2. 2 Schritte zum Dramatisieren

DaG 3: Literatur, S. 70 und 71 33

3. Schritt: Sprechen Die Dramenhandlung besteht fast ausschliesslich aus Gesprächen der Figuren untereinander (Dialog) oder einer Figur mit sich selber (Monolog). Das Reden auf der Bühne ist der wichtigste Bestandteil eines Dramas.

Handeln durch Reden FRAU GABOR (sitzt, schreibt). Lieber Herr Stiefel! Nachdem ich 24 Stunden über alles, was Sie mir schreiben, nachgedacht und wieder nachgedacht, ergreife ich schweren Herzens die Feder. [...]

(Frank Wedekind, Frühlings Erwachen, II.5)

In dieser Szene schreibt Frau Gabor einen Brief. Normalerweise schreiben wir Briefe, indem wir lautlos Formulierungen hin und her wälzen. Nicht so auf der Bühne. Frau Gabor liest den Brief vor, der offenbar bereits fertig vorliegt. Sie ersetzt also gewissermassen die Handlung – das Schreiben des Briefes – durch Reden. Ohne Reden keine Handlung.

Vielfältige Aufgaben des Dialogs Das Reden auf der Bühne kann ganz unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Und es nimmt mehrere Aufgaben gleichzeitig wahr, unter anderem: –– Darstellung des Geschehens, der Meinungen, der Absichten usw. mit dem Zweck, die Handlung voranzutreiben. –– Charakterisierung der Figur. Dabei kann die Figur über sich selbst sprechen (Selbstcharakterisierung) oder über andere Figuren (Fremdcharakterisierung). –– Ausdruck der emotionalen Verfassung des Sprechers. –– Reaktion auf das Gegenüber, allenfalls Beeinflussung, Überredung, Bitten, Befehlen usw.

Aufgabe Dramatisieren Sie eine kurze Handlung, indem Sie sie in einen Dialog bzw. einen Monolog übertragen. Gehen Sie von folgender Situation aus: Elfriede ist genervt von den ewigen falschen Versprechungen ihres Freundes. Auch heute lässt er sie sitzen. Fünf Minuten vor der Verabredung hat er eine SMS geschickt und sich entschuldigt. Elfriede beschliesst, sich ohne ihn einen schönen Abend zu machen, und ihm bei nächster Gelegenheit den Laufpass zu geben. Aufgabe

Handlung dramatisieren

Zeit

ca. 30 Minuten

Umfang

ca. 1 Seite

Titel

Handeln durch Reden

Vorgaben

wenn möglich alle Elemente in Dialog übersetzen

Referenz

Übersicht L, S. 95

Das dramatische Prinzip heisst «Handeln durch Reden». Dramatisieren Sie die Handlung, indem Sie sie Elfriede in Dialogen und Monologen sprechen lassen. Sie dürfen weitere Personen erfinden, z. B. eine Freundin, der Elfriede ihren Kummer mitteilt.


DaG 3: Literatur, S. 75 bis 77 34

2. 2 Schritte zum Dramatisieren

4. Schritt: Auf der Bühne stehen Wer vor Publikum auftritt, kann viel mehr machen als nur einen Text aufsagen. Bereits ohne Hilfsmittel wie Kostüme, Requisiten oder Medien einzusetzen, ist man in der Lage, seinen Auftritt stimmungsvoll und abwechslungsreich zu gestalten.

Sprechgestaltung Reden auf der Bühne ist nicht nur die Wiedergabe eines Wortlautes. Mindestens ebenso wichtig ist die Sprechweise. Dazu gehören insbesondere folgenden Faktoren: –– Geschwindigkeit, Geschwindigkeitsänderungen, Pausen / Zäsuren; –– Stimmausdruck und Sprechweise (ein Märchen klingt anders als Befehle); –– nonverbales Verhalten: Körperhaltung und -bewegungen, Mimik, Gestik, Blick und Blickrichtung. Stimme Ein guter Sprecher liest nicht Wort für Wort, Satz für Satz vor; er verfügt über ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten, das Publikum anzusprechen. Die Wirkung des Vorgetragenen hängt stark vom Rhythmus ab, der sich bildet aus: Modulation

–– Sprechweise: Variationen statt Monotonie –– Wort- und Satzbetonungen: Variationen

Tempo

–– Wechsel von langsamen und schnellen Passagen –– Einsatz von Pausen

Lautstärke

–– Wechsel von lauten und leisen Passagen –– Bewusster Einsatz von Flüstern, Rufen, Schreien, Brüllen

Stimmlage

–– Heben und Senken der Stimme –– Einsatz von Varianten (Singen, liebliches Locken, Mundart usw.)

Stand, Bewegung, Gestik und Mimik Neben der Stimme prägen körpersprachliche Ausdruckselemente den Auftritt: Proxemik

Standortwechsel

Kinesik

Körperbewegungen

Gestik

Gebärden

Mimik

Gesichtsbewegungen

Spielen Sie Ihre Rolle mit Ihrem ganzen Körper!

Aufgabe

Seinen Körper einsetzen

Zeit

mind. 30 Minuten

Umfang

nur mündlich

Vorgaben

– in Gruppe – Stimme variieren – gegenseitig korrigieren

Referenz

Übersicht Q, S. 100

Aufgabe Sprechen Sie in einer Gruppe eine Szene (am besten eine eigene) mehrfach. Wenden Sie verschiedene Gestaltungsmittel an. Hinweis: Weitere Aufgaben zum Auftritt vor Publikum finden Sie im Weg 4 zur Slam Poetry.


2. 2 Schritte zum Dramatisieren

DaG 3: Literatur, S. 81 35

5. Schritt: Konflikte schüren Der Dramenautor kann nicht gleich verfahren wie ein Romanautor. Aufgrund des relativ geringen Umfangs von Dramen kann er ein Geschehen nicht in allen Facetten berichten, die Figuren nicht in allen ihren psychologischen Finessen zeigen. Der Dramenautor muss die Handlung auf einen zentralen Konflikt hin zuspitzen.

Der Konflikt Damit die Figuren auf der Bühne überhaupt interagieren, müssen sie aneinandergeraten. Deshalb ist der Konflikt der zentrale Kern jedes Dramas. Ohne Konflikt keine Handlung. Selbst wenn der Konflikt ein moralischer Konflikt ist, den der Protagonist mit sich selber ausmachen muss, machen es die Erfordernisse des Dramatisierens bzw. das Prinzip Darstellung (2. Schritt, siehe S. 32) nötig, dass der Gegenpol durch eine Figur verkörpert wird. Deshalb spitzt sich der Konflikt zwischen zwei Figuren (oder zwei Parteien) zu. Der Konflikt hat einen Protagonisten und einen Antagonisten. Konflikte aus der Dramengeschichte Schiller: «Maria Stuart»

Der Streit um Thronansprüche steigert sich zum Streit um weibliche Vorzüge.

Shakespeare: «Romeo und Julia»

Junge Leute dürfen sich nicht lieben, weil ihre Familien verfeindet sind.

Kleist: «Der zerbrochene Krug»

Der Richter ist zugleich der unbekannte Angeklagte, was niemand weiss.

Sophokles: «Antigone»

Antigones Bruder darf kein humanes Begräbnis erhalten, weil der König eisern am Gesetz festhält.

Aufgaben

Aufgabe 1

Streitdialog

Zeit

ca. 15 Minuten

Umfang

ca. 1 Seite

Titel

nach Wahl a) bis d)

Vorgaben

Streit

Referenz

Übersichten K, L, S. 94 f.

Aufgabe 2

Moralischer Konflikt

Zeit

ca. 15 Minuten

Umfang

Stichworte (Liste) oder Notizen

Titel

Gewissensbisse

Vorgaben

gemäss Anleitung

Referenz

Übersichten L, M, S. 95 f.

1. Schreiben Sie einen Streitdialog zwischen Vater und Sohn, Mutter und Tochter, Vater und Tochter oder Mutter und Sohn über a) die Länge des abendlichen Ausgangs, b) die Wahl der Lehrstelle, c) den neuen Freund / die neue Freundin oder d) den Entschluss, die Schule zu verlassen. Achten Sie darauf, dass aus dem Dialog auch die Vorgeschichte und der ungefähre Charakter der beteiligten Figuren hervorgehen. 2. «Gewissensbisse»: Skizzieren Sie eine Szene zu einem ernsten moralischen Konflikt, z. B. Ausschaffung krimineller Ausländer, Diebstahl bei Armut, teure Hüftoperationen bei über Achtzigjährigen o. Ä. Gehen Sie schrittweise vor: –– Welche zwei Konfliktpole zeigen sich? –– Was für Figuren eignen sich für die Verkörperung der beiden Pole? –– Überlegen Sie sich, wieso die beiden Figuren (Protagonist und Antagonist) überhaupt aufeinandertreffen. –– Konzipieren Sie aus Ihren Überlegungen eine Dramenszene. (Sie brauchen nicht die ganze Szene zu schreiben. Eine Liste reicht aus.)


DaG 3: Literatur, S. 97 40

2. 2 Schritte zum Dramatisieren

10. Schritt: Spielfilme drehen Heute schreibt man keine Komödien und Tragödien nach klassischem Modell mehr. Ihren Platz hat der Spielfilm eingenommen. Das Grundmuster des klassischen Dramas ist in das Spielfilmmodell übergegangen.

Das Hollywood-Modell Der klassische Tragödienheld verstrickt sich in eine ausweglose Situation, in die er sich, getrieben von seinen Leidenschaften und seinem Streben, selber gebracht hat. Im Unterschied dazu gerät der moderne Spielfilmheld meist eher widerwillig in ein Abenteuer, das er zu bestehen hat. Die Spielfilme, jedenfalls die meisten aus der amerikanischen Filmtradition, bedienen sich eines Modells, das schon sehr alt ist. Viele Mythen verfolgten es, beispielsweise Homers «Odyssee», die Mythen von Parzival oder der Nibelungen. Es handelt sich um ein Modell, in dem ein noch ungeformter Held aufbricht, sich in Prüfungen bewährt, in Krisen zu scheitern droht und schliesslich lebenserfahren zurückkehrt.

Struktur von Spielfilmen Spielfilme unterteilen die Handlung nicht in Akte wie die Dramen. Trotzdem orientieren sie sich an der traditionellen Akteinteilung. Die Spielfilmhandlung hat drei Erzählphasen und zwei Wendepunkte. Phase 1 (1. Akt)

Wendepunkt A

Phase 2 (2. Akt)

Wendepunkt B

Phase 3 (3. Akt)

Neue Aufgabe und Trennung von der gewohnten Welt

Endgültiger Aufbruch von zuhause, der keine Rückkehr erlaubt

Reise bzw. Prüfungen in der fremden Welt

Erfolgreiches Meistern der Krise

Ankunft bzw. Rückkehr in die gewohnte Welt

Das Abenteuer macht den Helden erfahrener, erwachsener, er gewinnt Anerkennung. Er hat es also nach oben geschafft. Weil er eine schlimme Krise überwunden hat, spricht man deshalb auch von «Auferstehung». Besonderheit von Spielfilmhelden Mehr als im traditionellen Drama ist im Spielfilm die Vorgeschichte des Helden von Bedeutung. Häufig sind die Helden im Hollywood-Film nämlich auf irgendeine Art traumatisiert. Das heisst, sie werden getrieben von einem Erlebnis, das in ihrem früheren Leben stattgefunden hat. Dieses Trauma erklärt die Motive des Helden, die im Laufe der Handlung offengelegt werden. Verlust

Tod

Eltern, Söhne, Töchter, Freunde, Lebensgefährten, Geschwister

Trennung

Eltern, Lebensgefährten

Gewalterfahrung (selber erfahren oder beobachtet)

Vergewaltigung, Schläge, Mord­ versuch, Folter / Gefangenschaft

Berufliches oder persönliches Versagen

(Quelle: M. Krützen, Dramaturgie des Films, Frankfurt / Main 2006, S. 50)


DaG 3: Literatur, S. 97 41

2. 2 Schritte zum Dramatisieren

Episodenmodell des Spielfilms Aufbruch und Rückkehr des Helden

➑ «point of noreturn»

➒ 1. Akt «Aufbruch»

2. Akt «Prüfung»

3. Akt «Auferstehung»

➊ Held in seiner gewohnten Umgebung ➋H erausforderung, Auftrag resp. Sehnsucht. Held will / traut sich nicht, die Her­ausforderung anzunehmen

➌ Ermutigung durch Umstände ➍ Eintritt in die fremde Welt ➎ Verbündete, Feinde: Konflikt ➏ Entscheidende Prüfung; Krise durch drohendes Scheitern ➐B elohnung (muss nicht materiell sein, sie kann in einer Zunahme der Erfahrung bestehen. Häufig besteht sie in der Erfüllung eines Wunsches oder im Gelingen eines Vorhabens) ➑ Flucht, Verfolgung, neue Krise: «Abschlussprüfung» ➒ Rückkehr mit Gewinn (Wissen, Erfahrung, Schatz usw.) Spielfilme adaptieren das Tragödienmodell von Aufstieg und Fall eines Helden zu einem Modell von Aufbruch und Rückkehr des Helden. Die Tragik besteht nicht mehr im Scheitern des Helden, sondern darin, dass der Held knapp grosser Gefahr entronnen ist.

Grundmuster von Dramen und Spielfilmen Das traditionelle Dramenmodell und das Episodenmodell des Spielfilms haben etliche Gemeinsamkeiten. Es zeichnet sich in der abendländischen Kultur ein Grundmuster aller dramatischen Handlungen ab. –– Im Mittelpunkt steht immer ein Held (Protagonist), ... –– ... der Herausforderungen gegenübersteht. –– Tragödie: Einem ersten Bestehen folgen die Krise und das endgültige Scheitern. –– Moderner Spielfilm: Einem ersten Scheitern folgen die Krise und das endgültige Bestehen. –– Dramatische Handlungen haben immer einen klaren Schlusspunkt (Katastrophe oder Auflösung der Verstrickungen mit Happy End).

Aufgabe

Spielfilmmodell

Zeit

ca. 20 Minuten (ohne Visionierung Film)

Umfang

Tabelle oder Text, ca. 1 Seite

Aufgabe

Titel

nach Wahl (im Titel kommt der Name des Helden vor)

Vorgaben

Spielfilmmodell in Film erkennen

Referenz

Übersicht P, S. 99

Überprüfen Sie an einem Hollywood-Spielfilm das moderne Baumuster. Dabei ist es irrelevant, ob Sie eine Komödie untersuchen, einen Abenteuerfilm oder ein «Drama» (damit bezeichnet die Filmwelt eine gefühlsbetonte Geschichte). Halten Sie Ihre Untersuchungsergebnisse in geeigneter Form (z. B. Tabelle, Übersicht) fest.


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