Chaussee der Enthusiasten - Die schönsten Schriftsteller Berlins erzählen was

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STEPHAN Z EISIG Es wird der Tag kommen, an dem keiner mehr Blumf eld kennt . Und darüber bin ich nicht t raurig. Jochen Dist elmeier ist selber schuld daran.

Franka Potente hätte mal fast mein Leben verändert. Bevor sie sich in Lola rennt umtaufte, spielte sie in Nach fünf im Urwald eine abgedrehte Teenagerin, die von zu Hause abhaute, weil ihre spießigen Eltern nicht akzeptieren wollten, dass Jugendliche kiffen. Als sie einen Tag später nach Hause zurückkehrte, waren ihre Eltern nicht mehr böse, da sie sich mittlerweile selber am Joint versucht hatten. Abhauen!! Diese drei Silben waren drogendurchtränkte Musik in meinen Ohren. Ich nahm zumindest an, dass so drogendurchtränkte Musik klang, hatte ich doch noch nie welche konsumiert. Hier lag auch schon mein Problem. Mir fehlte ein triftiger Grund fürs Abhauen. Meine Eltern waren nämlich weitaus weniger spießig als ich. Im Gegenteil, sie hatten mich immer zum Kiffen ermuntert. Sie spekulierten darauf, Haschisch dann nicht mehr selbst kaufen zu müssen. Wollte ich mich von ihnen emanzipieren, blieb mir nichts anderes übrig, als aus Protest nicht zu kiffen und an meiner Spießigkeit zu feilen. Statt Nirvana und Pearl Jam , wie alle in meinem Alter, hörte ich Chris de Burgh und Richard Marx. Schon als Dreizehnjähriger steckte ich meine ausschließlich weißen T-Shirts in die Hose. Mit vierzehn wünschte ich mir zum Geburtstag einen Bausparvertrag. Auf unserem Hof sorgte ich für Ordnung, indem ich darauf achtete, dass die Mieter den Müll auch 46

ja in die dafür vorgesehene Tonne warfen. Ich war so spießig, dass meine Eltern niemals Freunde zu sich einluden, aus Angst, die könnten mich peinlich finden. Eher hätten meine Eltern einen Grund gehabt, von zu Hause abzuhauen als ich. Meinem Abhauen von meinen Eltern stellte sich noch ein zweites Problem in den Weg. Ich wohnte gar nicht mehr bei ihnen. Dieses Dilemma hatte ich beim Ausziehen glatt übersehen. Da müsste ich ja von mir selbst abhauen. Von sich selbst abhauen, an sich eine originelle Idee. Vielleicht ließe sich sogar ein neuer Trend kreieren. Allerdings konnte mir niemand den Erfolg garantieren. Besser, ich blieb bei der klassischen Methode. Um meine Flucht irgendwie mit Authentizität und Glaubwürdigkeit auszustatten, entschied ich mich, bei meinen Eltern zu Abend zu essen und am Tisch einen Streit anzuzetteln, den ich ihnen in die Schuhe schieben konnte. Dann würde mein Verschwinden jedem einleuchten. Irgendwann, nach vielen Jahren, käme ich nach Hause zurück, würde mich mit meinen Eltern aussöhnen und meine Biographie wäre endlich peppig und sexed up. Meine Eltern machten große Augen, als ich mit Wanderschuhen, Reiserucksack, Bauchtasche, Isomatte, Zelt und reichlich Proviant bei ihnen in der Tür stand. »Ich will doch von euch abhauen. Da brauch ich doch die passende Ausrüstung.« Ihre Reaktion erwischte mich auf dem falschen Fuß: »Toll! Weißt du Stephan, wenn wir in deinem Alter wären, wir würden schnell unsere Sachen packen und mitkommen. Wohin soll’s denn gehen?« »Weiß ich doch noch nicht? Das ist doch spontan.« Sie gerieten erneut in Verzückung: »Dann wirst du ja auch endlich ein bisschen selbständiger! Wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben.« Dem von mir erbetenen Streit verweigerten sie sich. »Dann schreit mich doch wenigstens mal an.« »Stephan! Papa und ich haben uns geschworen, dass wir bei dir all die Verhaltensweisen vermeiden, unter denen wir bei unseren Eltern selber gelitten haben. Dazu gehört Anschreien. Wenn wir das jetzt täten, dann würden 47


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