UZH Magazin 2/19

Page 47

«Es gibt keinen Grund zu denken, die Realität sei inexistent oder konstruiert.» Anne Meylan

wichtig: Es gibt Tatsachen. Allerdings stellt sich die Frage, welche Zugänge ich habe, um zu diesen Tatsachen zu gelangen. Diese Zugänge können sehr unterschiedlich sein. Ein grosses Problem sind da kognitive Vorurteile. Wenn wir auf Tatsachen schauen, ist unser Blick immer schon von gewissen Vorannahmen und einem bestimmten Vorwissen geprägt und gesteuert. Ein typisches kognitives Vorurteil ist der «Bestätigungsfehler». Wenn Sie eine Hypothese aufstellen – zum Beispiel, dass Leute, die ein Auto mit Vierradantrieb fahren, schlechtere Automobilisten sind als andere, dann werden Sie nur die Gründe finden, die Ihre Hypothese stützen – die anderen nicht. Das ist oft der Fall. Vor allem in den Geisteswissenschaften haben wir die Neigung, nur die Gründe zu sehen, die unsere Theorie stützen. Sarasin: In den Naturwissenschaften ist das genauso. Meylan: Die Naturwissenschaften sind einfacher zu verteidigen als die Geisteswissenschaften, wenn es um solche Fragen geht. In den Naturwissenschaften haben bestimmte Perspektiven viel weniger Einfluss auf die Erkenntnis. Doch auch in den Naturwissenschaften stehen Erkenntnisse nicht fest, sondern es wird oft gestritten bis sich ein Konsens findet, der später auch widerlegt und revidiert werden kann. Wie entstehen so wissenschaftlich fundierte «Wahrheiten»? Sarasin: In der modernen Wissenschaft gab es spätestens seit dem 19. Jahrhundert einen unglaublich starken Glauben an die Möglichkeit, die Welt zu erkennen, wie sie an sich ist. Diese Haltung wird als Positivismus bezeichnet. Trotzdem wurden im Wissenschaftssystem des 19. Jahrhunderts Verfahren entwickelt, mit denen sich Wissen­schaft kontrolliert. Es gibt deshalb anerkannte

Arbeitsweisen, wie gesicherte Tatsachen, wie Wahrheiten wissen­schaftlich erarbeitet werden. Damit sollte gewährleistet werden, dass das was die Wissenschaft als «wahr» postulierte einigermassen valide war. Wie funktioniert das? Sarasin: In den Geistes- und Sozialwissenschaften behaupten wir nicht, wir hätten den göttlichen Blick und wüssten, was wahr und falsch ist. Wir sind vielmehr eine Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die zeigen müssen, wie wir in der Forschung vorgehen, welches unsere Quellen und Experimentalanordnungen sind. Das ist für andere meistens überprüfbar. Und wir sprechen in einer spezifischen Weise über die Welt. Physiker sprechen anders über die Welt als Historiker. Auf diese Rahmenbedingungen hat man sich geeinigt? Sarasin: Sie haben sich herausgebildet. Es ist, wie gesagt, ein Konsens, den man erringt und der zeitlich immer begrenzt ist. Meylan: Mit dieser Argumentation habe ich Mühe. Sie ist mir zu relativistisch. Natürlich stossen wir an Erkenntnisgrenzen und es ist schwierig, die Wahrheit zu erkennen. Und wir werden nie sicher sein, ob wir die Wahrheit nun erkannt haben oder nicht. Die Möglichkeit, Fehler zu machen, sich zu irren, ist der Wissenschaft immanent. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir Tatsachen konstruieren. Sarasin: Unser Forschen und Erkennen der Welt sind immer perspektivisch und hängen von den Erkenntnismitteln ab. Natürlich können wir naturwissenschaftliche Gesetze aufstellen, die uns helfen, eine Waschmaschine

uzh magazin 2 /19

47


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.