Helmut J. Psotta - Unruhe stiften - über Pablo Neruda - Leseprobe

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ARNDT BECK ( HG.) HELMUT J. PSOTTA UNЯUHE STIFTEN ÜBER PABLO NERUDA


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Weitere Informationen: www.hjpsotta.de Layout/Gestaltung: Arndt Beck Titelbild: Pablo Neruda, 1971 ddp images/CAMERA PRESS/RIA NOVOSTI Foto: Jurij Abramotschkin Rückseite: Helmut J. Psotta, ca. 1980 Foto: Achilles Rösner © 2013 by Karin Kramer Verlag Berlin Postfach 440 417 – 12004 Berlin Telefon: 030 684 50 55 Email: info@karin-kramer-verlag.de www.karin-kramer-verlag.de Erste Auflage Gesamtherstellung: Digitaldruck leibi.de 89233 Neu-Ulm/Steinheim ISBN 978-3-87956-376-0


Arndt Beck (Hg.)

Helmut J. Psotta

UnŃ?uhe stiften Ăźber Pablo Neruda

Karin Kramer Verlag Berlin


In memoriam Frans Krijger (1946-2013)


INHALTSVERZEICHNIS

I. Prolog II. Einleitung III. Zwanzig Liebesgedichte IV. Aufenthalt auf Erden V. Spanien im Herzen VI. Die Höhen von Macchu Picchu VII. Großer Gesang VIII. Späte Gedichte IX. Epilog X. Nachwort Literaturverzeichnis

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[Editorische Notiz: Die Schreibweise folgt weitestgehend dem Manuskript von H.J. Psotta. Die Nachweise der Neruda-Gedichte (und aller anderen Publikationen) erfolgen – soweit möglich – nach den Ausgaben, die H.J.Psotta vorlagen. Neuere Übersetzungen wurden nicht berücksichtigt.]



II. EINLEITUNG

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er bedeutende Dichter und Romancier aus Guatemala, Miguel Angel Asturias, Nachfahre der Maya-Indios und Nobelpreisträger, hat einmal in höchster Empörung ausgerufen: »Unsere Vorfahren waren keine Wilden, denn sie hatten eine der höchsten Kulturstufen der Menschheit erklommen. Sie waren weder speziell gut noch böse, denn sie waren Menschen, und das schließt immer und überall beide Möglichkeiten ein«1. Das preziöse Schlagwort vom ›guten Wilden‹ Amerikas ist ursächlich die Erfindung einiger sich nach körperlicher Unversehrtheit und seelischer Unschuld zurücksehnender deutscher Romantiker, die von Humboldts paradiesisch anmutenden Reiseschilderungen aus der Neuen Welt, einer sehr diffusen, vage formulierten Naturschwärmerei und befangenem psychischen Subjektivismus als phantasieanregend begünstigt werden mußte. Selbst die ›gebildeten‹ Angehörigen der feudalen Oberschicht, welche die ökonomischen Bedingungen – und damit die politische Stabilität des Subkontinents bestimmte und zu verantworten hatte und hat, wären kaum in der Lage gewesen, für die einfache Option Asturias´ ein rein äußeres Begriffsvermögen aufzubringen, geschweige denn sich inneres Verstehen zu erarbeiten, anzueignen, weil ihnen das elementare Un-Wissen   Miguel Angel Asturias nach Günter W. Lorenz; in: derselbe, Die zeitgenössische Literatur in Lateinamerika, Tübingen und Basel 1971, S. 96 (Hervorhebung Helmut J. Psotta)

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(oder perfekt verdrängte Wissen) um ihre eigene national-historische, ja personelle Wirklichkeit nicht erlaubte, Kritik – von welcher Seite auch immer – an ihrem vitalen Defizit ernsthaft wahrzunehmen bzw. zu akzeptieren, sich somit bewußt (da zur Selbst-Kritik fähig) in ›die Lage‹ der echten Verhältnisse versetzen zu können, – ihrer Verhältnisse natürlich. Darin gleichen sie dem Neurotiker, der seinen pathologischen und somatisierten Seelenzustand nicht als solchen erkennen kann, folglich gezwungen ist, ihn für ›normal‹ zu halten und für andere zu deklarieren, nach diesen krankhaften Normen den Mitmenschen zu be- oder verurteilen, dessen und seine eigenen Kinder in der Gesundheit der Kranken zu erziehen, zuletzt auf den Klippen seines Irrtums zu stranden. Sein Weltbild liegt inkongruent zur Wirklichkeit. Wie denn auch sollte man sein Gesicht von einem Spiegel reflektiert objektiv wiedererkennen, wenn die materielle Existenz eben dieses Spiegels wohl vorhanden, aber nicht erfaßt, begriffen werden kann, – im Dunkeln liegt? Die Voraussetzung zur Erkenntnis fehlt? Demzufolge blieb ihnen gleichzeitig die soziologische – wenn man so will: psychologische Realität ihrer originalen literarischen Leistungen verschlossen, als nur ein Aspekt ihres geschichtsentfremdeten Daseins (denn auch die geistigen Produkte der abhängigen ›Untertanen‹ betrachten sie ja als ihren persönlichen Besitz, da sie allen Ernstes glauben, die Nation an sich zu repräsentieren). Und nur so, als Synonym für zwei gleichnishaft aneinandergekoppelte physikalische und philosophische Erfahrenstatsachen kann ich den repräsentativen Begriff ›Reflexion‹ überhaupt verstehen und anwenden: Ein in der reflektierenden Wirklichkeit (dem spiegelnden Objekt) von mir selbst abstrahiertes und auf mich selbst zurückgeworfenes virtuelles Ab-Bild (Zeichen/Symbol) jener Wirklichkeit, die spiegelbildlich reflektiert wird und dadurch als dargestellte Gestalt konkret erfahrbar ist; das sich betrachtende, wahrnehmende Ur-Bild ist zugleich Ur14


Sache (die ›causa‹) seiner eigenen Existenz, einer Seins-Weise, die im Geschehnis der Reflexion die Erkenntnis des realen Selbst, die bewußte Wahrnehmung meiner reellen Wirklichkeit, erst möglich und beurteilbar macht, ›in effigie‹. Ur-Bild und Ab-Bild, Objekt und Subjekt, fließen in solcher Parabel zu einem Phänomen der Wahrheit zusammen: Reflexion erst macht urteilsfähig. ›Reflexion‹ ohne realen Spiegel muß daher ein rudimentär-narzistischer Akt der Selbst-Täuschung bleiben – verwässert. Erkenntnis ist nur möglich in der Widerspiegelung über den vorhandenen Nächsten, d.h. die anwesende Gesellschaft (ich bilde mir doch nicht ein, voraussetzungslos ›über‹ mich selbst oder anderes ›reflektieren‹ zu können). Mit dieser Auffassung kommen wir der christlichen Idee von ›Meditation‹ und ›Offenbarung‹, wie sie sich im Gefühlserlebnis der Mystik ausdrückt, – oder jeder anderen religiösen, vor allem östlichen Erleuchtungs-Theorie – sehr nahe, da sie ja von der Überzeugung ausgeht, daß erst die analoge Methode des akausalen Denkens (oder die Selbst-Erfahrung in der Tiefendimension der Wirklichkeit) im Gegensatz zum linearen, kausalen Erkennen die sinnvermittelnde und sinngebende Einsehbarkeit (Anschauung) der Dinge – oder sozialen Umstände – in der unverkürzten Konkretheit ihrer Erscheinung erlaubt, – damit die ganze Realität zugänglich macht. Mit beiden Augen sehen läßt. Demzufolge müßte der Weg des nur wissenschaftlich motivierten Denkers immer in einer Sackgasse enden, weil der Sinn seiner Bemühungen nicht einsehbar wird; so bleibt ihm auch das Wesen seines Problems verschlossen. Die Konsequenz von Reflexion sollte aber stets sein, – um sie nicht ad absurdum zu führen: aktive Bewegung, Tat, Veränderungswille, Handlungsfähigkeit. Der Handlungsspielraum der meditativen Möglichkeit läuft dagegen Gefahr, sich in aktiv-passivem Versenken, enthaltsamer Kontemplation selbstgenügsam einzugrenzen oder abzukapseln, sich selbst zu verlieren. »Jetzt sehen wir in einem Spiegel wie 15


in einem dunklen Wort«, kann deshalb logisch nur bezogen sein auf die folgende (höhere) Analogie: »dann aber von Angesicht zu Angesicht«2, – als Richtlinie des rechten Verhaltens, wissende Verheißung eines zukünftigen, existentiell-wichtigeren, d.h. ›besseren‹, jedenfalls entmaterialisierten geistigen Zustands in einer fiktiven, weil nur versprochenen, undenkbar-erdachten ›Neuen Endstation Utopie‹, dem sogenannten ›glaubbar‹ gemachten versicherten Jenseits. Und eben an dieser Stelle sollte innerhalb der vorgegebenen Problematik meine Kritik an der Brauchbarkeit einer so paradoxen Logik (oder vorrangig metaphysischen Methode der Reflexion) beginnen können, die Freud zur psychoanalytischen Therapie, d.h. dem Prozeß des sich ständig weiter vertiefenden Erlebens des individuellen Selbst führte, zur seelisch-körperlichen Heilung durch private Selbst-Erkenntnis. Die unsicheren physischen Verhältnisse im Jammertal ›Diesseits‹ können dank dieses tradierten ideologischen Unterbaus also bleiben, wie sie immer schon waren (selbst, wenn sie nicht so sind), die Geschichte des Menschen ist ja nicht die eines propagierten ewigen Ratschlusses, der seinen eigenen unerforschlichen Gesetzen des absoluten Perfektionismus nach persönlichem (oder personalem) Ermessen folgen kann oder nicht: dementsprechend wird es für die elementarsten sozialen Probleme und handfesten politischen Fragen wegen ihrer ›spirituellen‹ Bedeutungslosigkeit in absehbarer Zeit keine zwingenden realistischen Lösungen geben können, z.B. in der ›Dritten‹ Welt, vor allem dort nicht, wo für die Propaganda und Betreibung der Anti-Reflexion genügend Institution garantiert wird. Spiegellosigkeit oder ›dunkles Wort‹ sind demnach Synonyme für verwaltete Ignoranz, Dummheit, sprich: festgeschriebenes menschliches psychisches und körperliches Elend, das sich auf Schritt und Tritt selber zu begegnen beginnt, – und nur dieser Zustand wird   1. Korinther 13, 12

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›letzten Endes‹ glaubwürdig sein können, vielleicht rhetorisch nicht mehr zu beschreiben. James Baldwin sagt das einfach so: »Was du dem geringsten meiner Brüder angetan hast, das hast du mir angetan.«3 Pablo Neruda schrieb in Aufenthalt auf Erden: »es gibt Spiegel, die hätten weinen müssen vor Scham und Entsetzen«4. Und viel später in Memorial von Isla Negra: »und plötzlich tauchte in meinem Gesicht das eines Fremden auf und es war gleichfalls ich selber: war ich, der da wuchs, warst du, der da wuchs, war alles, und wir verwandelten uns und nie mehr wußten wir, wer wir waren, und manchmal erinnern wir uns an den, der in uns lebte, und wir erbitten von ihm etwas, vielleicht, daß er unsrer sich erinnert, daß er zumindest weiß, daß wir es waren, daß wir mit seiner Zunge sprechen, doch seit den aufgebrauchten Stunden blickt uns jener an und erkennt uns nicht.«5

Matthäus 25, 45 (Herv. H.J.P.)   Pablo Neruda, Walking around (in: Aufenthalt auf Erden II), nach: Erich Arendt (Hg.), Pablo Neruda – Dichtungen 1919-1965, Darmstadt und Neuwied, 1977 (1967), S. 97 5   P. Neruda, Das verlorene Kind (in: Memorial von Isla Negra I); nach: ebenda, S. 779 (Herv. H.J.P.) 3

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Der moralisierende Teil meines Gedankens, die Formulierbarkeit des Faktes ›Schuld‹, ist – wie wir wissen – lange keine philosophische Unmöglichkeit mehr. Aber ist das Philosophieren nicht eine traditionsgemäß ›enthaltsame‹ Wissenschaft? Wenigstens in unseren westlichen Klima-Zonen? Sicher ist: das westliche Denken produzierte Wissenschaft, Dogma, Intoleranz und ein ungeheuerliches nukleares Vernichtungsmaterial. Nach Marx haben die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu ändern.6 Ohne parallele politische Dynamik (das ist: Handlung und nicht pragmatisches, kalkuliertes ›Machen‹), deren Wirkung die tönerne Festigkeit des Riesen anzugreifen und mit Erfolg zu erschüttern imstande wäre, konnte (und könnte) diese Realität dem besitzenden Bürgertum und marktabhängigen Mittelstand in Lateinamerika niemals ›erhellt‹ vor Augen geführt, die Frage nach dem eigenen Standpunkt darum nicht gestellt, ›problematisiert‹ werden, – ein gehöriges Maß intelligenter und ethischer Disposition natürlich vorausgesetzt, das ist: Sehfähigkeit; nicht umsonst ist man mit Blindheit ›geschlagen‹, bestraft, und Mensch-Werdung ist eine so einfache Sache nicht. Auf ähnlich mystifiziertem oder ignorantem, blinden Niveau befand sich das Vorstellungsvermögen, die ›gesunde Phantasie‹ (Synonym zum ›gesunden Volksempfinden‹), und der sachliche Informationsstand bürgerlich-intellektueller Gruppierungen in der Alten Welt. Konsequenterweise fühlten sich viele lateinamerikanische Dichter unter den tatsächlichen irrationalen Verhältnissen gedrängt (die statistische Analyse allein konnte in der auswuchernden Verelendung der Massen deutlich ›mit den Sinnen‹ erfaßt werden), aus einem sittlichen Selbst-Verständnis heraus, protestierend gegen die politische Unterdrückung wesentlicher

Nach: Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1845); hier nach: Siegfried Landshut (Hg.), Karl Marx – Die Frühschriften, Stuttgart 2004, S. 404 6

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Teile der Bevölkerung, die Rolle des ›Rufers in der Wüste‹ anzunehmen, – des agent provocateur, sich den Opfern kolonialer Arroganz und Habgier zuzuwenden, nicht etwa um irgendwo ›ein gutes Wort für sie einzulegen‹, sondern mit der Waffe des Wortes – und das wiederum wörtlich – buchstäblich um sie zu kämpfen, das ist: Rebellion gegen das Establishment auszurufen. Die Kategorien einer Revolutions-Ästhetik oder ästhetischen Anarchie bildeten sich innerhalb dieses zutiefst humanen Prozesses wie ein Gefäß aus, welches als das Resultat von Inhalts-Arbeit entstanden ist (also von innen nach außen geformt und nicht umgekehrt); die weniger nach Synthese strebende Ambition des abendländischen Intellektuellen, ästhetische Kriterien der Form zu suchen und Maßstäbe für ihre Bewertung zu finden, ist hier zunächst grundlos und führt zu keinem substantiellen Verständnis. Die Intensität der Zuwendung wächst außerdem in dem Maße, wie sich der individuelle Autor selber als Nachkomme der indianischen Ureinwohner seines Landes empfindet, mit ihnen identisch wird, – und wir müssen uns sehr davor hüten, polemischer Argumentation auf den Leim zu gehen und ihm allein aus dieser Tatsache eilfertig den Vorwurf des Rassenfanatismus nach dem bekannten Blut-und-Boden-Muster zu konstruieren. So entstand also eine emotional-revolutionäre Literaturbewegung, die man in den Kreisen der geistigen ›Elite‹, d.h. richtiger: auf die Macht Einflußreichen (die einzelnen Instanzen sind bekannt), verschämt-philanthropisch mit der kultur-historischen Formel ›Indianismus‹ oder schöner noch ›Indígenismus‹ (Euphemismus für dekadent-krankhaft) ausstattete, – verquält gewundene Umschreibung einer oppositionellen Ausdrucksweise gegen den zivilisierten ›Europäismus‹ und – da wird es ganz abenteuerlich – ›Criollismus‹ (von Criollo = Kreole, der in Ame-

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rika geborene Weiße europäischer – meist spanischer – Herkunft und Erziehung).7 Bis zur Grenze der Schamlosigkeit war man bereit, entsprechende Konzessionen zu machen (wie in anderen lebenswichtigen Bereichen auch) oder Kompromisse unter ›kultivierten‹, akademischen Menschen zu schließen, – immer schon ein politisch suspektes Unternehmen des ›sowohl-als-auch‹ –, aber doch wohl nur, um sein eigenes Gesicht etwas länger wahren zu können. Jedoch: welches Gesicht? Der objektivierende, entzerrende Spiegel blieb ja nicht begriffen, – Seh-Tauglichkeit immer noch vorausgesetzt – die Maske konnte (und kann) weiter als kranker Ersatz für eine gesunde, aber unbekannte Wirklichkeit getragen werden. Diese Wiedergeburt der ›Indígenas‹, authentischer Eigentümer der Produktionsmittel und konvertierten privatisierten Kulturgüter (um nicht ›gestohlen‹ sagen zu müssen – der Begriff ›privat‹ ist ja vom lateinischen ›privare‹ = berauben abgeleitet), ethnisch überlegene Gruppe (sowieso!), vergegenwärtigt eine neue, ausgeformte Strömung in der lateinamerikanischen Dichtung, die nicht zuletzt wegen ihrer informativen, ›aufklärerischen‹ Funktion auch bei konservativen Lesern im europäischen kapitalistischen Westen wachsendes Interesse freilegte, sogar auf eminent grausame, brutale Weise unterhalten konnte. Die Stilelemente dieser Literatur und Gegenstände ihrer Beschreibung – Darstellung von Gewalt, Verzweiflung, Elend, Verzicht auf laszive ›Liebesromanzen‹ – sind als teilhabende Momente   Der farbige Indio Südamerikas spielte im Drama des weißen Imperialismus rassenideologisch die gleiche Rolle wie der Schwarze in Nordamerika und der europäische Jude, der doch ›nichts anderes‹ ist als ein Farbiger mit weißer Haut; zwischen der spanischen Inquisition und dem Franco-Regime besteht eine ebenso eindeutige Verbindung wie zwischen der Geschichte der katholischen Kirche und der Geschichte Europas (damit: dem jüdischen Schicksal). Die Entdeckung Amerikas, die Inquisition fiel zeitlich zusammen mit der Vertreibung der Juden aus Spanien. (Anm. H.J.P.) 7

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der fremden Wirklichkeit für den europäischen Durchschnittsanspruch und -geschmack eher ungewöhnlich (nicht, weil ungewohnt!) und sensationell, vielleicht aufregend esoterisch – exotisch, – gerade der richtige Lückenfüller im Bücherbord des snobistischen Allerlei-Fetischisten (wobei ich ›snobistisch‹ breit horizontal angelegt wissen möchte). Glücklicherweise ist dem Zerrbild vom ›guten Wilden‹ und seinem Land, diesem durch und durch romantisierten Sehnsuchtsideal einer angekränkelten Imagination vom ›Orplid, das ferne leuchtet‹, der Traum-Kolonie zivilisationsmüder AmateurArchäologen (auch diese dekadente leere Utopie ist inzwischen zur verkommenen Zigarettenwerbung abgesunken), die iberoamerikanische Antwort und Desillusion (meinetwegen ›reaktionär‹) auf dem Fuß gefolgt: In den vergangenen Jahrzehnten (die Idee der Demokratie – und das wollen wir nicht vergessen – wurde in allen Varianten und Ausdeutungen zu leben und zu töten versucht, wie ein programmiertes Stierkampf-Ritual) entstand eine Lyrik und Romankunst, in der sich die Indios (und auch negride Rassen) als vom europäischen Feudalismus deklassierte asoziale Minderheiten in einem ungeahnten Patriotismus stolz zu erkennen geben; – als die, die sie sind, als das, was sie sind: selbstbewußte Proletarier bester Qualität. Auch ging dort die gewiß anschaulichere Metapher vom ›Imperialismus‹ mittlerweile in die gewöhnliche Sprachregelung ein. Schon 1900 veröffentlichte der Soziologe José Enrique Rodó aus Uruguay einen Essay über ›Die Realität des Geistes‹, der sich mit der thematisch-inhaltlichen Konzeption der lateinamerikanischen Literatur und ihren Thesen, dem ästhetischen Programm des ›Amerikanismus‹ auseinandersetzt. Er behauptet darin – und dieses Postulat steht sicher stellvertretend für die besondere moralische Motivation der jüngeren Dichtergeneration:

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»So ist die Literatur dieser unserer Welt kämpferisch; will sie der Wirklichkeit verbunden bleiben, muß der Kampf ihre Aufgabe sein, weil doch unsere Wirklichkeit so ist, daß sie stets nur den Kampf herausfordert.«8 In diesem äußerst realistischen, rebellischen Sinn, der keine relativierenden Positionen mehr zuläßt, ist die Literatur Lateinamerikas über vierhundert Jahre immer ›engagierte‹ Literatur gewesen (um einen geläufigen terminus technicus zu verwenden), lange also, bevor Sartre diesen Begriff auf unsere Verhältnisse bezogen wissen wollte. ›Das Wort als Waffe‹, – diese Formulierung Sarmientos9 galt bereits, als die Schriftsteller sich vor zwei Jahrhunderten zu Verfechtern der amerikanischen Rechte gegenüber den Kolonialherren in Madrid und Lissabon machten. Sie galt, als die Literatur zur Wegbereiterin der Unabhängigkeit wurde, – der ›Befreier‹ Simón Bolívar führte gleichzeitig das Schwert und die Feder. Das Ziel der Gegenwartsautoren ist nun nicht mehr, wie im romantischen Zeitalter, der gefühlsmäßige Protest, sondern das Bemühen, die sozialen, oft rassisch bedingten Probleme aufzuzeigen und zu analysieren, die aus dem Zusammenprall des lateinamerikanischen Charakters mit einer neuen Welt resultieren, die den Menschen als Bestandteil einer politisch-ökonomischen Struktur absorbiert und ohne Rücksicht auf seinen sozialen Status ›organisieren‹ möchte.10 Damit ist auch gesagt, daß sich der lateinamerikanische Dichter primär nicht als Ästhet oder Philosoph fühlen kann: er ist politischer Mensch, Politiker durch und durch.

José Enrique Rodó (1871-1917), urugayischer Soziologe und Essayist [genaue Quelle nicht bekannt]. (Herv. H.J.P.) (Anm. A.B.) 9   Domingo Faustino Sarmiento (1811-1888), argentinischer Politiker und Schriftsteller. H.J. Psotta nennt als Urheber Albert Theile, der sie aber wohl von Sarmiento aufgegriffen hat. (Anm. A.B.) 10   Zum Teil wortwörtlich nach: Lorenz, Zeitgenössische Literatur, S.74f. 8

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Miguel Angel Asturias: Credo »Ich glaube an die Freiheit, Mutter Amerikas, Schöpferin der linden Meere auf Erden, und an Bolívar, ihren Sohn, unseren Herrn, welcher geboren in Venezuela, geschlagen wurde, litt unterm spanischen Joch. Er ging zu sterben auf dem Chimborasso, fuhr nieder mit dem Regenbogen zur Hölle, auferstand bei der Stimme Kolumbiens, faßte die Ewigkeit mit seinen Händen und sitzet zur Rechten Gottes. Richte uns nicht, Bolívar, ehe der Jüngste Tag kommt, denn wir glauben an die Gemeinschaft der Menschen, die mit dem Volke teilen Wein und Brot – allein das Volk macht frei die Menschen –, schwören Krieg auf Leben und Tod und gnadenlos den Tyrannen, glauben an die Auferstehung der Helden und an das ewige Leben derer, die gleich dir, Befreier, nicht sterben, wach, mit geschlossenen Augen.«11 Auch ohne spezielle gesellschaftspolitische Kenntnisse kann jeder, der Ohren hat, zu hören, sich leicht vorstellen, daß die ›engagierten‹ Dichter dieser sozialkritischen Bewegung als ungebetene Künder und Interpreten einer total zu verändernden Klassenstrukturierung, flugs inkriminierbar durch die Illegalität ihrer anarchistischen Beschäftigung, für den erfolgreichen Kampf jedes persönliche Risiko einzugehen bereit waren, – ent  M.A. Asturias, Credo; nach: Günter W. Lorenz (Hg.), Miguel Angel Asturias, Berlin und Neuwied 1968, S. 277ff. (Übersetzung: Wolfgang Promies)

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weder in der Emigration, als Rechtlose aus ihrem Vaterland vertrieben, oder in Gefängnissen weiterzuleben – einer von staatlichen Sicherheitsbehörden kontrollierten Anpassung, bestenfalls erzwungenen Verstummung, inneres Exil – den Vorzug gaben. Diese an sich schon schwierigen Lebens- und Arbeitsumstände werden immer dann noch besonders gefährlich, wenn die Arbeiten eines Autors weit über die Landesgrenzen hinaus Verbreitung fanden und etwa internationales Aufsehen erregten, womöglich aktive Zustimmung erreichten und – gravierendstes Delikt – politisches Handeln über Solidaritätskundgebungen von außen möglich machten, das Anti-Propaganda und eventuellen wirtschaftlichen Boykott zur Folge hatte: Reflexion erlaubten und erfahren ließen. Die Beispiele von Diskriminierung und erbarmungsloser Verfolgung sind zahllos: Asturias mußte vor dem faschistischen Regime in Guatemala nach Italien fliehen, Pablo Neruda – Chilene – verbrachte viele Jahre als Flüchtling in europäischen Gastländern, der Peruaner César Vallejo verhungerte im Pariser Exil, sein Landsmann Ciro Alegría wurde eingekerkert, Mario Vargas Llosa sah durch das Zuchthausfenster in Lima mit an, wie seine Bücher verbrannt wurden. Man könnte eine solche Namensreihe lange fortsetzen; allein durch die eifrige Quantifizierung der Fakten würde die Tatsache gewiß nicht schwerwiegender, unter welchen skandalösen Bedingungen, selbst um den Preis des eigenen Lebens, in Lateinamerika ›engagierte‹ Literatur entstehen konnte und entsteht, – mit wenigen Ausnahmen und auch die sind lediglich eine Art Kaminfeuer-Toleranz, welche in den spiegellosen Kontext des verdunkelten Bewußtseins, der leeren Historizität hineipaßt. Und die im Dunkeln sieht man nicht. In einem Gespräch, das Miguel Angel Asturias 1967 mit seinem Biografen Günter W. Lorenz führte, bemühte sich der Dichter, diese für einen mit der konkreten Problema24


tik des Lebens an ›Ort und Stelle‹ relativ unvertrauten Europäer beinahe aussichtslos scheinende Situation folgendermaßen zu definieren: »Da tut sich natürlich ein Abgrund auf zwischen dieser Literatur der Enthaltsamkeit und unserer Literatur, die ich nicht so sehr als ›engagierte Literatur‹ bezeichnen möchte – mit diesem Begriff wird zuviel Unfug getrieben –, sondern als ›verpflichtete Literatur‹, als eine Literatur [...], deren Autoren sich verantwortlich fühlen für ihre Welt. [...] Ich glaube nicht, daß einer, der es ehrlich meint, mit dem Schreiben beginnen kann, wenn er sich in sein Zimmer einsperrt und nicht mehr das Dröhnen des Orinoco, des Rio Paraná oder der anderen gewaltigen Ströme Amerikas hört, ich glaube nicht, daß der Schriftsteller sich einschließen und den Gebrauch des Wortes, der Majuskeln und Minuskeln, der schönen, kultivierten Formeln des neunzehnten Jahrhunderts üben kann. Das alles muß er, wenn er ein guter Schriftsteller ist, ohnedies als sein Handwerkszeug beherrschen […]. Der ›verpflichtete‹ Autor ist auch dazu verpflichtet, noch größere Meisterschaft, noch mehr künstlerisches Vermögen zu beweisen. […] Ohne den Schrei, [...] ohne die Stimme unserer Menschen auf dem Lande zu hören, ohne den klagenden Mestizen zu hören, ohne den Weißen zu hören, der zu uns kam und sich etwas ganz anderes erhofft hatte, ohne diese ganze bebende, leidende und kämpfende Welt wahrzunehmen, ohne all das kann man bei uns keine Literatur schreiben. [...] Unsere Literatur ist logisch, und sie wird sich in Zukunft weiterentwickeln. [...] In der Gegenwart aber besteht unsere einzige Aufgabe darin, Zeugen zu sein, Zeugen, Ankläger und Protestanten zugleich. In unseren Werken müssen wir jene inhumane Situation bezeugen, die unsere Gesellschaft beherrscht.«12

M.A. Asturias im Interview mit G.W. Lorenz; in: derselbe, Dialog mit Lateinamerika, Tübingen und Basel 1970, S. 375-378 (Herv. H.J.P.)

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LITERATURVERZEICHNIS

Beda ALLEMANN, Zeit und Figur beim späten Rilke, Pfullingen 1961 Erich ARENDT (Hg.), Pablo Neruda – Dichtungen 1919-1965, Darmstadt und Neuwied, 1977 (1967) James BALDWIN, Eine Straße und kein Name, Reinbek bei Hamburg 1973 Arndt BECK (Hg.), Helmut J. Psotta – Radikale Poesie, Berlin 2013 Künstlerhaus BETHANIEN (Hg.), Grupo Chaclacayo – Todesbilder – Peru oder Das Ende des europäischen Traums, Berlin 1989 Bertolt BRECHT, Kalendergeschichten, Hamburg 1990 (1953) Karlheinz DESCHNER, Abermals krähte der Hahn, Reinbek bei Hamburg 1972 (1962) Dorothea FORSTNER, Die Welt der Symbole, Innsbruck, Wien und München 1961 Sigmund FREUD, Schriften zur Krankheitslehre der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1991 Erich FRIED, 100 Gedichte ohne Vaterland, Berlin 1978 Erich FROMM, Haben oder Sein, Stuttgart 1979 (1976) Erich FROMM, Die Kunst des Liebens, Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1980 (1956) Werner FUCHS, Todesbilder in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969 Manfred HETTLING, Jörg Echternkamp (Hg.), Gefallenenge114


denken im globalen Vergleich, München 2013 Siegfried LANDSHUT (Hg.), Karl Marx – Die Frühschriften, Stuttgart 2004 Sergio Fernández LARRAÍN (Hg.), Pablo Neruda – Liebesbriefe an Albertina Rosa, Frankfurt am Main 1975 Gotthold Ephraim LESSING, Wie die Alten den Tod gebildet, Paderborn 1909 Günter W. LORENZ (Hg.), Miguel Angel Asturias, Berlin und Neuwied 1968 Günter W. LORENZ, Dialog mit Lateinamerika, Tübingen und Basel 1970 Günter W. LORENZ, Die zeitgenössische Literatur in Lateinamerika, Tübingen und Basel 1971 Städtisches MUSEUM WESEL, Galerie im Centrum (Hg.), Rote und schwarze Erde – Araukanische Keramik aus Chile mit Fotografien von Achilles Rösner, Wesel 1980 Pablo NERUDA, Der Große Gesang, Berlin (DDR) 1953 Pablo NERUDA, Gedichte, Frankfurt am Main 1963 Pablo NERUDA, Ich bekenne ich habe gelebt, Darmstadt und Neuwied 1974 Pablo NERUDA, Letzte Gedichte, Darmstadt und Neuwied 1975 Pablo NERUDA, Der Große Gesang, Berlin (DDR) 1977 Pablo NERUDA, Liebesgedichte, Darmstadt und Neuwied 1977 Helmut J. PSOTTA, De vraag van het begin, Amsterdam 1971 Helmut J. PSOTTA, Die araukanische Pythia oder: Über die verkehrte Anschauung meiner Dinge (Eröffnungsvortrag zur Ausstellung Rote und schwarze Erde), Wesel 1980 Heinz Rudolf SONNTAG, Revolution in Chile, Frankfurt am Main 1972 Mechthild STRAUSFELD (Hg.), Materialien zur lateinamerikanischen Literatur, Frankfurt am Main 1976 Inge von WEDEMEYER, Sonnengott und Sonnenmenschen, Tübingen 1970 115


Ebenfalls 2013 im Karin Kramer Verlag Berlin erschienen:

Arndt Beck (Hg.) Helmut J. Psotta – Radikale Poesie Frühe Arbeiten 1954-1962 ISBN 978-3-87956-371-5 22 x 28 cm, Hardcover, 79 farbige Werkabbildungen, zahlreiche weitere Abbildungen (schwarz-weiß und farbig), hochwertig gedruckt und gestaltet, 127 Seiten 29,80 € 116




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