UnAufgefordert Nr. 178

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Neulich beim Entspannen

den Osten, denn der Weg ist weit. Also muss dieses Ereignis Fußball interessiere. Doch wenn die anderen sich aufregen gebührend gefeiert werden. So stand ich am Sonntag ihres oder anfangen zu weinen, weil irgendwer irgendwas verliert, Besuches um 9 Uhr morgens im Schlafanzug in der Küche kann ich in Ruhe Bier trinken und mich im Vergleich zu den und backte Kuchen. Um 9 Uhr 30 klingelte das Telefon. Mei- fanatischen Fußballfans sehr entspannt fühlen. Schließlich ne Westberliner Familie rief an, die eine Hälfte sei krank und kam ich aber recht spät zum Spiel und bekam nur einen Stehdie andere Hälfte müsse sich um die kranke Hälfte kümmern. platz ganz hinten am Zaun. Ich war so weit weg von der LeinSo blieb ich mit meinem halbfertigen Kuchen alleine in Ost- wand, ich konnte noch nicht einmal den Ball erkennen. Aber berlin. Natürlich war dann auch noch der Ofen kaputt und gut, ich war ja zum Entspannen da. Außerdem hatte ich soich musste den Westberliner-Familie-Kuchen alle zehn Mi- gar Glück gehabt, denn die Menschen, die später als ich kanuten um 90 Grad drehen, damit er nicht anbrennt. Richtig men, durften gar nicht erst rein. Irgendwann waren sogar die Stehplätze voll und das Personal machte das Biergartentor entspannend fand ich diesen Sonntag nicht. Für den nächsten Erholungsversuch bemühte ich mei- zu. Sehr zum Ärger eines Mannes im Anzug. Vielleicht hatte ne Freunde. Wir sind mit dem Fahrrad ins Grüne gefahren, er den Anzug extra für dieses Spiel angezogen und war wewas an sich einfach entspannend sein muss. Nur haben gen des Bindens der Krawatte zu spät? Egal, jedenfalls fing er wir uns im Grünen erstmal richtig verfahren, dann ging das an, am Zaun zu rütteln. Schräg hinter meinem Stehplatz. Als erste Fahrrad kaputt und kurz darauf ist einem meiner das Rütteln nichts brachte, kletterte er auf den Zaun und hing Freunde mitten im Wald eingefallen, das er gleich einen halb in den Garten rein. Vorne das Spiel, dessen Ball ich nicht ganz, ganz wichtigen Termin in Berlin-Mitte hat. Wenn sehen konnte, hinten der Mann, der halb in den Garten hing. es sein muss, dann finden auch verirrte Personen mit Auch keine entspannende Situation. Deshalb bin ich dann einfach mal zu Hause geblieben. kaputten Fahrrädern ganz schnell einen Weg aus dem Grünen in die große Stadt. Allerdings Ich kann ja auch nicht von anderen Menschen verlangen, dass sie sich um meine Entspannung kümmern. Ich war alsind sie dabei nicht entspannt. Gut, dachte ich mir, dann erhole ich so ganz alleine zu Hause. Sogar die Leute aus der Nachbarmich einfach mit fremden Menschen. Es wohnung hatte ich gehen gehört. So konnte es bleiben. Kein war gerade Fußball-EM und so suchte Kuchen, kein Wald, kein Fußballspiel – nur Ruhe. Und dann ich einen Biergarten mit Leinwand auf. fing es an: wau-wau. Wau-wau-wau-wau. WAU-WAU-WAUNicht, dass ich mich sonderlich für WAU! Die Nachbarn hatten den Hund zu Hause gelassen und der hatte nun furchtbare Sehnsucht. Ich habe versucht, ihn durch die Wand zu beruhigen. Er hat trotzdem den ganzen Vormittag gebellt. Ich lass das mit dem Entspannen jetzt und bin für die nächsten paar Monate wieder in der Stabi zum Leute­zählen. Sara Wilde <

Juli 2008

UNAUFgefordert

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> An einem Samstag habe ich nachgezählt: Leute, die in der Stabi in meinem Sichtfeld sitzen und Solitär spielen: Drei. Leute, die in die Luft starren: Vier. Leute, die ihren Kopf auf den Tisch gelegt haben und offensichtlich schlafen: Zehn. Zugegeben, ich konnte von meinem Platz aus viele Leute sehen. Trotzdem: Sollte man bei so viel Desinteresse nicht vielleicht einen Tag freimachen? Mal nicht das halbe Wochenende lernen? Mal ins Schwimmbad gehen oder Enten füttern? Ich hatte mir jedenfalls Entspannung verordnet, nachdem ich in der Stabi länger Leute beobachtet hatte, als in meinem Buch zu lesen. Aber was macht man so in der Freizeit, um sich zu erholen? Wie wird man in kurzer Zeit so entspannt, dass man nachher mehr Interesse an den Büchern und weniger an fremden Menschen hat? Meine erste Idee war: Ich lade meine Westberliner Familie ein. Meine Westberliner Familie kommt nicht oft zu mir in

Illustration: Sara Schurmann


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