UnAufgefordert Nr. 155

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Leben Damen in wallenden Kleidern, mit Sonnenschirm und einem kleinen weißen Hündchen an der Leine, die Herren in Anzug und mit Gehstock. Diesen Traum unterbricht jäh die Schlagerband. »Wir fuhren nach Bayern und hatten großen Durst« Rhythmisches Klatschen. Beim abendlichen Räucherfischessen in Binz trennt sich die touristische Spreu vom Weizen. Die trainierten Stammgäste genießen einen ganzen Räucheraal, Makrele, Sprotten, Heilbutt oder Lachs. Zum Nachspülen gibt es Störtebecker Schwarzbier. Nach dem Selbsttest weiß man,

»Wir in Meck-Pomm sind nicht domm« – Das hört man hier gern

dass ein normaler Studentenmagen schon nach einer halben Räuchermakrele kapituliert. Die Jugendherberge im KdF-Koloss in Prora ist mit 11,50 Euro preislich die günstigste auf ganz Rügen. Dabei ist sie nicht ohne Reiz. Alle Zimmer haben Seeblick und bei geöffnetem Fenster wird man vom Geräusch der Brandung in den Schlaf gewiegt. Eines der Zimmer ist noch im original NVA-Kasernenzustand erhalten, mit Metallspinden und Honecker-Porträt am Kopfende des Bettes. Nur kann es, wenn man der einzige Gast im Haus ist, auch etwas unheimlich werden. Gegen die langen, kahlen Flure des Komplexes mit ihren charakterlosen Türen scheint Kafkas Schloss eine Miniatur. Doch der Herbergsvater versichert am nächsten Morgen, dass die Herberge sonst besser gefüllt ist: Bei schönem Wetter müsse man eine Woche im Voraus buchen.

te Vergangenheit nah. Der Raum hat den Charme der Kantine eines FDGB Ferienheimes mit abriebfestem PVC-Belag, bourdeauxrot bezogenen Eisenstühlen, gelben Plastiktischdecken und lilanen Papiertulpen. Die Wand schmückt ein sieben mal zwei Meter großes Fresko. Es zeigt ein Bild von Rügen, wie es schon lange nicht mehr existiert. Einen Jäger auf der Pirsch, ein Bauernpärchen mit Heukarren, im Hintergrund die Ostsee mit einer Kogge, ein Fischerhaus, Flugenten, ein Rapsfeld samt Rehen, Hünengräber in einer Hügellandschaft und eine Allee. Die Zeitreisen in die deutsche Geschichte, mit denen Prora und Binz kokettieren, kontrastiert das Naturerlebnis. Neben den Stränden gehört dazu die Wanderung entlang der Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund nördlich von Prora. Diese zehn Kilometer Küste gehören zweifellos zu den schönsten und beeindruckendsten, die es in Deutschland gibt. Auf 30 bis 100 Metern über der Ostsee führt der Weg direkt an den Klippen durch einen Urwald ganz aus Buchen. Durch die unterschiedlichen Lichtverhältnisse erscheinen die Farben extrem kontrastreich: das Blau des Wassers, das Weiß der Felsen und das Grün der Blätter. Versteckt im Wald liegen die berühmten Hünengräber aus der Jungsteinzeit, deren Steine bis zu 10 Tonnen wiegen. Wem während des Wanderns nach einer Abkühlung ist, den führen die Schluchten der Bäche hinunter zur Ostsee. So bleibt der prägendste Eindruck von Rügen die Abwechslung. Wem die Ostküste nicht genügt, auf den warten noch Hiddensee und Stralsund. Die alte Hansestadt ist auch das Tor nach Rügen, drei Stunden von Berlin entfernt – drei Stunden zwischen urbanem Alltag und großartigem Naturerlebnis. Zeitreisen inbegriffen. Benjamin Reuter <

Kahle Flure, weiße Kreidefelsen Frühstück bekommt man fünf Minuten von der Herberge entfernt im »Das freundliche Bistro«. Zur Wahl stehen Riesenbockwürste, Mett- oder Käsebrötchen. Auch hier ist die jüngs-

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Juni 2005

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