Aladin El Mafaalani

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Zeitschrift für Grundschulforschung Bildung im Elementar- und Primarbereich 1-2013 Aus dem Inhalt Inklusion pädagogik – Inklusion aus internationaler Perspektive – ein Forschungsüberblick – Integration von Schülern mit sonderpädagogischen Förderbedarf

in der Grundschule – zur Situation in den 16 Bundesländern

– Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung in einem inklusiven Setting in den ersten beiden Schuljahren – Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderung im gemeinsamen Unterricht – Inklusive Förderung auf Basis kindlicher Interessen Diskussion – Italiens inklusive Schulen – ein Vorbild für Deutschland? Offene Beiträge – Wer profitiert beim jahrgangsgemischten Lernen?

Zeitschrift für Grundschulforschung

– Empirische Zugänge zu Inklusion in der Früh- und Grundschul-

ZfG

Zeitschrift für Grundschulforschung Bildung im Elementarund Primarbereich 1-2013

kindern – Welche Unterrichtsfaktoren fördern die Schulzufriedenheit Lernender? – Domänenspezifische Motivation und Mathematikleistungen in der

Grundschule vor dem Hintergrund kultureller und sprachlicher Diversität

– Exemplarisches Lehren und Lernen durch das Arbeiten mit Beispielen

Themenschwerpunkt ZfG 2-2013 Umweltbildung

ISSN 1865-3553

Zeitschrift für Grundschulforschung Bildung im Elementar- und Primarbereich

ZfG 1-2013

– Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migranten-

Thema Inklusion


ZEITSCHRIFT FÜR GRUNDSCHULFORSCHUNG BILDUNG IM ELEMENTARUND PRIMARBEREICH


ZEITSCHRIFT FÜR GRUNDSCHULFORSCHUNG BILDUNG IM ELEMENTAR- UND PRIMARBEREICH 6. Jahrgang – Heft 1 Herausgeber Margarete Götz, Maria Fölling-Albers, Friederike Heinzel, Gisela Kammermeyer, Karin von Bülow, Hanns Petillon Redaktion Gisela Kammermeyer, Susanna Roux, Hanns Petillon, Maria del Carmen Dixon Beirat Karl-Heinz Arnold (Hildesheim) – Sigrid Blömeke (Berlin) Ute Geiling (Halle) – Joachim Kahlert (München) Marianne Krüger-Potratz (Münster) – Jens Holger Lorenz (Heidelberg) Uta Quasthoff (Dortmund) – Hans-Günther Roßbach (Bamberg) Wolfgang Schneider (Würzburg) – Helga Zeiher (Berlin)


ZEITSCHRIFT FÜR GRUNDSCHULFORSCHUNG BILDUNG IM ELEMENTAR- UND PRIMARBEREICH

6. Jg. (2013) Heft 1: Inklusion

VERLAG JULIUS KLINKHARDT BAD HEILBRUNN 2013


Redaktion dieser Ausgabe: Prof. Dr. Gisela Kammermeyer, Prof. Dr. Susanna Roux, Prof. Dr. Hanns Petillon, Maria del Carmen Dixon Korrespondenzadresse für die ZfG 2/2013: Prof. Dr. Gisela Kammermeyer Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter Universität Koblenz-Landau, Campus Landau August-Croissant-Str. 5 76829 Landau Tel. +49 (0)6341/280 34135 Fax +49 (0)6341/280 34131 E-Mail: kammermeyer@uni-landau.de Homepage: http://www.uni-koblenz-landau.de/landau/fb5/bildung-kind-jugend Erscheinungsweise: Die Zeitschrift für Grundschulforschung. Bildung im Elementar- und Primarbereich erscheint halbjährlich, jeweils im Frühjahr (März/April) und im Herbst (September/Oktober). Die Hefte sind über den Buchhandel zu beziehen. Das Einzelheft kostet EUR (D) 24,80; im Abonnement EUR (D) 19,80 (gegebenenfalls zzgl. Versandkosten). Bestellungen und Abonnentenbetreuung: Verlag Julius Klinkhardt Ramsauer Weg 5 83670 Bad Heilbrunn Tel: +49 (0)8046-9304 Fax: +49 (0)8046-9306 oder nutzen Sie unseren webshop: www.klinkhardt.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de. 2013.lg. © by Julius Klinkhardt. Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Maria del Carmen Dixon, Landau. Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten. Printed in Germany 2013. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem alterungsbeständigem Papier. ISSN: 1865-3553


Zeitschrift für Grundschulforschung. Bildung im Elementar- und Primarbereich Jahrgang 6 – Heft 1 / 2013

Inhaltsverzeichnis INKLUSION Frank J. Müller & Annedore Prengel Empirische Zugänge zu Inklusion in der Früh- und Grundschulpädagogik .................

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Jessica M. Löser & Rolf Werning Inklusion aus internationaler Perspektive – ein Forschungsüberblick. ......................... 21 Torsten Dietze Integration von Schülern mit sonderpädagogischen Förderbedarf in der Grundschule – zur Situation in den 16 Bundesländern ...................................... 34 Bärbel Kopp, Sabine Martschinke & Christoph Ratz Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung in einem inklusiven Setting in den ersten beiden Schuljahren – Ergebnisse aus dem gemeinsamen Unterricht ................. 45 Christian Walter-Klose Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderung im gemeinsamen Unterricht ............ 59 Michael Lichtblau Inklusive Förderung auf Basis kindlicher Interessen – Ergebnisse einer Längsschnittstudie zur Interessenentwicklung soziokulturell benachteiligter Kinder ........................................................................................................................... 72

ZUR DISKUSSION Angela Enders Italiens inklusive Schulen – ein Vorbild für Deutschland? .......................................... 88

ZfG, 6. Jg. 2013, H.1


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Zeitschrift für Grundschulforschung. Jahrgang 6 – Heft 1 / 2013

OFFENE BEITRÄGE Frauke Grittner, Andreas Hartinger & Cornelia Rehle Wer profitiert beim jahrgangsgemischten Lernen? ...................................................... 102 Aladin El-Mafaalani Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migrantenkindern ................. 114 Rebecca Lazarides, Katja Richter & Angela Ittel Welche Unterrichtsfaktoren fördern die Schulzufriedenheit Lernender? Zusammenhänge zwischen Fremd- und Selbsteinschätzungen, diagnostischer Kompetenz und Schulzufriedenheit .............................................................................. 129 Rebecca M. Hartmann & Nele McElvany Domänenspezifische Motivation und Mathematikleistungen in der Grundschule vor dem Hintergrund kultureller und sprachlicher Diversität ................. 142 Katrin Lohrmann, Andreas Hartinger & Veronika Schwelle Exemplarisches Lehren und Lernen durch das Arbeiten mit Beispielen – theoretische Bezüge zwischen Allgemeiner Didaktik, Fachdidaktik und Lehr-Lernpsychologie ................................................................................................... 158

REZENSIONEN Angela Enders Heimlich, U. & Kahlert, J. (2012): Inklusion in Schule und Unterricht. Wege zur Bildung für alle ................................... 172 Maria Fölling-Albers Wittmann, S., Rauschenbach, T. & Leu, H.-R. (Hrsg.) (2011): Kinder in Deutschland. Eine Bilanz empirischer Studien ............................................ 178 Michaela Vogt Heinzel, F. (Hrsg.) (2011): Generationenvermittlung in der Grundschule .............................................................. 182 Bernd Thomas Einsiedler, W., Götz, M., Ritzi, C. & Wiegmann, U. (Hrsg.) (2012): Grundschule im historischen Prozess. Zur Entwicklung von Bildungsprogramm, Institution und Disziplin in Deutschland ...................................................................... 185


Aladin El-Mafaalani Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migrantenkindern

Ausgehend vom empirischen Befund der Sphärendifferenz als migrationsspezifischer Erfahrungsraum türkeistämmiger Jugendlicher in Deutschland wird anhand eines Falles exemplarisch gezeigt, in welch subtilen Zusammenhängen unterschiedliche soziale Logiken und Erziehungsvorstellungen bereits Kinder in der Grundschule irritieren und überwältigen können. Dabei werden die Perspektiven von Lehrkraft, Eltern und Kind analysiert und aufeinander bezogen. Hieraus werden allgemeine Schlussfolgerungen für die pädagogische Praxis abgeleitet. Schlüsselwörter: Erziehung; Kommunikation; Migration; Familie; Fallanalyse On the basis of the empirical findings of the discrepancy of spheres (Sphärendifferenz) as a migration-specific experience of Turkish youth in Germany it is exemplary shown by one case how different social logics and ideas of education can irritate elementary school children. The perspectives of teachers, parents and children are analyzed and related to one another. General conclusions for the pedagogical practice are drawn from it. Key words: education; communication; migration; family; case study

1. Einleitung Seit den großen international vergleichenden Schulleistungsstudien, insbesondere IGLU und PISA, wird Bildungsungleichheit intensiv in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit diskutiert. Ähnlich wie in den 1960ern scheinen auch heute normative Forderungen nach Gerechtigkeit und ökonomisch motivierte Argumentationen – insbesondere im Hinblick auf demografische Veränderungen – im Begriff der Bildungsungleichheit zusammenzulaufen (vgl. El-Mafaalani 2011). Gleichzeitig haben sich die Ungleichheitsdimensionen deutlich gewandelt: Während in der Zeit vor der Bildungsexpansion noch Arbeitertöchter die am stärksten benachteiligte Gruppe bildeten, wird heute die Bildungsbenachteiligung von türkeistämmigen Kindern (insbesondere Migrantensöhnen) diskutiert (vgl. Geißler 2008). Im internationalen Vergleich (u.a. in der TIES-Studie) wird deutlich, dass der Bildungserfolg türkeistämmiger Kinder in kaum einem untersuchten Land derart gering ist wie in Deutschland (vgl. z.B. Wilmes, Schneider & Crul 2011). Ebenso unterscheidet sich die räumliche Verteilung ungleicher Bildungschancen in Deutschland grundlegend: War es im letzten Jahrhundert vornehmlich die schwache Bildungsbeteiligung der Landbevölkerung, so sind es heute segregierte Räume in den Großstädten, in denen sich Bildungsarmut konzentriert (vgl. Strohmeier & Alic 2006). ZfG, 6. Jg. 2013, H.1


Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migrantenkindern 115 Bei der Erklärung ungleicher Bildungschancen von Migrantenkindern werden zum einen die Sozialisationsbedingungen in der Familie sowie die Bildungsentscheidungen der Eltern herangezogen (vgl. Becker & Lauterbach 2008), zum anderen ungleichheitsverstärkende Strukturen und Mechanismen im Bildungssystem identifiziert (vgl. Dravenau & Groh-Samberg 2008; Gomolla & Radtke 2002). In der empirischen Bildungsforschung werden Familienverhältnisse und institutionelle Strukturen meist getrennt voneinander betrachtet. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, die beiden Lebenswelten Familie und Schule sowie deren Wechselwirkungen zusammenhängend aus der Erlebensperspektive verschiedener Betroffener bzw. Akteure zu analysieren. Dabei wird der Schwerpunkt auf die sozialen Logiken türkeistämmiger Eltern in segregierten Stadtteilen auf der einen und der Schule auf der anderen Seite gelegt, insbesondere auf Erziehungsund Erwartungsdifferenzen in Kommunikationsprozessen jenseits vom Unterrichtsgeschehen im engeren Sinne. Nachdem in einem ersten Schritt Befunde zur migrationsspezifischen Sozialisation dargelegt werden, werden anschließend an einer Fallanalyse spezifische Problemstellungen exemplarisch aus den Perspektiven von Lehrkraft, Eltern und Kind beleuchtet, um abschließend auch die Herausforderungen einer migrationssensiblen pädagogischen Praxis sowie die Grenzen der Übertragbarkeit der Ergebnisse zu diskutieren.

2. Empirische Befunde zur migrationsspezifischen Sozialisation In nur wenigen Studien wurden die Problemstellungen, die die Sozialisation türkeistämmiger Jugendlicher in Deutschland prägen, angemessen untersucht. Hierfür wäre es nämlich notwendig, dass Migrantenkinder einheimischen Vergleichsgruppen sowie Vergleichsgruppen aus dem Herkunftsland – also der Türkei – gegenübergestellt werden. Ferner sollten empirische Vergleiche angestellt werden, die sowohl problematische als auch erfolgreiche Bildungsverläufe in den Blick nehmen. Denn: Um unterscheiden zu können, welches Merkmal zu welcher Problemstellung führt, müsste gewährleistet werden, dass die Schichtzugehörigkeit und das Bildungsniveau sowie die Migrationsgeschichte in der empirischen Untersuchung kontrolliert werden. In eindrucksvoller Weise wurde dies in den Studien von Bohnsack (2003) und Nohl (2001) umgesetzt. Hierfür wurden türkeistämmige Jugendliche der Zweiten Generation – also in Deutschland geborene Migrantenkinder – mit türkischen Jugendlichen aus der Türkei im Hinblick auf die Lebenswelten und Denkmuster vergleichend untersucht. Aus diesen detaillierten Analysen konnte herausgestellt werden, dass es einen zentralen Erfahrungsraum gibt, den diese beiden „verwandten“ Gruppen nicht teilen und der entsprechend nicht kulturtypisch – im Sinne einer national-türkischen Kultur – sein kann. Die Autoren nennen diesen nur für die Gruppe der in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen typischen Erfahrungsraum „Sphärendifferenz“ und betonen, dass dieser migrationstypisch sei, also nur im Migrationskontext zu beobachten sei. Dabei werden die Jugendlichen permanent von zwei verschiedenen Logiken irritiert: Die Logik der inneren Sphäre, also die der Familie und der ethnischen Community, die insbesondere auf traditionellen Formen des sozialen Zusammenlebens (enge Bindungen) basiert und in der kollektivistische Ideale, die von den Jugendlichen durch die zentrale Bedeutung der Begriffe Ehre, Respekt und Liebe gekennzeichnet werden, dominieren; demgegenüber spiegelt sich – wiederum aus der


116 Aladin El-Mafaalani Perspektive der Jugendlichen – die Logik der äußeren Sphäre (also der „Mehrheitsgesellschaft“) in abstrakten Formen sowohl individueller Anerkennung (Selbstbezüglichkeit) als auch sozialer Bindung an Gruppen (Loyalität) sowie in nicht problemlos bestimmbaren Spielregeln (implizite Normen) wider. Diese beiden Sphären werden jeweils für sich genommen als Einheit erlebt. Daraus entsteht eine Innen-Außen-Differenz, bei der ein zentraler Aspekt problematisch wird: Während die Jugendlichen deutlich zu erkennen geben, dass die Lebensweise in der inneren Sphäre einen nur sehr begrenzten Geltungsanspruch haben kann, also auch nur in der inneren Sphäre „funktioniert“, werden in der äußeren Sphäre Erfahrungen von Fremdheit, Differenz und teilweise von latenter und offener Diskriminierung gemacht. Also: Anders als die Jugendlichen in der Türkei nehmen türkeistämmige Jugendliche in Deutschland zum einen eine Sphärendifferenz wahr und zum anderen eine kommunikativ unüberbrückbare Diskrepanz zwischen der inneren Sphäre auf der einen Seite und der äußeren Sphäre auf der anderen Seite. Die Lebensvorstellungen der inneren Sphäre werden also als unzeitgemäß wahrgenommen und zugleich steht die äußere Sphäre für einen geschlossenen Raum, zu dem sich die Jugendlichen nicht unmittelbar zugehörig fühlen (können). Dieses fehlende Zugehörigkeitsgefühl zur „Mehrheitsgesellschaft“ speist sich aus dem Wechselspiel von der zum Teil mühsamen Enkodierung der impliziten Normen auf der einen Seite und der wahrgenommenen Fremdheit (und zum Teil auch Diskriminierung) auf der anderen Seite. Die Bewältigung der Sphärendifferenz kann dabei verschiedene Formen annehmen. Diese milieu- und bildungstypischen Strategien im Umgang mit den gegensätzlichen Logiken, die teilweise auch geschlechtsspezifische Färbungen aufweisen können, unterscheiden sich insbesondere darin, welche Sphäre den dominanten Referenzrahmen bildet und die eigene Identitäts- und Selbstwertentwicklung fördert. Anders ausgedrückt: Hier entwickeln sich viele Grautöne, die sich meist durch „feine“ Distanzierungen von beiden Sphären ausdrücken oder zu Diffusionen beider Sphären führen.1 Am Ende kann dies beispielsweise dazu führen, dass eine türkeistämmige Jugendliche anders als ihre kaum religiöse Mutter ein Kopftuch trägt und sich gleichzeitig – wiederum anders als ihre Mutter – geschminkt und modebewusst am Abend mit Gleichaltrigen trifft. Als eine deutlich problematischere Abgrenzung zu beiden Sphären kann die Entstehung von Jugendgruppen mit abweichendem Verhalten verstanden werden. Hier werden dann soziale Werte und Regeln beider Sphären derart vermischt und modifiziert, dass die Missgunst beider Sphären gewissermaßen zu einem programmatischen Erfolgsindikator der eigenen Authentizität wird (in Bezug auf Gangsta Rap vgl. Dietrich & Seeliger 2012; ähnlich auch El-Mafaalani & Toprak 2011).2 Zusammenfassend kann bei der vergleichenden Betrachtung von türkischen Jugendlichen in Deutschland und der Türkei festgehalten werden: Der Erfahrungsraum der Sphärendifferenz lässt sich als Migrationsspezifikum bezeichnen (nicht aber als Kultur1

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Bohnsack (2003) und Nohl (2001) weisen darauf hin, dass eine Orientierung von Jugendlichen an nur einer Sphäre kaum zu beobachten ist. Bei ihrer Typisierung des Umgangs mit der Sphärendifferenz wird vielmehr die Relation der Sphären für die Lebensvorstellungen, Handlungspraxis und Identitätsentwicklung der Jugendlichen systematisiert. In diesen Fällen bedeutet jede pädagogische Intervention zugleich ein Infragestellen dieser Authentizität, wodurch sich der Eindruck der Förderresistenz erklären lässt.


Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migrantenkindern 117 spezifikum).3 Entsprechend sind die Formen des Umgangs mit den daraus resultierenden Alltagsproblemen ebenfalls nur bei den in Deutschland lebenden Jugendlichen rekonstruierbar. An diesen Studien von Bohnsack (2003) und Nohl (2001) ansetzend wurden einheimische und türkeistämmige Akademiker/innen, die in Arbeiter- bzw. Gastarbeiterfamilien in Deutschland aufgewachsen sind, vergleichend untersucht (El-Mafaalani 2012). Die zentralen biografischen Problemstellungen, die sich hierbei gezeigt haben, sind in den Erwartungshaltungen der Eltern darstellbar: Während die Einheimischen geringe Loyalitätserwartungen gegenüber den Werten und Lebensvorstellungen der Familie sowie geringe Bildungsaspirationen aufweisen, sind beide Erwartungshaltungen bei den türkeistämmigen Eltern stark ausgeprägt. Die türkeistämmigen Bildungsaufsteiger/innen müssen also mit dem Widerspruch umgehen, dass von ihnen sowohl Erfolg in der äußeren Sphäre (Erfolg in Schule und Beruf) als auch ein Festhalten an den Traditionen und Lebensvorstellungen der inneren Sphäre (Loyalität) erwartet wird, während sie gleichzeitig diese beiden Sphären als kaum vereinbare Lebenswelten wahrnehmen. Demgegenüber müssen die Einheimischen mit vergleichsweise geringen Bildungsaspirationen in der Familie umgehen bzw. die Bildungsambitionen selbstständig erzeugen, haben zugleich aber nicht eine derart stark ausgeprägte Erwartung, dem Herkunftsmilieu treu zu bleiben, zu erfüllen. Man erkennt hieran, dass der soziale Aufstieg unabhängig von der ethnischen Herkunft mühsam ist: Die Aufsteigenden müssen in jedem Falle zentrale Selbstverständlichkeiten, die ihre Kindheit und Jugend prägten, negieren; sie müssen bereits in der Phase der Adoleszenz wahrnehmen, dass ihre Familien eine Reihe von Funktionen nicht erfüllen können, dass ihre Eltern selbst eher hilfsbedürftig sind und kaum unterstützen können. Der adoleszente Ablösungsprozess geht mit Konflikten einher und ist immer mit biografischen Krisen und Risiken verbunden. Insgesamt kann man sagen, dass der Prozess der Distanzierung vom Herkunftsmilieu ein zentraler Erfahrungsraum im Aufstiegsprozess ist, während sich die konkrete Form und Färbung des Distanzierungsobjekts zwischen einheimischen und türkeistämmigen Aufsteiger/innen deutlich unterscheidet (vgl. Tab. 1).4 3

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Aus dieser Perspektive lässt sich die Sphärendifferenz als migrationsspezifische Modifikation des traditionellen Ehrbegriffs (vgl. Schiffauer 1983) ableiten. Bestimmte Verhaltensweisen und Denkmuster entwickeln sich also erst in der Migrationssituation, wenn nämlich grundsätzlich divergierende Sozialitätsmodi vorliegen, für die keine institutionalisierten Kompatibilitätsangebote (z.B. in etablierten sozialen Milieus) während der Sozialisation vorliegen (ausführlich hierzu El-Mafaalani 2012). Vielleicht lässt sich aus dieser Herausforderung zur Synthetisierung beider Sphären, die sich zudem in einem kaum gesteuerten bzw. durch Hilfsangebote begleiteten Prozess entwickelte, herleiten, dass sich die Bestimmung von sozialen Migrantenmilieus deutlich komplexer gestaltet als dies bei einheimischen Milieus der Fall ist (vgl. hierzu Geiling, Gardemin, Meise & König 2011; Halm & Sauer 2011). Zumindest gibt es Hinweise darauf, dass die Varianz im Hinblick auf zentrale soziale Werte und Erziehungsideale in der türkeistämmigen Population größer ist als in der einheimischen Bevölkerung (vgl. Uslucan 2009). Auffällig ist dabei, dass sich türkeistämmige Bildungsaufsteiger/innen einen neuen Referenzrahmen schaffen, der zugleich – anders als in verhaltensauffälligen Jugendgruppen – ein Kompatibilitätspotenzial zu beiden Sphären offenhält. Diese komplexe Syntheseleistung wird mit den Begriffen „dritte Sphäre“ (Bohnsack 2003), „dritter Stuhl“ (Badawia 2002) oder „Habitus-


118 Aladin El-Mafaalani Die Differenzerfahrungen, die Bohnsack (2003) und Nohl (2001) bei allen Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund konturiert rekonstruieren konnten, lassen sich also auch bei sehr erfolgreichen türkeistämmigen Bildungsaufsteigern nachzeichnen. Diese Differenzerfahrungen finden bereits in der Kindheit ihre Vorläufer, wurden jedoch bisher noch nicht bei Kindern untersucht. Dass die Sphären von Jugendlichen als unüberbrückbar ferne Lebenswelten wahrgenommen werden, hängt wesentlich damit zusammen, dass die Sphären über die Kindheit hinweg tatsächlich getrennt bleiben und weder von den Eltern noch beispielsweise von pädagogischen Institutionen hilfreiche Überbrückungshilfen angeboten wurden. Im Folgenden werden die Notwendigkeit sowie das Fehlen von Überbrückungen anhand eines Fallbeispiels aus der Grundschule dargestellt und diskutiert. Dabei werden insbesondere die subtilen sozialen Zusammenhänge, in denen sich die kommunikativen Barrieren bei den Kindern manifestieren können, sowie die implizit wirksamen Normalitätsannahmen und Erwartungshaltungen in Familie und Schule thematisiert. Tab. 1: Aufstiegstypische Differenzen zwischen Einheimischen und Türkeistämmigen Einheimische Aufsteiger/innen

Türkeistämmige Aufsteiger/innen

Zentrale Differenzerfahrung

Unten-Oben-Differenz (Milieudifferenz)

Innen-Außen-Differenz (Sphärendifferenz)

Wahrnehmung des Aufstiegs

Ablösung von Unterschicht (also von der Unterschichtskultur)

Ablösung von der inneren Sphäre (also von Familie und ethnischer Community)

Erwartungen der Herkunftsfamilie

- geringe Bildungs- und Berufsaspirationen - geringe Loyalitätserwartungen

- hohe Bildungs- und Berufsaspirationen - hohe Loyalitätserwartungen

3. Fallanalyse Die Situation, die im Folgenden dargestellt und analysiert wird, wurde von einer Grundschullehrerin in einem Interview erzählt. Daraufhin wurde die erzählte Situation durch Schauspieler nachgestellt und mehreren türkeistämmigen Vätern gezeigt, um anschließend bei der Interpretation der Situation die verschiedenen Perspektiven von Lehrkraft und Eltern unmittelbar berücksichtigen zu können sowie indirekt die Rahmungen der Situation für das Kind auf einer Metaebene zu analysieren.5 3.1 Fallbeschreibung Ömer ist ein in Deutschland geborenes 7-jähriges Grundschulkind türkischer Herkunft und wächst in einem stark segregierten Stadtteil im Ruhrgebiet auf. Sein Vater gehört zur zweiten Generation der ehemaligen Gastarbeiter, seine Mutter hat ihre Kindheit in

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transformation“ (El-Mafaalani 2012) umschrieben. Erst durch eine gelingende Synthetisierung beider sozialer Sphären kann die Ressource Migration umfassend fruchtbar gemacht werden. Eine Reihe ähnlicher Fallbeschreibungen – allerdings nicht im Kontext der Grundschule – findet sich bei El-Mafaalani und Toprak (2010) sowie El-Mafaalani und Toprak (2011).


Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migrantenkindern 119 der Türkei verbracht. Beide Elternteile haben kaum Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem. Der Vater war selbst in einer so genannten „Ausländerklasse“6 untergebracht, hat entsprechend einen großen Teil seiner Schulzeit in rein türkischen Lerngruppen verbracht und beendete seine Schulzeit ohne Schulabschluss; die Mutter hat die Schulzeit vollständig in der Türkei erlebt. Ömer kann sich auf Türkisch und auf Deutsch verständigen, hat allerdings – nach Aussage der Lehrkraft – in Bezug auf die Sprachkompetenz im Vergleich zu seinen Mitschülern und Mitschülerinnen Rückstände.7 Die nun folgende Situation – die also als Stimulus für die Interviews mit den Vätern dient – ereignet sich, nachdem Ömer auf dem Schulgelände rot gefärbtes Wasser in einen Ballon füllt und dieser dann in der Turnhalle platzt. Auf dem Boden und an mehreren Kleidungstücken seiner Mitschüler sind rote Flecken. Da die Klassenlehrerin nicht gesehen hat, was passiert war, fragt sie in die Klasse, wer das gewesen sei. Erst nachdem sie mehrfach und nachdrücklich fragt, zeigt ein Mitschüler auf Ömer. Da die Lehrkraft an Ömers Gesichtsausdruck erkennt, dass ihm klar zu sein scheint, dass sein Handeln nicht in Ordnung war, lässt sie ihn zunächst gemeinsam mit einigen Mitschülern die Flecken säubern, um kurze Zeit später unter vier Augen mit Ömer zu sprechen. Die folgende Nacherzählung dieses Gesprächs wird von der Lehrerin auf die Bitte hin, die Situation und den Dialog so genau wie möglich zu beschreiben, formuliert: L: „Ich habe mich so hingesetzt und Ömer hat ungefähr in der Entfernung vor mir gestanden. Er guckte schon etwas traurig. Ich habe ihn gefragt, wie ich das immer mache: „Ömer, erzähl mal, was ist passiert?“. Ganz ruhig ne. Und er hat nichts gesagt. Er guckt auf den Boden und antwortet nicht. Dann wollte ich wissen, woher er die Farbe hat. Ich meine, das ist nicht in Ordnung so, zwei Schüler haben Flecken gehabt auf den Anziehsachen. Und er antwortete immer noch nicht. Der hat halt so genervt gewirkt. Und dann bin ich schon, schon etwas – ich sag mal sauer – geworden. Ich meine das bringt so ja nichts.“ I: „Was haben Sie dann gesagt? Wie ging’s weiter?“ L: „Ja, dass er mich anschauen soll und mit mir reden soll. Dann hat er mich – glaub ich – kurz angeguckt, ganz kurz und dann hat wieder auf den Boden geguckt. So mit schräg gesenktem Kopf. So als ob er das jetzt ertragen muss, als ob er wartet, dass es endlich fertig ist. Irgendwann war meine Geduld am Ende. Ich mein, das war’n anstrengender Tag und so kommt man nicht weiter, wenn er nicht redet.“ 6

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In Ausländerklassen wurden die Kinder der Gastarbeiterfamilien untergebracht, d.h., dass hier eine gezielte Selektion nach „Muttersprache“ stattgefunden hat. Allerdings war in den 1950ern bis in die 1970er die konkrete Ausprägung sehr unterschiedlich: Teilweise wurde der Unterricht in türkischer Sprache und nach türkischem Lehrplan durchgeführt, häufig wurde türkische Länder- und Sozialkunde unterrichtet, nicht selten wurde das Motiv für diese – aus heutiger Sicht – irrationale Vorgehensweise relativ deutlich formuliert: Es sollte gewährleistet bleiben, dass die türkischen Kinder eine türkische Identität bewahren, damit die Überführung in das Herkunftsland problemlos vonstattengehen kann. An den Problemen von heute erkennt man die damalige Intention (vgl. hierzu auch El-Mafaalani & Toprak 2011). Diese Bewertung der Sprachkompetenz wurde von der Lehrerin im Hinblick auf die deutsche Sprache ausgesprochen. Inwieweit dies auch auf die Türkischkenntnisse zutrifft, konnte nicht nachvollzogen werden.


120 Aladin El-Mafaalani I: „Was haben Sie dann getan?“ L: „Ich habe gesagt: „Entweder du redest jetzt mit mir oder ich muss mit deinen Eltern reden“. Ich meine, ich war halt sauer. Das war ja alles eigentlich nicht so schlimm. Aber er guckte immer noch gelangweilt, dachte ich zumindest. Aber irgendwie ist es schlecht gelaufen.“ I: „Und wie ist es weitergegangen?“ L: „Er hat angefangen zu weinen und gesagt, dass er das nicht wollte, dass der Ballon platzt. Er wollte nur spielen. Er hat richtig geweint. Ich musste ihn erstmal beruhigen. So wollte ich das ja nicht. Das ist ganz verkehrt gelaufen. […] Naja, dann haben wir abgemacht, dass so etwas nicht wieder passieren darf. […] Aber gestern hat es schon wieder Probleme gegeben.“ 3.2 Mehrperspektivische Fallanalyse An dieser unscheinbaren Situation lassen sich Irritationen bzw. Missverständnisse in pädagogischen Kontexten exemplarisch aufzeigen. Im Folgenden wird die Situation aus den Perspektiven der Lehrerin und der Eltern rekonstruiert, um über diesen Umweg einen Zugang zu der Perspektive des Kindes bzw. dessen Handlungsrahmen offen zu legen.8 Die Perspektive der Pädagogin (stellvertretend für die äußere Sphäre) Es ist wohl kaum möglich, der Lehrerin zu unterstellen, sie hätte unprofessionell gehandelt: Sie hat das Gespräch gesucht, sie hat dies nicht vor der gesamten Klasse getan, sie hat sich hingesetzt, sich dem Kind zugewandt, das Gespräch ruhig begonnen und eine offene Frage gestellt. Dennoch empfand sie den Gesprächsverlauf als nicht zufriedenstellend, insbesondere auch deshalb, weil sich das Fehlverhalten kurze Zeit später wiederholte. Aus der Perspektive der Lehrkraft war das Verhalten von Ömer irritierend, denn ansonsten sei er ein sehr lebhafter und selbstbewusster Junge. Daher ist sie bei der Deutung seines Verhaltens unsicher: War es ein Ausdruck von Desinteresse, Verweigerung oder Respektlosigkeit, dass er sie nicht angeschaut und ihr nicht geantwortet hat? Nimmt er sie u.U. als weibliche Autoritätsperson nicht ernst oder hat sie sich inadäquat verhalten? Durch diese Unsicherheit wird sie im Laufe des Gesprächs ungeduldig, immer entschiedener und zuletzt weiß sie sich nicht anders zu helfen, als dem Jungen mit der Autorität der Eltern zu drohen. Weil sie nicht beabsichtigte, Ömer zum Weinen zu bringen, tröstet sie ihn anschließend. Mit dem unbestimmbaren Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben bzw. den Jungen nicht richtig eingeschätzt zu haben, fährt sie nach Hause. Sie denkt darüber nach, ein Gespräch mit Ömers Eltern zu führen, um einen besseren Einblick in die 8

Dieser Umweg erscheint insbesondere deshalb notwendig, weil die Möglichkeiten Kinder im entsprechenden Alter zu interviewen sowie die Artikulationsfähigkeit bei Kindern deutlich eingeschränkter erscheint als dies bspw. bei Jugendlichen der Fall ist. Dass es dennoch möglich, aber enorm aufwändig ist, einen Forschungszugang zu Kindern zu erlangen zeigt bspw. Jünger (2010). Das hier gewählte Vorgehen erweist sich jedoch ebenfalls als problematisch. (Die Schwierigkeit der Triangulation als Erkenntnisstrategie kann in diesem Rahmen nicht angemessen diskutiert werden).


Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migrantenkindern 121 familiäre Situation zu bekommen und mögliche Probleme zu klären. Die Unbestimmtheit der Situation veranlasst sie also, zunächst ein Problem in der Familie zu vermuten. Die Perspektive der Eltern (stellvertretend für die innere Sphäre) Bisher wurde elf türkeistämmigen Vätern, die benachteiligende Merkmale aufweisen (Bildungsferne, Wohnort in einem segregrierten Stadtteil), die Videoaufzeichnung, in der die Situation von Schauspielern nachgestellt ist, gezeigt, um herauszufinden, wie sie die Situation interpretieren. Um mögliche (Selbst-)Ethnisierungen zu vermeiden und Erziehungsverhalten und -muster fokussieren zu können, wurde ein deutschstämmiges Kind für die Aufzeichnung gewählt. Im Folgenden wird die Reaktion eines türkeistämmigen Vaters exemplarisch dargestellt.9 Der Vater schaut sich das Video interessiert und ruhig an. Mehrmals nickt er und bestätigt damit die Angemessenheit des pädagogischen Handelns. Erst am Ende schüttelt er mit dem Kopf. I: „Was haben Sie da gesehen?“ V: „Das ist nicht richtig. So ist das kein Wunder, dass unsere Jungen Probleme in der Schule haben. Wir sagen unseren Jungen: ‚Sei respektvoll zu den Lehrern’. Egal ob Mann oder Frau, das is egal. Aber dort, ich weiß nicht, die dort kennen Respekt nicht […]. Er soll nicht weinen und sie soll ihn nicht trösten auch noch. Was soll das? […] Warum gibt es keine Bestrafung?“ I: „Was meinen Sie mit Respekt?“ V: „Der Junge hat Scheiße gemacht. Und guck da, der weiß auch. Warum will sie wissen, was los ist. Jungen machen das, is normal. Sie tut als ob nicht normal, aber das ist ganz normal. Sie soll ihn Strafe geben, fertig. Nicht reden, dann versteht er nicht. Und auch nicht Umarmung auch noch, wenn er Scheiße macht.“ Zunächst fällt das Wir-Die-Denken auf. Was erst im Laufe des Gesprächs klar wird: Der Vater meint mit „Wir“ nicht seine Familie oder Eltern, sondern türkeistämmige Eltern im Allgemeinen. Obwohl das Kind in der nachgespielten Szene weder sprachliche noch optische Merkmale aufweist, die auf einen türkischen Jungen hindeuten, wird vom Vater die Situation unmittelbar in den „eigenen“ Kontext übertragen. Er scheint sich häufiger mit anderen Eltern über diese Thematik unterhalten zu haben und erkennt hier ein allgemeines Problem. (Der mögliche Einwand, nämlich dass dieses Setting in den Interviews u.U. zu einer Übergeneralisierung verführt, wird hier nicht nur in Kauf genommen, sondern ist explizit erwünscht.) Der Vater empfindet das Fehlverhalten des Jungen ausdrücklich als inakzeptabel – in der Sache selbst gibt es also zunächst keine unterschiedliche Problemwahrnehmung. Jedoch unterscheidet sich das erzieherische Vorgehen des Vaters fundamental von jenem der Pädagogin. Er würde den Jungen verbal und mit entschiedenem Ton zurechtweisen. Dabei wäre jede Antwort des Jungen als Aufmüpfigkeit zu interpretieren und würde 9

Die Auswahl dieses Interviews wurde insbesondere aufgrund der klaren Aussagen und der guten sprachlichen Kompetenzen des Vaters getroffen. Die anderen Interviewten mit homologen Denkmustern hatten größere Schwierigkeiten sich sprachlich auszudrücken, wodurch der Interviewtext (insbesondere in Form von Auszügen) schwerer zugänglich wird.


122 Aladin El-Mafaalani entschieden bestraft. Der Vater möchte gar nicht wissen, wie dieses Fehlverhalten zustande kam und warum der Junge etwas Verbotenes tut. Selbst dann, wenn der Vater Fragen stellt, erwartet er häufig keine Antwort.10 Aus seiner Perspektive handeln Kinder häufig unüberlegt, was unterbunden und je nach Schweregrad geahndet werden müsse. Dabei ist es ihm wichtig, dass der Junge nicht weint, also nicht emotional reagiert, sondern die Autorität der erziehenden Person uneingeschränkt anerkennt und sich unterordnet. Ebenso missfällt dem Vater, dass die Lehrerin die Eltern als Drohkulisse instrumentalisiert, obwohl der Junge die Autorität der Lehrerin gar nicht anzweifle. Diese Unsicherheit der Pädagogin wird vom Vater als Inkompetenz gedeutet. Genauso verhält es sich mit einer eventuellen Einladung der Eltern durch die Lehrkraft: I: „Was würden Sie sagen, wenn Sie eine Einladung von der Lehrerin bekommen, um über das Verhalten des Kindes zu sprechen?“ V: „Warum sollen wir kommen? Sie kann nicht so mit dem Kind so umgehen. Das ist keine Erziehung. Das Problem hat sie gemacht. Jungen machen immer so ein Quatsch. Sie muss klarkommen damit. Warum schicke ich Kinder in Schule, wenn dann auch dort die Erziehung ich machen muss?“ Während der Vater also das Fehlverhalten des Jungen genauso missbilligt, wie dies auch die Pädagogin tat, scheint ein fundamentaler Unterschied darin zu liegen, wie das Fehlverhalten erklärt wird und entsprechend auch wie damit umgegangen wird. In der wissenschaftlichen Literatur ist dieser Erziehungsstil türkeistämmiger Familien häufig beschrieben worden (vgl. z.B. Alamdar-Niemann 1992; Merkens 1997; Toprak 2012). Aus diesen drei Studien lässt sich erkennen, dass sich zum einen ganz unterschiedliche Erziehungsstile in türkeistämmigen Familien feststellen lassen, aber zum anderen auch, dass es einen Typus gibt, der dem Erziehungsstil des Vaters entspricht: Die Bezeichnungen „religiös-autoritär“ (Alamdar-Niemann), „autoritär“ (Merkens) und „konservativ-autoritär“ (Toprak) benennen das Erziehungsverhalten auf analoge Weise und unterscheiden sich lediglich im Hinblick auf die Bedeutung der Religion für die Erziehung.11 In diesen drei Typisierungen wird davon ausgegangen, dass sich die Eltern, die eine autoritäre bzw. konservative Erziehung verfolgen, besonders dann erzürnen, wenn das Kind widerspricht. Das Abweichen von elterlichen Anordnungen wird nicht geduldet. Gegenüber Forderungen des Kindes bleiben die Eltern grundsätzlich hart. Demnach ist ein Kind noch nicht zur Einsicht fähig (weshalb auch ein genervter Blick des Kindes bei der Zurechtweisung geduldet wird). Ein Fehlverhalten wird scharf angemahnt und nicht ergründet. Erst ein aufmüpfiges Verhalten, das bereits durch ein Antworten während der Zurechtweisung als solches identifiziert werden kann, führt zu einer harten Bestrafung. Respekt, Gehorsam und Loyalität sind in diesen Familien zentrale Werte. Die Bestrafung 10

11

Bspw.: Was soll das? Bist du verrückt? Willst du mich provozieren? Hierbei handelt es sich um rhetorische Fragen, auf die nicht geantwortet werden soll. Für den vorliegenden Sachverhalt ist die Bedeutung der Religion irrelevant. Insgesamt wird in den genannten Studien das Verhältnis von traditioneller und religiöser Erziehung kontrovers diskutiert.


Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migrantenkindern 123 von Kindern dient den Eltern also zum einen zur Verhaltenskorrektur, zum anderen aber auch zur (Wieder-)Herstellung der Loyalität den Eltern und Erwachsenen gegenüber. Entsprechend handelt es sich hier – im Vergleich mit der schulischen Logik – um ein grundsätzlich divergierendes Bild von kindlicher Entwicklung. Das folgende Zitat von Kagitcibasi und Sunar (1997) verdeutlicht, dass die dargestellten Typen türkeistämmiger Eltern in Deutschland durchaus mit den Erziehungszielen konservativer Eltern in der Türkei korrespondieren bzw. sich von diesen herleiten lassen können: „Eine von den Eltern getroffene Entscheidung darf nicht angezweifelt werden. ‚Widersprechen‘ wird als höchst aufsässiges Verhalten betrachtet. (…) Die Sozialisationspraktiken, die das ehrerbietige, loyale, gehorsame Familienmitglied hervorbringen, bauen auf die Aufrechthaltung externer Kontrolle über die Person. Das Kind wird ermuntert und aufgefordert, seinen Eltern zu gehorchen. Und auch die anderen erwachsenen Verwandten und Mitglieder der Gemeinschaft erwarten Respekt und Folgsamkeit. Diese an das Kind gestellten, immer präsenten Anforderungen, stellen zusammen mit der vom heranwachsenden Nachwuchs erwarteten Loyalität und Unterstützung der Familie, eine schwer auf den Kindern lastende Bürde dar“ (Kagitcibasi & Sunar 1997, 157). Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass für den Vater nicht der Beginn des Gesprächs zwischen Lehrerin und Kind (also das Schweigen und der gesenkte Blick), sondern erst das Ende ein Problem darstellt. Aus seiner Sichtweise ist das Handeln der Pädagogin nicht zielführend. Durch den Verlauf des Gesprächs fühlt sich der Vater darin weiter bestärkt. Aus den Aussagen des Vaters kann ferner auf eine weitere typische Denkweise geschlossen werden: Türkeistämmige Eltern treten häufig die Bildungs- und Erziehungsverantwortung vollständig an die Schule ab, obwohl die Erwartungen an den Bildungserfolg der Kinder relativ groß sind. Das liegt u.a. an dem großen Handlungsspielraum des Lehrers in Bezug auf die Disziplinierung der Schüler in muslimischen Gesellschaften. Schulen im Orient übernehmen die Erziehungsverantwortung für die Kinder während der Schulzeit praktisch vollständig (vgl. bereits Leenen, Rainer & Kreidt 1990; ausführlich auch El-Mafaalani 2012). D.h., dass in der Schule auftretende Probleme innerhalb der Schule gelöst werden, ohne dass die Eltern zu Rate gezogen werden. Die Funktion der „deutschen“ Schule wird offenbar nicht angemessen eingeschätzt, was als plausible Erklärung dafür gilt, dass türkeistämmige Kinder trotz hoher Bildungsaspirationen der Eltern im Bildungssystem relativ schlechte Ergebnisse erzielen (vgl. Bittlingmayer & Bauer 2007). Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, dass der Vater die Einladung zu einem Gespräch bezüglich der Erziehung des Kindes als pädagogische Inkompetenz deutet.12 12

An dieser Stelle sei eine kurzer Exkurs erlaubt: In vielfacher Weise wurde „das vietnamesische Wunder“ gelobt und als positives Beispiel dem deutlich geringeren Bildungserfolg türkeistämmiger Kinder gegenübergestellt. Wenn man – etwas provozierend – die unterschiedlichen Logiken vietnamesischer und türkeistämmiger Eltern gegenüberstellt, kann auch folgende These formuliert werden: Während die Vietnamesen aus ihren mitgebrachten Erfahrungen in ihrem Herkunftsland den Lehrern und der Schule in hohem Maße misstrauen, insbesondere wenn es um eine optimale Forderung und Förderung des eigenen Nachwuchses geht, ist das Vertrauen – wiederum auf der Grundlage mitgebrachter Erfahrungen aus dem Herkunftsland – in die Lehrkräfte und die Schule insgesamt bei den türkeistämmigen Eltern enorm groß. Aus


124 Aladin El-Mafaalani Die Metaperspektive des Kindes Was der Pädagogin in der Situation also nicht klar wurde: Ömer verhält sich ihr gegenüber anscheinend nach den Regeln der innerfamiliären Kommunikation in konservativen Familien. Das Verhalten, das seine Lehrerin als Desinteresse oder gar Respektlosigkeit deutet, scheint vielmehr ein Ausdruck von Demut und Gehorsam zu sein. Sein Verhalten hat den Charakter einer ansozialisierten inneren Norm: Während einer Zurechtweisung scheint er Hemmungen zu haben, einer Autoritätsperson in die Augen zu schauen und ihre Fragen zu erwidern. Ein Angucken auf Augenhöhe kann dann später auch unter Jugendlichen als Provokation – als „Anmache“ – interpretiert werden (vgl. Tertilt 1996).13 Direkter Blick- bzw. Augenkontakt ist in orientalischen Kulturen traditionell nur zwischen Statusgleichen üblich (vgl. Broszinsky-Schwabe 2011). Er schweigt – ein Verhalten, das er gelernt hat. Jedoch wird sein respektvolles, einer gelernten Regel folgendes Verhalten nicht als solches (an-)erkannt. Im Laufe des Gesprächs zeigt sich: Ömer ist irritiert. Das Verhalten der Pädagogin weicht deutlich von jenem seiner Eltern ab. Zudem ist die Situation für ihn kaum durchsichtig: Zu häufig wechselt die Lehrkraft den Gesprächsmodus (erst offen und freundlich, dann ernst und bedrohlich, zuletzt dann wieder einfühlsam und aufmunternd). Ein solches situatives erzieherisches Handeln wird in konservativen Familien kaum praktiziert. Ömer fehlt in solchen Situationen Orientierung und Berechenbarkeit. Die großen Distanzen, die zwischen einer Orientierung an Einsicht und Selbstständigkeit in der Schule und der Orientierung an Autorität und Loyalität in der Familie bestehen, können dauerhaft zu Stress führen (können aber auch durchaus Entwicklung befördern, vgl. El-Mafaalani 2012). Er erlebt verschiedene Regelwerke und Anerkennungsmodi in Schule und Familie, ohne dass ihm dies klar zu werden scheint.14 Diese Unterschiede – insbesondere im Hinblick auf Erziehungsziele und Erziehungsstile – zwischen Familie und Schule kennzeichnen hier bereits die unterschiedlichen Logiken der inneren und äußeren Sphäre. 3.3 Reflexionen Dauerhafte Diskrepanzen zwischen sich widersprechenden Anerkennungsmodi können aus der Perspektive von Kindern durchaus zu einem Problem werden, insbesondere dann, wenn es nicht gelingt, beiden Erwartungsstrukturen, Anerkennungsmodi bzw. Erziehungslogiken gerecht zu werden (vgl. Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau & GrohSamberg 2008). Problematisch wird es in besonderer Weise dann, wenn Anerkennung in

13 14

dieser Perspektive könnte geschlussfolgert werden, dass ein großes Misstrauen in Bildungspolitik und pädagogische Arbeit den Bildungserfolg eher befördert als ein starkes Vertrauen. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn man betrachtet, dass der Bildungserfolg türkeistämmiger Kinder bspw. in Frankreich oder Schweden exponentiell höher ist als in Deutschland (vgl. TIES Studie; Wilmes u.a. 2011). Der häufig parodierte Spruch „Was guckst du?!“ lässt sich hieraus herleiten. Genau diesen Zusammenhang konstatieren auch Bohnsack (2003) und Nohl (2001). Allerdings vermuten die Autoren, dass diese Dissonanzen zwischen der inneren und der äußeren Sphäre erst in der Adoleszenz zu einem Problem werden. Hier kann jedoch durchaus vermutet werden, dass diese bereits vorher (zumindest implizit) wirksam sind.


Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migrantenkindern 125 der Schule ausbleibt und damit das Wertesystem der Schule tendenziell weniger attraktiv wird. Dies gilt für sozial benachteiligte Jungen mit türkischem Migrationshintergrund in besonderem Maße. Denn in konservativen türkeistämmigen Familien dürfen Jungen toben und aggressives Verhalten zeigen, ohne permanent auf Missgunst zu stoßen (vgl. Pfluger-Schindlbeck 1989).15 Zudem sind sie mit den Regeln der Eltern, des näheren häuslichen Umfelds und der ethnischen Community besser vertraut als mit den impliziten Regeln in pädagogischen Institutionen. Die Werte, die in der Schule gelebt werden, können für die Kinder aus konservativen Migrantenfamilien zu einer enormen Herausforderung werden. Die individualisierte Lebensführung, auf die die Schule vorbereiten soll, basiert auf individueller Anerkennung als moderne Form der Integration. Bleiben diese Erfahrungen aus, besteht die Gefahr des Rückzugs in das Herkunftsmilieu bzw. die ethnische Community (vgl. Grundmann u.a. 2008; King 2009). „Desintegration zeigt sich deshalb gerade in einem Anerkennungsvakuum […]. Bleibt Anerkennung aus, kann leicht eine Entwicklung eintreten, die traditionelle Form der Integration durch Bindung wiederzubeleben“ (Heitmeyer, Collmann & Conrads 1998, 59). Da Ömer bereits Leistungsdefizite, insbesondere im sprachlichen Bereich, attestiert werden, besteht durch solche irritierende Zustände, die keine Antizipierbarkeit sozialer Situationen ermöglichen, durchaus das Risiko für Schuldistanzierung. Als Risikofaktoren für Schulmüdigkeit und Schuldistanzierung zählen u.a. Dissonanzen zwischen schulischer und außerschulischer Lebenswelt und ambivalente Haltungen der Eltern gegenüber der Schule (vgl. Thimm 2000). Die Häufung schulischer Kontexte, in denen die Antizipation von Erwartungen und von Folgen des eigenen Handelns nicht gelingt und entsprechend Anerkennung und Erfolg ausbleiben, begünstigt eine Haltung, in der die schulischen Logiken als etwas Fremdes wahrgenommen werden. Wenn sich dann im Laufe der Jugendphase zusätzlich die Haltung etabliert, dass die Lebenspraktiken und Denkmuster der Eltern nicht zeitgemäß sind, setzt eine aktive Suche nach (neuer) Zugehörigkeit ein (vgl. Bohnsack 2003; Nohl 2001). Diese Suchbewegungen jenseits schulischer und familiärer Einflussnahme können insbesondere in segregierten städtischen Räumen zu verheerenden Folgen führen.

4. Fazit Bezogen auf den konkreten Fall kann man sich fragen, wie die beteiligten Personen reagieren, wenn sich Ömer wieder „ungeschickt“ anstellt. Wie wird Ömer auf die dauerhaften Irritationen zweier Erziehungslogiken reagieren, die nebeneinander stehen und sich teilweise widersprechen? Wie wird die Lehrerin mit einer erneuten Frustration umgehen? Und welche Haltung gegenüber der Schule und der Lehrkraft entwickeln die 15

Die geschlechtsspezifische Erziehung spielt in konservativen türkeistämmigen Familien eine herausragende Rolle: Während Jungen zu körperbetontem, aktivem Verhalten motiviert werden, wird von Mädchen Schamhaftigkeit und Zurückhaltung erwartet (vgl. El-Mafaalani & Toprak 2011). Dadurch können dann auch unterschiedliche Problemstellungen in der Schule auftreten. Durch die Distanz zwischen den traditionellen Männlichkeitsbildern und den in der Schule erwarteten Verhaltensweisen werden Jungen vor besondere Herausforderungen gestellt (zur allgemeinen Problematik von Jungen in der Schule vgl. Helbig 2012).


126 Aladin El-Mafaalani Eltern, wenn sie erneut zu Rate gezogen werden bzw. wenn sie das Gefühl haben, das Fehlverhalten würde auf innerfamiliäre Probleme zurückgeführt? Zunächst muss deutlich betont werden, dass es sich bei der Fallstudie zum einen um die Analyse einer spezifischen Situation handelt und zum anderen wurden insgesamt Sonderfälle untersucht: Die befragten Väter weisen ein niedriges Bildungsniveau auf und leben in einem stark benachteiligten Stadtteil. Dabei weisen fünf der Interviewten ein konservatives Erziehungsverständnis nach dem oben beschriebenen Muster auf. Auf dieser Grundlage können keine quantitativen Aussagen getroffen werden und schon gar keine Generalisierung auf der Grundlage von Repräsentativität. Es geht also nicht darum, Aussagen über objektive Verhältnisse zu machen, sondern vielmehr darum, bekannte und belegte Problemstellungen aus der Erlebensperspektive der Akteure exemplarisch aufzuzeigen, insbesondere die Deutungen einer Situation aus den Perspektiven von Lehrkraft und Eltern, die den Rahmen bilden, in dem das Verhalten des Kindes nachvollzogen werden kann. Interessant erscheint bei der Gesamtbetrachtung, dass sich einerseits bei Weitem nicht alle Familien dem hier skizzierten traditionellen Typus zuordnen lassen (vgl. hierzu auch Uslucan 2009), aber andererseits der Befund der Sphärendifferenz (insbesondere zwischen Familie und Schule) in mehreren Studien nachgewiesen wurde und durchaus generalisierbar erscheint. Daraus lässt sich unmittelbar schlussfolgern, dass sich hieraus keine Rezepte für pädagogische (Gegen-)Maßnahmen ableiten lassen. Um Widersprüche und Irritationen – wie sie hier beschrieben wurden – zu vermeiden, müssten sie zunächst als solche erkannt und transparent bearbeitet werden. Hierfür erscheinen drei Aspekte zentral: (1) Diversität und Ungleichheit müssen in der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte sowie der sozialpädagogischen Fachkräfte eine größere Rolle spielen; damit geht (2) einher, dass (u.U. sehr voraussetzungsreiche) Normalitätsannahmen auf den Ebenen der Organisation und der Interaktion erkannt und reflektiert werden; daraus lässt sich (3) ableiten, dass interdisziplinäre (Erziehungs-) Konzepte (u.a. in Bezug auf den Unterricht, die Schulsozialarbeit und das Ganztagsprogramm) notwendig sind. Insgesamt kann es also keineswegs darum gehen, sich der familiären Erziehung anzunähern, sondern – ganz im Gegenteil – die Kinder dazu zu befähigen, die schulischen Herausforderungen zu bewältigen, indem der Anteil dessen, was implizit vorausgesetzt wird, so klein wie möglich gehalten wird. Das bezieht sich nicht allein auf die Entwicklung von Sprachkompetenz, sondern auch auf erzieherische Fragen im Allgemeinen. Die Eltern in solche Konzepte mit einzubeziehen, kann durchaus gewinnbringend sein. Von den Eltern zu erwarten, sich grundlegend zu ändern, erscheint hingegen kaum erfolgversprechend. Sie können sich nur sehr schwer von ihren Werten und Traditionen distanzieren. Im Gegenteil: Häufig geben sie den schulischen Verhältnissen die Schuld für das Scheitern der eigenen Kinder. Dadurch werden die eigenen Denkmuster und Erziehungsziele u.U. verstärkt, was für folgende Generationen das Spannungsverhältnis zwischen Familie und Schule weiter konserviert.


Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migrantenkindern 127

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Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani, Politikwissenschaft, Fachhochschule Münster, Projektleiter am ISF RUHR in Dortmund; E-Mail: mafaalani@fh-muenster.de


Zeitschrift für Grundschulforschung Bildung im Elementar- und Primarbereich 1-2013 Aus dem Inhalt Inklusion pädagogik – Inklusion aus internationaler Perspektive – ein Forschungsüberblick – Integration von Schülern mit sonderpädagogischen Förderbedarf

in der Grundschule – zur Situation in den 16 Bundesländern

– Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung in einem inklusiven Setting in den ersten beiden Schuljahren – Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderung im gemeinsamen Unterricht – Inklusive Förderung auf Basis kindlicher Interessen Diskussion – Italiens inklusive Schulen – ein Vorbild für Deutschland? Offene Beiträge – Wer profitiert beim jahrgangsgemischten Lernen?

Zeitschrift für Grundschulforschung

– Empirische Zugänge zu Inklusion in der Früh- und Grundschul-

ZfG

Zeitschrift für Grundschulforschung Bildung im Elementarund Primarbereich 1-2013

kindern – Welche Unterrichtsfaktoren fördern die Schulzufriedenheit Lernender? – Domänenspezifische Motivation und Mathematikleistungen in der

Grundschule vor dem Hintergrund kultureller und sprachlicher Diversität

– Exemplarisches Lehren und Lernen durch das Arbeiten mit Beispielen

Themenschwerpunkt ZfG 2-2013 Umweltbildung

ISSN 1865-3553

Zeitschrift für Grundschulforschung Bildung im Elementar- und Primarbereich

ZfG 1-2013

– Erziehungs- und Erwartungsdifferenzen im Alltag von Migranten-

Thema Inklusion


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