turi2 edition #22, Screens – Wie Bildschirme unsere Welt verändern

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Screen

Wie Bildschirme unsere Welt verändern

Danke!

Wir danken unseren Partnern für ihre Unterstützung unserer publizistischen Arbeit

Absatzwirtschaft

Axel Springer

BDZV

Bertelsmann

Bosch

Daimler Truck

Deutsche Post DHL Group

Deutsche Telekom

dfv Mediengruppe

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Funke Mediengruppe

GIK

Handelsblatt Media Group

Hubert Burda Media

Landesmesse Stuttgart

McDonald’s

Media-Saturn

journalist

media control

Medien.Bayern

Motor Presse Stuttgart

Olympia-Verlag

Republic

Sappi

Schleunung

Score Media Group

Wall GmbH

Wort & Bilderlag

Zeitverlag

Die Buchreihe

Die turi2 edition ist das Clubmagazin der 10.000 wichtigsten Kommunikationsprofis aus Medien, Wirtschaft und Politik in Deutschland. Sie bekommen es als Printausgabe zugeschickt, auf Wunsch als E-Paper. Die turi2 edition liefert Inspiration und Entschleunigung und baut der Community eine Bühne.Sie bietet monothematische Tiefe, außergewöhnliche Optik und zupackende Texte. Sie ist eng mit dem digitalen Angebot auf turi2.de verknüpft. 2016 wurde die turi2 edition mit dem Bayerischen Printmedienpreis ausgezeichnet

Die Macherinnen*

Peter Turi war bei der ersten Mondlandung 1969 als Augenzeuge dabei, vorm flimmernden Schwarz-Weiß-TV mit schemenhaften Bildern.

Heike Turi hat ein Guilty Pleasure: Bingen auf dem Smartphone.

Johanna Trantow spielte vor 22 Jahren nächtelang Counter Strike und befreite Geiseln aus den Fängen von Terroristen.

Anne-Nikolin Hagemann wollte nach ihrem ersten Kinobesuch 1996 einen Dalmatiner – oder lieber 101.

Elisabeth Neuhaus feiert die Rückkehr des Klapphandys.

Markus Trantow sieht Bewegtbild fast nur noch auf dem iPad – egal ob Netflix oder Live-TV.

Nancy Riegel wünscht sich den winzigen Bildschirm ihres rosafarbenen Tamagotchis zurück.

Tim Gieselmann fährt jedes Jahr nach Italien, um alte Filme auf der großen Leinwand zu sehen.

Johannes Arlt mag Bildschirme mit Holzrahmen, Glasscheibe und nur einem Bild.

Uwe C. Beyer sucht ständig seinen Regenschirm.

*Männer sind mitgemeint

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Axel Springer

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Die Buchreihe

Die turi2 edition ist das Clubmagazin der 10.000 wichtigsten Kommunikationsprofis aus Medien, Wirtschaft und Politik in Deutschland. Sie bekommen es als Printausgabe zugeschickt, auf Wunsch als E-Paper. Die turi2 edition liefert Inspiration und Entschleunigung und baut der Community

eine Bühne.Sie bietet monothematische Tiefe, außergewöhnliche Optik und zupackende Texte. Sie ist eng mit dem digitalen Angebot auf turi2.de verknüpft. 2016 wurde die turi2 edition mit dem Bayerischen Printmedienpreis ausgezeichnet

Die Macherinnen*

Peter Turi war bei der ersten Mondlandung 1969 als Augenzeuge dabei, vorm flimmernden Schwarz-Weiß-TV mit schemenhaften Bildern.

Heike Turi hat ein Guilty Pleasure: Bingen auf dem Smartphone.

Johanna Trantow spielte vor 22 Jahren nächtelang Counter Strike und befreite Geiseln aus den Fängen von Terroristen.

Anne-Nikolin Hagemann wollte nach ihrem ersten Kinobesuch 1996 einen Dalmatiner – oder lieber 101.

Elisabeth Neuhaus feiert die Rückkehr des Klapphandys.

Markus Trantow sieht Bewegtbild fast nur noch auf dem iPad – egal ob Netflix oder Live-TV.

Nancy Riegel wünscht sich den winzigen Bildschirm ihres rosafarbenen Tamagotchis zurück.

Tim Gieselmann fährt jedes Jahr nach Italien, um alte Filme auf der großen Leinwand zu sehen.

Johannes Arlt mag Bildschirme mit Holzrahmen, Glasscheibe und nur einem Bild.

Uwe C. Beyer sucht ständig seinen Regenschirm.

*Männer sind mitgemeint

Sehr viel.
MAGENTA TV. Verbindet alle deine Fernsehwelten. Fernsehen, Serien und Filme in der Megathek sowie Streaming-Partner

Entertainment passt auf deinen Screen?

»Wahrscheinlich entsteht am Bildschirm eine andere Art von Denken als in einer Bibliothek. Sie kann aber genauso komplex sein, und sie kann Kreativität schulen und die Fähigkeit zu Teamarbeit«

Inspiration für Kommunikationsprofis aus Medien, Wirtschaft und Politik

Verlag

turi2 GmbH

Alwinenstraße 23a, 65189 Wiesbaden 0611/3609 5480, edition@turi2.de turi2.de/edition

Herausgegeben von Heike und Peter Turi

Chefredaktion

Anne-Nikolin Hagemann, Elisabeth Neuhaus, Markus Trantow

Redaktion

Tim Gieselmann, Nancy Riegel

Lektorat

Nancy Riegel

Gestaltung

Uwe C. Beyer

Fotochef

Johannes Arlt

Fotos und Videos

Johannes Arlt, Selina Pfrüner, Holger Talinski

Redaktion und Online-Content

Björn Czieslik, Eva Casper, Daniel Sallhoff

Video- und Audioschnitt

Uwe Mühtz, Thomas Röcker

Verlagsleitung

Johanna Trantow

Verlag

Fabia Goetze, Janne Volz, Alba Meier

Mediadaten turi2.de/werben-bei-turi2

Abonnements turi2.de/abo

Druck

Schleunung, Marktheidenfeld, schleunung.com

Lithografie freihafen studios, freihafen.de

Die News aus Medien, Wirtschaft und Politik kostenlos ins Postfach: turi2.de/newsletter

Mehr als 1.100 Promis: turi2.de/koepfe

Der Stellenmarkt der Kommunikation: turi2.de/jobs

Die kommenden editionen: www.turi2.de/edition

Ausgabe 22, 2023, 20,- Euro

ISBN 978-3-949673-07-8 · ISSN 2366-2131

Liebes Publikum!

Bildschirmzeit ist Lebenszeit. Sie ist Erinnerung an TV-Abende im Schlafanzug, die erste SMS am Tastenhandy, Tetris auf dem Gameboy. Bildschirmzeit ist Alltag. Der Screen am Schreibtisch, das Scrollen unterwegs, die Serie am Abend.

Wir präsentieren Menschen, Medien und Marken, die den Bildschirm mit in die Zukunft nehmen. Die Trends setzen und Regeln brechen. Und die mutig fragen: Wie viel ist zu viel?

Danke für die Lebenszeit, die du diesem Buch schenkst. Und bitte: Abschalten nicht vergessen!

Dein turi2-Team

Inhalt 12 Willkommen im Club! 146 Schlussbesprechung Kurz & Listig 16 Zahlen bitte! 42 15 Zitate 134 Vom Bildschirm verschwunden 8 x 10 Antworten 28 Aminata Belli, Reporterin 28 Bert Habets, ProSiebenSat.1 40 Paul Remitz, Omnicom 40 Philippe Rogge, Vodafone 61 Andrea Schafarczyk, WDR 61 Jeannine Michaelsen, Moderatorin 124 Tessniem Kadiri, Journalistin 124 Shona Fraser, Good Times Interviews 18 Katja Hofem über Nasen und Netflix 30 Paul Ronzheimer über Krieg und Frieden 54 Mike Henkelmann über Second Screen und Smart Home 116 Uyen Ninh über Klischees und Kontrolle 136 Ralf Wirsing über den Zauber des Zockens Schrittmacher – Social Media 64 Virginie Briand, Deloitte 64 Marcel de Groot, Vodafone 65 Christoph Schnabel, MSL 66 Lovoo 68 Pia Kabitzsch, Psychologin 69 Elisabeth Möckel, Kika 70 Metaverse 72 Roland Eisenbrand, OMR 74 Wolfgang Heubisch, FDP 75 „Ungefiltert“-Podcast 76 Lutz Hirsch, Hirschtec 77 Die Techniker 77 Metro 78 Jasmin Gnu, Streamerin 79 Andrea Malgara, Mediaplus 80 Ben Bernschneider, Influencer 81 Visual Statements 82 Samir Fadlallah, Springer 84 „Spiegel“ 84 Welt“ 84 Burda 85 Republic 85 Wort & Bild Verlag 86 Bernhard Bahners, Madsack 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 34 35 82 83 106 107 130 131 144 145 146 147 148 149
86 Malte Peters, Funke 87 Jochen Wegner, „Die Zeit“ Schrittmacher – TV & Streaming 88 Samsung Infinity Screen 90 Funke 91 Christian Seifert, Dyn 92 Philipp Schulze, „TV Movie“ 92 Mirko Drotschmann, Journalist 94 Magnus Gebauer, Mediennetzwerk Bayern 95 Henning Nieslony, RTL 96 Haruka Gruber, Dazn 96 Bettina Bellmer, Waipu.tv 97 Yvonne Lukas, Omnicom 97 Max Lederer, Jung von Matt 98 Maximilian Klopsch, Seven.One Media 98 Dörthe Jans, YouGov 99 Arnim Butzen, Magenta TV 100 Kerstin Bensch, Particibrand 100 Sabine Lipken, Wavemaker Schrittmacher – DOOH 102 The Sphere, Las Vegas 104 Framen 104 Münchner Fenster 106 Andreas Prasse, Wall 106 Kai-Marcus Thäsler, FAW 107 Messe Stuttgart 107 Martini 108 Michael Mauer, Porsche Schrittmacher – Kino 110 Nico Hofmann, Ufa 112 Stefan Kuhlow, Weischer Cinema 112 Angela Dorn, Die Grünen 113 Sabine Horst, epd 113 Fred Kogel, Leonine 114 Charly Hübner, Schauspieler Gespräche über Screens 44 Bernhard Pörksen Medienwissenschaftler 46 Schlecky Silberstein Schauspieler und Produzent 50 Michaela Kauer-Franz & Benjamin Franz UX-Designerinnen 52 Dennis Papirowski TikTok-Manager 126 Elle Langer AR- und VR-Expertin 128 Oliver Kalkofe Entertainer und Moderator 130 Julia Brailovskaia Psychologin 46 47 70 71 94 95 118 119 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 142 143 132 133 134 135 136 137 150 151 152 138 139 140 141
Jeannine Michaelsen Seite 40 Pia Kabitzsch Seite 34 turi2.de/koepfe turi2.de/koepfe Charly Hübner Seite 36 turi2.de/koepfe turi2.de/koepfe Paul Ronzheimer Seite 52 turi2.de/koepfe Mike Henkelmann Seite 132 Katja Hofem Seite 78 Ralf Wirsing Seite 92 turi2.de/koepfe turi2.de/koepfe Fotos: Holger Talinski, Johannes Arlt, PR, Picture-Alliance, Seilna Pfrüner, Moritz Künster

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Willkommen im Club!

Diese klugen Köpfe links sind nur zehn der 20.000 Meinungsmachenden aus Medien, Wirtschaft und Politik, die zusammen die turi2-Community bilden. Sie finden bei turi2 Inspiration und Information, eine Bühne und einen Kommunikationsraum.

turi2 Join Es ist ganz einfach, Teil von turi2 zu sein. Wer sich unter turi2.de/join einträgt, kann unter turi2.de/jobs kostenlos Stellenausschreibungen für Top-Talente aufgeben, On- und OfflineEvents unter turi2.de/termine veröffentlichen und sich für die Datenbank turi2.de/firmen anmelden.

turi2 Screen-Wochen Vom 25. September bis 8. Oktober feierte turi2 den Bildschirm: Wir fragten, welchen Einfluss die Bewegtbild-Flut auf unser Leben und auf die Menschen hat, die für immer neuen Content sorgen – Creator, Marketing- und Programm-Verantwortliche. Partner der turi2 Screen-Wochen sind Screenforce, waipu.tv und teleschau. Podcast, Interviews, Cases und Gastbeiträge jetzt auf turi2.de/screen-wochen

turi2 Themenwochen Regelmäßig widmet sich turi2 eine Woche lang einem Top-Thema, das die Branche bewegt. Wir bieten digitale Vertiefung in Interviews, Podcasts und Gastbeiträgen. Die Beiträge laufen auf turi2.de, den Social- und Audio-Kanälen von turi2 und prominent in den turi2-Newslettern. Alles über die turi2 Themenwochen und deine Möglichkeiten, als Sponsor dabei zu sein: turi2.de/themenwochen

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turi2 Morgen-Newsletter In drei Minuten informiert und inspiriert. Der turi2 Newsletter liefert fünf Mal pro Woche morgens und abends das Wichtigste für Kommunikationsprofis kostenlos ins E-Mail-Postfach.

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E-Paper gratis Du kannst diese Ausgabe kostenlos als E-Paper lesen und teilen. Alle Inhalte sind im Volltext durchsuchbar, Videos, Podcasts und Anzeigen sind direkt verlinkt unter turi2.de/edition22

Wie kann ich turi2 für meine Kommunikation nutzen? turi2 funktioniert bestens zum Beispiel für Image-Werbung, für Klicks auf Info-Angebote und für den Dialog mit Meinungsmachenden. turi2.de/werben-bei-turi2

13 · turi2 edition #22 · Screen
Uyen Ninh Seite 20 Oliver Kalkofe Seite 112 Aminata Belli Seite 88

Lebe fantastisch

Lebe fantastisch

Bude smart – wie fantastisch ist das denn?

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Ob Haushaltsgeräte, Heim- und Gartenwerkzeuge, Smart Home

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Lösungen oder Heizungs- und Klimageräte – unsere Produkte machen wirklich jede Bude smart. Wir bei Bosch entwickeln ständig

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neue Technologien, damit du wie DIE FANTASTISCHEN VIER noch einfacher, smarter, gesünder und nachhaltiger leben kannst.

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bosch.com

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ZAHLEN BITTE! SCREEN 500

Gramm wiegt das erste Smartphone. Der „Nokia 9000 Communicator“ kommt 1996 auf den Markt. Er versendet Faxe und E-Mails und kann sogar auf das Internet zugreifen – allerdings nur in Schneckentempo

6.000

Verkehrsunfälle mit 8.233 Schwerverletzten und 117 Toten waren 2021 auf Ablenkung zurückzuführen – unter anderem durch Smartphones, Autoradios und Bildschirme im Cockpit

Prozent der Deutschen nutzen laut einer Studie von Seven.One Media zumindest gelegentlich zwei Bildschirme parallel. Der Second Screen ist beim Fernsehgucken in den allermeisten Fällen das Smartphone

4x4

3.000.000. 000.000 (drei Billionen) Fotos knipsen alle iPhone-User weltweit in einem Jahr

Zentimeter groß ist das Bild der ersten Fernsehübertragung in Deutschland. Sie gelingt 1928 dem Ungar Dénes von Mihálydie mit dem Telehor, einem mechanischen Übertragungssystem. Ton gibt es noch nicht

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Quellen:
2023
60
Tagesspiegel, SevenOne Media, Bundesarchiv, Apple, Brien Holden Vision Institute, Statista, Burda, GfK, Kinder Medien Monitor

Prozent der Menschen weltweit werden im Jahr 2050 durch das dauerhafte BildschirmGlotzen kurzsichtig sein, prognostiziert das Brien Holden Vision Institute. Aktuell sind es rund 25 Prozent

generiert die Spiele-App „Coin Master“

Millionen E-Books wurden 2021 in Deutschland verkauft. Die meisten lesen aber nach wie vor lieber auf Papier als am Bildschirm: Der Anteil von E-Books am gesamten Buchmarkt macht gerade einmal 5,7 Prozent aus

Minuten täglich konsumieren die Deutschen Bewegtbild-Inhalte in TV, Streaming oder Social Media, sagt eine Studie von Burda und GfK

Prozent geben bei einer Umfrage süßes Popcorn als ihren liebsten Kino-Snack an. 26 Prozent mögen Nachos und unglaubliche 20 Prozent wollen im Kino gar nicht naschen

Milliarden Views sammelt das meistgesehene

YouTube-Video aller Zeiten, das KinderMusikvideo „Baby Shark Dance“. Die meisten Likes

– fast 52 Millionen –bekommt das Video zum Song „Despacito“

Prozent der sechs- bis 13-jährigen Kinder schauen mehrmals pro Woche kostenlose Videodienste wie YouTube. 42 Prozent von ihnen nutzen TikTok

63
43 38 257

»Menschliche Kreativität ist nicht zu ersetzen«

Katja Hofem hat TV-Geschichte geschrieben mit Formaten wie „Big Brother“. Heute ist sie Vice President Content DACH bei Netflix. Ein Gespräch über die Faszination Fernsehen und die Zukunft der Unterhaltung

Von

Hair & Make-up: Eren Bektas

Styling: Lynn Schmidt

18 · turi2 edition #22 · Screen
Heike Turi (Text) und Holger Talinski (Fotos)

Katja Hofem

Jahrgang 1973, studiert in Augsburg Politik, Amerikanistik und Kommunikationswissenschaft, schreibt für die „Aalener Volkszeitung“ und jobbt bei Tele5 als Aufnahmeleiterin. 1995 volontiert sie bei RTL2, wird Leiterin Unterhaltung, später Programmdirektorin. 2009 baut sie für Discovery den Männersender Dmax auf. 2010 wechselt sie zu ProSiebenSat.1, wo sie erst Sixx, dann Kabel1 leitet und schließlich die Streaming-Plattform Joyn in Deutschland einführt. 2021 geht Katja Hofem zu Netflix, wo sie heute den Content für die DACHRegion verantwortet. turi2 trifft sie mit Spürhündin Kaya auf heimischem Terrain im oberbayerischen Isartal bei Icking

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Netflix wird 1997 in Kalifornien gegründet und ist heute mit 238 Millionen zahlenden Mitgliedern in über 190 Ländern einer der größten Entertainment-Dienste weltweit. Produziert wird in 50 Ländern, untertitelt in 35 Sprachen und synchronisiert in 34. Allein in Deutschland, Österreich und der Schweiz, für die Katja Hofem verantwortlich ist, zählt die Streaming-Plattform zwölf Millionen Mitglieder

„Ich bin so alt, ich starte meinen Netflix-Account um 20.15 Uhr“: Katja, was sagst du als NetflixChefin zu dieser Postkarte?

Das passt super. Mein Mann und ich sind genauso getaktet. Wir machen den Fernseher abends zu den Nachrichten an, und erst danach streamen wir einen Film, eine Serie oder eine Doku. An einem freien Tag gerne auch mal schon nach dem Frühstück. Früher war es ja total verpönt, tagsüber den Fernseher laufen zu lassen. Meine Mutter hat sehr darauf geachtet. Erst als ich dann ausgezogen war und in meiner eigenen Studentenbude saß, habe ich den Fernseher den ganzen Tag laufen lassen.

Deine Hündin Kaya und du, ihr führt uns heute in die Natur. Wie oft kommt es vor, dass du einfach mal so am Tag vom Bildschirm wegkommst?

Meine Arbeitstage sind oft sehr lang und sehr intensiv, aber da ich den Hund habe, bin ich am Tag schon mal zwei bis drei Stunden draußen. Ich stehe dafür auch sehr gern sehr früh auf, einfach weil es mir guttut. Natürlich habe ich das Handy dabei und führe hin und wieder auch von unterwegs einen Call – das sind meine sogenannten Gassi-geh-Calls.

Was heißt früh aufstehen bei dir?

Viertel vor sechs. Ich habe am Morgen dann schon einiges geschafft, meinen Sport gemacht, bin mit dem Hund laufen gewesen. Um neun kann ich dann ganz entspannt in den Berufsalltag starten.

Wie viel Zeit verbringst du in der Regel am Bildschirm?

Mit allem Drum und Dran sind es schon an die 15 bis 16 Stunden. Die Zeit am Handy mitgezählt. Denn wenn ich abends im Bett liege, schaue ich auch gerne nochmal drauf. Ich checke die Nachrichten, schaue auf WhatsApp, Instagram, Facebook –einfach um zu wissen, ob etwas Neues in der Welt passiert ist.

Vor welchem Screen verbringst du die meiste Zeit?

Das ist der Laptop, an dem ich arbeite. Dann kommt das Handy, dann der Fernseher. Tagsüber schalte ich ihn manchmal ein, um zu sehen, was bei der Konkurrenz läuft. Am Abend findet Fernsehen dann eher im Lean-backModus statt. Mein Mann und ich schauen die Nachrichten auf ARD und ZDF, dann mal ein Magazin oder eine Reportage. Aber fürs Entertainment nutzen wir nur noch Streaming. Es gibt Serien, die wir gemeinsam gucken und dann hat jeder von uns noch so „seine“ Serie.

Zum Beispiel?

Mein Mann liebt K-ActionSerien oder auch die türkischen Serien auf Netflix. Ich muss immer alleine meinem Guilty Pleasure, den Reality-Shows und True-Crime-Serien nachgehen.

Kaya begleitet dich seit drei Jahren. Du lässt sie fürs Mantrailing, also als Spürhund, ausbilden. Genau, wir absolvieren gerade eine Rettungshunde-Ausbildung für die K9-Hundestaffel. Kaya kann dann anhand

spiel gerade vorher noch ein schwieriges Telefonat geführt habe, fällt es mir echt schwer, umzuschalten. Dabei ist es so wichtig, die Führung abzugeben und allein seinem Hund zu vertrauen.

eines Geruchsartikels die Spur eines vermissten Menschen nachverfolgen, und im Idealfall findet sie dann auch diese Person. Wir trainieren das, wenn es geht, so ein- bis zweimal die Woche.

Was ist deine Motivation?

Mein vorheriger Hund hatte eine Therapiehund-Ausbildung. Gemeinsam waren wir in Kinder- und Altenheimen. Das empfand ich als sehr bereichernd, und es war ein guter Ausgleich zu meiner täglichen Arbeit. Kaya ist ein Jagdhund, sie will gefördert und ausgelastet sein. Auch mir tut das gemeinsame Training unglaublich gut, denn ich muss mich fokussieren. Das ist einer der wenigen Momente, wo ich komplett abschalte und nur im Hier und Jetzt bin. Das Training macht uns beiden sehr viel Spaß.

Wie schlägt sich Kaya?

Kaya bringt alles mit, was es für einen guten Spürhund braucht. Sie hat das Talent, sie hat den Willen und den Enthusiasmus. Allein wenn ich das Geschirr in der Hand halte, fängt sie schon an zu winseln. Sie weiß dann, jetzt geht es los. Und wie immer liegt das Problem am Ende der Leine. Ich muss ruhiger werden und mehr die Kontrolle an sie abgeben. Das fällt mir nicht immer leicht. Wenn ich zum Bei-

Kannst du aus dem Training mit Kaya auch etwas für deinen Beruf mitnehmen?

Einiges. Zum Beispiel, kein Mikromanagement zu betreiben und der Spürnase meiner Mitarbeitenden zu vertrauen. Mein Job ist es, den Rahmen und die Richtung vorzugeben, ich biete das Backup. Die Aufgabe meines Teams ist es, das Richtige zu finden und spannenden Möglichkeiten gezielt nachzugehen.

Wie leicht fällt dir das Loslassen?

Sagen wir mal so: Mit zunehmendem Alter leichter. Älterwerden hilft schon, ein bisschen gelassener zu sein. Natürlich bin ich interessiert an den Drehbüchern, an der Zusammensetzung des Casts und und und. Aber ich muss meinem Team den Freiraum geben, nur so können meine Mitarbeitenden wachsen. Wenn ich jeden Schritt kontrollieren würde oder gar müsste, dann hätte ich etwas falsch gemacht.

Wie viele Spürnasen arbeiten für dich?

Wir haben den ContentBereich unterteilt in Serien, Film, Non Fiction und Lizenz. Dafür arbeiten mittlerweile 19 Leute.

Wie erspürt ihr Trends?

Deutschland ist kein einfacher Markt. Es braucht also auch schon viel Erfahrung, um zu wissen, was gut funktioniert und

21 · turi2 edition #22 · Screen
»Durch das Training mit Kaya lerne ich, der Spürnase meiner Mitarbeitenden zu vertrauen«

was nicht. Es gehört aber auch ein gutes Bauchgefühl dazu, um zu entscheiden, was bei unseren Mitgliedern ankommen wird. Und last but not least orientieren wir uns natürlich auch an Zahlen und Daten.

Was wird The Next Big Thing?

Ich wollte, ich hätte die goldene Formel schon gefunden. Die sucht man natürlich immer. Im DACH-Raum besteht zu gewissen Genres eine besondere Affinität, und die bedienen wir dementsprechend auch. Dazu zählen Crime, Comedy, aber auch Drama. Bei einem bin ich mir sicher: Reality hat zahlreiche Fans und ein großes Potenzial. Als Genre wurde es ja immer wieder totgesagt und totgeschrieben. Aber wir haben gerade mit „Too hot to handle“ auch dieses Genre auf ein neues Level gehoben. Ich denke auch, dass Celebrity-Geschichten à la Kardashians hier gut funktionieren. Für die DACHRegion haben wir für das kommende Jahr einiges im Non-Fiction-Bereich geplant, von dem ich ganz sicher bin, dass es unsere Mitglieder begeistern wird.

Was macht gutes Entertainment heute aus?

Es hat sich seit den alten Griechen über Shakespeare bis in die heutige Zeit nicht viel verändert im Hinblick darauf, was eine gute Geschichte braucht. Sie braucht Emotionen, sie braucht tolle Figuren und Charaktere, denen ich folgen möchte – mit denen ich mitleiden, mitfiebern und mich mitfreuen kann. Im Grunde genommen erzählen wir Dinge, die seit Jahrtausenden funktionieren. Das

sind Geschichten über Liebe, Hass, Eifersucht, Leidenschaft, Gier. Was sich geändert hat und weiter ändern wird, ist die Qualität, mit der sie erzählt und produziert werden.

Gibt es ein Strickmuster à la Shonda Rhimes, das einfach immer funktioniert?

Eine Formel gibt es nicht. Shonda Rhimes hat ein ultimatives Talent, immer wieder den Zeitgeist zu treffen und mit ihren Produktionen just in time rauszukommen. Das war schon bei „Grey’s Anatomy“ so. Und mit „Bridgerton“ hat sie für viele von uns den richtigen Ton getroffen, um etwas besser durch die Pandemie zu kommen, als wir uns gemeinsam – wenn auch nur für einen Moment – in diese ganz besondere Welt wegträumen konnten.

Wie viel Lokalkolorit darf eine Netflix-Produktion haben?

Netflix hat sich ganz bewusst dafür entschieden, in Europa einzelne lokale Büros zu eröffnen. Denn der italienische, französische, spanische oder der deutsche Filmschaffende kennt seinen Markt am besten und weiß, was dort funktioniert. Insofern darf beziehungsweise soll es auch unbedingt was mit Lokalkolorit sein.

Wie können deutsche Produktionen am internationalen Markt reüssieren?

Für uns steht das DACHMitglied an erster Stelle. Wir wollen unsere Zuschauer hier begeistern. Wenn uns das gelingt, dann funktioniert eine Produktion fast automatisch auch an anderen Orten rund um die Welt. „Die

Kaiserin“ ist eine unserer erfolgreichsten Serien der letzten zwei Jahre. Wir standen mit dieser Produktion in 88 Ländern in den Top Ten. Der Film „Im Westen nichts Neues“ ist unser jüngstes Beispiel und sicher vielen längst ein Begriff. Mit zahlreichen Auszeichnungen, darunter auch vier Oscars bei den Academy Awards, hat er deutsche Filmgeschichte geschrieben und wurde von unseren Mitgliedern überall auf der Welt angeschaut.

Der Film wurde hierzulande kaum in den Kinos gezeigt. Warum?

In besonderen Ausnahmefällen, wie zum Beispiel bei „Im Westen nichts Neues“, entscheiden wir mit allen Beteiligten, ob der Film auf der großen Leinwand gezeigt wird. Als Streamer liegt unser Fokus aber vor allem darauf, vielseitige Unterhaltungsformate für unsere eigenen Mitglieder auf Netflix zu entwickeln. Und das hat dieser Film getan: In dem Moment, als wir ihn auf unseren Service gestellt haben, ist der Film innerhalb von ein paar Tagen 100 Millionen Stunden gestreamt worden. Über Netflix habe ich die Möglichkeit, jeden an diesen Inhalt heranzuführen – wohlgemerkt an einen Inhalt, der kein leicht verdaulicher ist und der eine ganz wichtige Kernbotschaft in sich trägt.

Lässt sich der Mythos Film ins digitale Zeitalter transferieren?

Film bleibt Film. Nur die Art, wo und wie wir ihn konsumieren, entwickelt sich weiter. „Im Westen nichts Neues“ ist jetzt schon ein Mythos und bedeutet eine wirkliche

Zäsur: Dieser Film wäre ohne Netflix nicht entstanden. Auch der Film „Paradise“ belegt diese Verschiebung. Iris Berben, die Grande Dame des deutschen Fernsehens und Films, hat sich damit erstmals für eine NetflixProduktion entschieden. Der Grund: Ihr ist dieser tolle Stoff so vorher noch nie angeboten worden.

Wann wird das erste Drehbuch aus KI-Hand verfilmt?

Gar nicht. Menschliche Kreativität ist nicht zu ersetzen. Der Mensch besitzt die Genialität, sich Neues auszudenken und aus bekannten Bahnen auszubrechen. Das kann KI in der Form nicht.

Wann ist ein Film oder eine Serie für Netflix erfolgreich?

Wir freuen uns, wenn eine Produktion direkt vom Start weg gut abgerufen wird. Aber fast noch wichtiger ist, ob die Produktion auch zu Ende gesehen wird. Das schauen wir uns genau an. Dazu gibt es Zahlen, die wir mit unseren Partnern teilen, damit auch sie wissen, was funktioniert und was nicht.

Netflix bietet neben werbefreien Abo-Modellen auch werbefinanziertes Streamen an. Die werbetreibende Industrie braucht vergleichbare Zahlen, bevor sie ihr Mediabudget verteilt. Die bekommt sie auch von uns.

Werbung richtet sich gern an kaufkräftiges Publikum, also Seniorinnen und Senioren. Gibt es bei Netflix Inhalte für diese Zielgruppe?

Wir haben Serien wie „Weissensee“ und „Chari-

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»Der Zuschauer will viel lieber das sehen, was die Jüngeren sehen. Er identifiziert sich lieber mit Jüngeren, ganz einfach, weil er sich dann selbst jünger fühlt«

té“ lizensiert, die sich eher an das klassische ARDoder ZDF-Publikum wenden. Insgesamt haben wir eine so große Auswahl an Inhalten, da ist für jeden was dabei. Aber bei unseren Eigenproduktionen konzentrieren wir uns auf das jüngere Publikum.

Warum?

Schon beim Launch von Sat.1 Gold war das eine Riesen-Diskussion. Da hieß es, wir bräuchten mehr für die Best Ager, mehr Apotheken-Umschau-Formate. Falsch. Der Zuschauer will viel lieber das sehen, was die Jüngeren sehen. Er identifiziert sich lieber mit Jüngeren, ganz einfach, weil er sich dann selbst jünger fühlt und so auch nochmal andere Perspektiven einnehmen kann.

Dann lass uns mal „Zurück in die Zukunft“ spielen: Wann wusstest du, dass du zum Fernsehen möchtest?

Als junger Mensch hatte ich zwei Berufsziele. Ich wollte Tierärztin auf dem Land werden oder Reporterin, am liebsten Auslandskorrespondentin für den „Spiegel“. Lange bin ich zweigleisig gefahren: Ich habe das kleine Latinum nachgeholt und ein Praktikum bei einem Tierarzt gemacht, und ich habe für die Schülerzeitung gearbeitet und beim Schülertheater mitgemacht. Eine Freundin erinnerte mich erst kürzlich daran, dass ich mit fünf oder sechs Jahren ein Interview auf Kassette aufgenommen habe. Schön verrückt: Ich habe einen Affen interviewt, der gerade sein erstes Konzert gegeben hatte, und mich dann mit den Worten ver-

abschiedet: „Ich gebe ab ins Aktuelle Sportstudio“.

Da warst du noch ein Kind. Was hat später den Ausschlag gegeben?

Ein Besuch bei „Wetten, dass..?“. Ich war damals 18 oder 19 und mit meiner Clique als Wettkandidatin eingeladen. Wir hatten gewettet, zu zehnt in einen Passbildautomaten zu passen, sodass jeder von uns auf dem Foto zu sehen ist. Im Studio habe ich beobachten können, wie Sandy, eine Aufnahmeleiterin, mit der Kladde in der Hand und dem Headset auf dem Kopf rumgelaufen ist und Kommandos gegeben hat, wer sich wo hinzustellen habe. Auch Thomas Gottschalk hat sie auf seine Stelle geschubst. Da dachte ich mir: So möchte ich auch einmal werden. Das will ich machen.

Du hast beim Fernsehen die Goldenen Zeiten erlebt. Woran erinnerst du dich besonders gern? Worauf bist du besonders stolz? Ich bin wirklich froh und dankbar, dass ich bei entscheidenden Momenten der Fernsehgeschichte dabei sein konnte. Während meines Studiums war ich freie Mitarbeiterin bei Tele5. Es kam der erste Golfkrieg, und wir haben als einziger Sender live das CNN-Signal übernommen. Die Älteren unter uns erinnern sich wahrscheinlich an diese Bilder, auf denen man eigentlich nichts gesehen hat, nur grüne Pfeile in dunkler Nacht. Diese mediale Macht hat die Wahrnehmung des Krieges geändert. Plötzlich war der Krieg für viele Menschen sehr nah.

Was war der nächste Meilenstein?

Ich war für RTL2 in den Niederlanden bei John de Mol. Er zeigte mir sein neues Format und das „Big-Brother“-Haus. Ich war direkt fasziniert, bin zum Geschäftsführer von RTL2 und habe gesagt: „Das müssen wir machen.“ Wir haben daraufhin die Lizenzen gekauft und Reality nach Deutschland geholt. Als mich auf der MIP in Cannes unser Herstellungsleiter anrief und erzählte, alle Autobahn-Ausfahrten in Köln seien gesperrt, weil Zlatko aus dem Haus ausgezogen ist, da wusste ich: Über dieses Format wird man noch lange sprechen.

Mit Netflix bist du wieder am Puls der Zeit. Wie werden Digitalisierung und VoD-Anbieter den Markt in Zukunft verändern?

Das duale System mit den Öffentlich-Rechtlichen und den privaten Sendern hat für mich seine Berechtigung. Und ich wünsche mir möglichst viele Player am Markt, denn das befördert Kreativität. Aber die Fernsehlandschaft steht an einem Kipppunkt, vielleicht sind einige Sender auch schon drüber. Wir werden ganz bestimmt die ein oder andere Konsolidierung erleben.

Das Fernsehen oder die anderen VoD-Anbieter: Wen fürchtest du mehr als ernstzunehmenden Konkurrenten?

Ich denke gar nicht so sehr an die Konkurrenz, denn wenn man immer auf die Konkurrenz schielt, verliert man seinen eigenen Weg aus dem Fokus. Wir konzentrieren uns lieber auf unsere Mitglieder und

25 · turi2 edition #22 · Screen
»Wenn man immer auf die Konkurrenz schielt, verliert man seinen eigenen Weg«
Katja Hofem im Videofragebogen unter turi2.de/koepfe

die, die es noch werden sollen.

Sky-CEO Devesh Raj prophezeit das Ende der Goldenen Ära des Streamings und sagt: „Der Streaming-Kunde von heute kann der lineare Konsument von morgen sein.“ Bereitet dir das Kopfzerbrechen?

Nein. Wir befinden uns aktuell in einem sehr dynamischen Markt. Aber ein Ende der StreamingÄra ist nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil: Streaming ist die Zukunft. Als Netflix das Streaming erfand, haben wir den Medienkonsum auf die nächste Stufe gehoben. Die Nähe zu den Wünschen unserer Mitglieder, das Verständnis für die Möglichkeiten, die neue Technologien bieten, und die Bereitschaft, sich anzupassen und den Kurs schnell zu ändern: Das werden die wichtigsten Zutaten sein, um die Zukunft des Medienkonsums erneut zu gestalten.

Netflix steht für Unterhaltung. Haben wir nicht gerade wichtigere Probleme zu lösen, als uns gut unterhalten zu lassen? Die alternde Gesellschaft, die Kluft zwischen Reich

und Arm, der Dissens zwischen Ost und West, es gibt so viele brennende Themen, Themen von enormer Relevanz für unser Leben und unsere Gesellschaft. Gutes Entertainment kann helfen, Probleme aufzuzeigen, sie offen zu diskutieren und besser mit ihnen umzugehen.

Streaming bewirkt auch, dass Film- und Serienschauen zum individuellen, einsamen Ereignis wird. Nix mehr mit Lagerfeuer-Momenten. Da geht uns doch gerade ganz viel von dem gesellschaftlichen Kit verloren, oder? Das sehe ich anders. Wenn unsere Mitglieder Netflix öffnen, finden sie eine große Auswahl an Inhalten. Manche davon sind eher individuelle, persönliche Erlebnisse. Andere wiederum schaffen aber genau diese Art von Lagerfeuer-Moment, bei dem wir bestimmte Geschichten als eine Gruppe von Fans sehen, genießen und – ja, dann auch gemeinsam heiß diskutieren. „Stranger Things“, „Squid Game“ oder „Wednesday“ sind hier gute Beispiele, die

große Fandoms angesprochen und auch aufgebaut haben. Großartige Unterhaltung hat das Potenzial, jahrzehntealte Songs zurück in die Musikcharts zu bringen. Sie kann dazu beitragen, dass Nischensportarten unglaublich populär und wieder zum Mainstream werden. Oder sogar das Interesse an historischen Figuren, die wir mit ganz anderen Zeiten verbinden, zurück in die Mitte unserer heutigen Gesellschaft katapultieren – unser Hit „Die Kaiserin“ zum Beispiel war wochenlang in aller Munde. Mehr Lagerfeuer geht kaum.

Streaming verleitet dazu, immer mehr Zeit am Bildschirm zu verbringen. Braucht es nicht Maßnahmen, die Menschen davon abhalten, den ganzen Tag Serien zu suchten?

Beim Medienkonsum und der Zeit am Screen kommt es wie bei allem im Leben auf eine ausgewogene Balance an. Aber wo diese Balance liegt, muss jeder für sich selbst herausfinden.

Die CO2-Emissionen liegen beim Streaming wesentlich höher als

beim linearen TV. Nachhaltig ist diese Art des Medienkonsums also nicht. Kein schlechtes Gewissen?

Ökologische Nachhaltigkeit ist uns ein wichtiges Anliegen. Jedes große oder auch kleine Unternehmen muss sich heutzutage die Frage stellen, wie es seinen CO2-Fußabdruck verringern kann. Den Löwenanteil beim Streaming macht die Produktion aus. Wir konzentrieren uns deshalb gezielt auf die Bereiche, die die größten Emissionsreduzierungen bewirken, etwa auf den Einsatz erneuerbarer Energien, intelligente Betriebsabläufe, Elektrifizierung von Fahrzeugen und saubere mobile Energie. Wir sind selbst Mitglied des Arbeitskreises „Green Shooting“, denn die Verringerung des CO2-Fußabdrucks in der Unterhaltungsindustrie ist ein gemeinschaftlicher, langfristiger Prozess – er geht über die gesamte Kette von der Produktion bis zum Bildschirm.

Ein Film oder eine Serie über dein Leben hätte welchen Titel?

Happy ever after.

26 · turi2 edition #22 · Screen
»Film bleibt Film. Nur die Art, wo und wie wir ihn konsumieren, entwickelt sich weiter«
Katja Hofem und Heike Turi in den Isarauen
Eine Marke der FUNKE Mediengruppe
LUCAS BRINKMANN CEO Wavemaker

Aminata Belli ist Moderatorin und Reporterin. Sie steht u.a. für MTV, NDR und Funk vor der Kamera

7 Antworten von Aminata Belli

Meine beste Zeit am Bildschirm verbringe ich mit ... den täglichen Updates meiner Mutter zur aktuellen Wetterlage in Norddeutschland.

Meine tägliche Screentime ... ist so hoch, dass ich sie hier nicht offenbaren kann.

Die größte Verschwendung von Bildschirm-Zeit: TikTok!

Meine drei Lieblings-Apps: Urban Sports, Goodreads, Treatwell.

Das fesselte mich als Kind an den Bildschirm: die Echo-Verleihung.

Gut, dass es noch kein Smartphone gab, als ... ich in meiner rebellischen Teenie-Phase war.

Diese Person dürfte mich jederzeit per Videocall anklingeln: Aminata Touré. Weil es immer eine Freude ist, sie zu sehen und weil sie stets effizient ist. Es wäre also niemals eine Zeitverschwendung.

7 Antworten von Bert Habets

Das würde ich auf den größten Werbescreen der Welt schreiben: Decolonize yourself!

Die spannendste Neuentdeckung in Sachen Bildschirm ist ...

dass die jungen Leute Inhalte lieber auf einem kleinen Smartphone als auf einem richtigen Fernseher schauen. Was soll das?!

Das kann man besser woanders als auf dem Bildschirm erleben: Die einzigartige Kraft der Natur.

Bert Habets

kommt aus den Niederlanden und ist Vorstandschef des Medienkonzerns ProSiebenSat.1

Meine beste Zeit am Bildschirm verbringe ich mit ... meinen Kindern. Am liebsten sind mir die Freitag- oder Samstagabende, an denen alle Kinder frisch geduscht, im Schlafanzug und mit nassen Haaren vor dem TV zusammenkommen und wir Shows wie „The Voice“ schauen. Ob Deutschland oder Niederlande – das Format finden wir großartig!

Meine tägliche Screentime ... ist definitiv viel zu hoch. Nach der Arbeit kommt meist noch mehr Bildschirmzeit dazu: Ich bin Weltmeister im Zappen, während ich die übrigen Mails des Tages bearbeite.

Die größte Verschwendung von Bildschirm-Zeit ist ... das ununterbrochene Scrollen durch Apps wie TikTok oder YouTube. Die Kurzvideos führen zu einer enormen Menge an Bildschirmzeit, ohne dass Zuschauer:innen einen wirklichen Mehrwert davon haben.

Meine drei Lieblings-Apps: Definitiv unsere StreamingApp Joyn! Außerdem Spotify, um Podcasts und Musik zu hören, und Netflix, um zu wissen, was die Konkurrenz macht.

Das fesselte mich als Kind an den Bildschirm: Die Zeichentrickserie „Hallo Meneer De Uil!“, auf Deutsch „Hallo Herr Eule!“, in der eine weise Eule von Abenteuern im heimischen Wald erzählt.

Gut, dass es noch kein Smartphone gab, als ... ich Student in Barcelona war. Damals habe ich meine Eltern noch jede Woche aus einer Telefonzelle angerufen. Obwohl ich die Vorteile von Smartphones sehr zu schätzen weiß, erinnere ich mich gerne an die Zeit ohne ständige Erreichbarkeit zurück.

Diese Personen dürften mich jederzeit per Videocall anklingeln:

Meine Kinder! Jeden Abend facetimen wir um 18:30 Uhr –das ist der wichtigste Termin des Tages.

Das würde ich auf den größten Werbescreen der Welt schreiben: We love to entertain you!

Die spannendsten Neuentdeckungen in Sachen Bildschirm sind ...

Virtual und Augmented Reality. Ich bin sehr gespannt, wie sie die Art und Weise verändern werden, wie wir Videoinhalte ansehen. Mit der neuen Generation von VR/AR-Brillen wird das Nutzungserlebnis einfacher und angenehmer.

Das kann man besser woanders als auf dem Bildschirm erleben: Klettern und Wandern. Ich liebe es, in den Bergen unterwegs zu sein, mich für einige Zeit vom Bildschirm zu lösen und vollkommen im Moment zu sein.

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Fotos: Benedikt Müller, MTV

Ihr sucht Experten? Wir sind ganz in eurer Nähe.

In 399 Märkten in ganz Deutschland.

»Mein Gefühl ist, dass es immer krasser werden muss, damit die Menschen hinschauen«

„Bild“-Reporter Paul Ronzheimer bringt den Krieg auf unsere SmartphoneScreens und reist dafür um die Welt. Mit turi2 macht er Halt in Köln, für ein Gespräch über Frieden, Gott und Medien-Monster

Von Markus Trantow (Text) und Johannes Arlt (Fotos)

31 · turi2 edition #22 · Screen

Wir treffen dich auf Durchreise in Köln. Kiew, Budapest, Chemnitz, Berlin – das sind nur einige deiner Stationen in den vergangenen Tagen. Wie lange brauchst du morgens beim Aufwachen, um zu realisieren, wo du gerade bist? Es ist schon passiert, dass ich dachte, ich wäre in der Ukraine und tatsächlich war ich in Ungarn oder Polen. Das kommt vor, wenn ich in kurzer Zeit an sehr vielen verschiedenen Orten bin. Es ist fast komisch, wenn ich zu Hause bin. Ich war so wenig in Berlin in den vergangenen

beiden Jahren, dass ich da gar nicht mehr richtig zur Ruhe komme.

Wo schläfst du besser –in Kiew oder in Köln? In Kiew. Ich habe zuletzt die meiste Zeit des Jahres in der Ukraine verbracht. Ich würde zwar nicht sagen, dass ich mich da zu Hause fühle, aber ich kenne mich da im Moment am besten aus. Klar, es gibt mehrmals pro Nacht Luftalarm. Aber ich gehe eigentlich nicht mehr in den Schutzkeller. Kiew ist eine Millionenstadt. Da musst du schon sehr viel Pech haben, damit dich

eine Rakete trifft. Das Risiko finde ich kalkulierbar.

Ist bei dir eine gewisse Gewöhnung an das Leben im Krieg eingetreten?

Absolut. Ich bin übrigens sehr froh darüber, dass wir in der Berichterstattung bisher nicht nachgelassen haben – auch andere deutsche Medien nicht. Denn anderthalb Jahre Krieg sind schon eine sehr lange Zeit. Da so intensiv dranzubleiben, ist nicht selbstverständlich. Wenn ich an andere Konflikte denke, ist die Aufmerksamkeitsspanne

leider deutlich geringer, etwa in Afghanistan oder Syrien, über die wir kaum noch sprechen.

Welche Bedeutung hat für dich als Kriegsreporter der Frieden?

Der Frieden hat für mich einen riesigen Wert – gerade mit Blick auf die Ukraine, in der es schon sehr lange keinen Frieden mehr gibt. Ich bin ja nicht nur Reporter, sondern auch Mensch. Ich habe dort viele Freunde. Viele haben in den vergangenen anderthalb Jahren Menschen verloren, die ihnen lieb waren. Ich selbst habe

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»Ich versuche, dafür zu sorgen, dass auch positiv über Springer gesprochen wird«

Paul Ronzheimer

Jahrgang 1985, wächst im ostfriesischen Aurich auf. Nach dem Abitur macht er ein Volontariat bei der „Emder Zeitung“. 2008 wechselt er an die Axel-Springer-Akademie in Berlin. Bis 2012 ist Ronzheimer Berliner Parlamentsreporter für die „Bild“. 2012 wird er Chefreporter Politik und spezialisiert sich auf Kriegs- und Krisenberichterstattung. Unter Ex-„Bild“-Chefredakteur

Julian Reichelt steigt Ronzheimer 2019 zum „Bild“-Vize auf. 2023 befördert Springer ihn zum journalistischen Aushängeschild der Marken „Bild“, „Welt“ und „Politico“

auch Kollegen verloren. Deswegen wäre es für mich das Schönste, wenn es dort endlich Frieden gäbe. Was die Arbeit als Reporter angeht: Ich bin schon seit fast 20 Jahren Journalist, habe viele verschiedene Sachen gemacht. Und ich würde sehr gerne mal wieder in Länder reisen, die von der Berichterstattung aktuell vergessen werden.

Wir sitzen hier im Schatten des Kölner Doms. Gehst du in die Kirche? Ich bin als Jugendlicher sehr viel in die Kirche gegangen, weil ich Kirchenorganist war. Ich habe bei Gottesdiensten, Beerdigungen und Hochzeiten gespielt und mir so im Alter zwischen 14 und 17 Jahren ein erstaunlich gutes Taschengeld dazuverdient. In der Zeit habe ich auch viele Predigten gehört. Heute habe ich den Glauben ein bisschen verloren. Ich glaube, wenn man so viel Schreckliches gesehen hat wie ich und auch privat einiges durchgemacht hat – mein bester Freund ist sehr früh an Krebs gestorben –dann zweifelt man irgendwie am Glauben.

Dann stellst du dir vermutlich wie viele Menschen die Frage, warum Gott, wenn es ihn denn gibt, das alles zulässt? Ja, darüber habe ich viel nachgedacht. Daher kommt wahrscheinlich auch der Zweifel. Ich bin auch immer noch in der Kirche. Und wenn ich in der Heimat in Ostfriesland bin, dann gehe ich auch ab und zu noch in die Kirche. In Berlin gehe ich nicht und in der Ukraine auch nicht. Aber wenn

ich dort auf Beerdigungen und Trauerfeiern bin, merke ich schon, dass den Soldaten und ihren Angehörigen der Glaube daran, dass die Seele weiterlebt, sehr viel bedeutet.

Schickst du in Krisensituationen manchmal Stoßgebete zum Himmel? Du bist ja in der Ukraine schon beschossen worden, unter anderem im Auto.

Nein, da ist man eher darauf konzentriert, da heil durchzukommen, schnell zu fahren oder sich wegzuducken. Ich denke eher mal daran, dass meine Mutter mit mir in solchen Momenten wahrscheinlich sehr böse ist. Sie sagt mir immer, dass ich mich nicht in Gefahr bringen soll. Und dann habe ich ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber.

Schätzen wir in Mitteleuropa die Tatsache zu gering, dass wir seit fast 80 Jahren in Frieden leben?

Ja, gerade wenn ich meine oder jüngere Generationen nehme, schockiert es mich, wie schnell das Interesse an dem, was in der Ukraine passiert, wieder nachgelassen hat. Ich erinnere mich an die ersten Tage des Krieges. Da haben auch Freunde von mir, die sonst politisch eher nicht interessiert sind, ihre Profilbilder geändert oder waren an der Grenze und haben geholfen. Davon ist wenig übrig. Es fehlt das langfristige Interesse, auch die Beschäftigung damit, welche Konsequenzen deutsche Politik für die Situation in der Ukraine hat. Dieses Desinteresse zeugt davon, dass man

hier in Deutschland in einer Selbstverständlichkeit lebt, dass am Ende alles schon irgendwie passt.

Hierzulande erleben wir den Krieg vor allem auf Bildschirmen –zwischen TikTok-Videos und Netflix-Serien. Das Existenzielle, das Echte, konkurriert mit dem Fiktionalen und der Unterhaltung um unsere Aufmerksamkeit.

Wird es dadurch marginalisiert?

Den Kosovo-Krieg vor 25 Jahren oder den zweiten Irak-Krieg haben wir ausschließlich auf dem TV-Bildschirm und in Zeitungen wahrgenommen. Es ist schon möglich, dass wir uns mit den Kriegen damals konzentrierter befasst haben. Dass uns die Ereignisse mit dem Smartphone heute näher sind, hat einerseits die Folge, dass wir uns kurzzeitig intensiver damit befassen, andererseits besteht die Gefahr, abzustumpfen. Ich merke das zum Beispiel bei der klassischen Reportage aus dem Kriegsgebiet. Wenn ich mit Menschen spreche, die ausgebombt wurden und das aufschreibe oder ein Video produziere, ist das Interesse mittlerweile geringer. Das war zu Beginn des Krieges anders. Mein Gefühl ist, dass es immer krasser werden muss, damit die Menschen hinschauen. Oder es ist die große Analyse, die interessiert: Greift Putin auch uns an? Was passiert mit den Wagner-Truppen?

Wir Journalisten haben die Verantwortung, die Geschichten zu finden, die die Menschen interessieren, oder sie so zu er-

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Den Dom im Rücken, den Rhein im Blick: Paul Ronzheimer auf der Hohenzollernbrücke in Köln Paul Ronzheimer im Videofragebogen unter turi2.de/koepfe

Kiew

zählen, dass sie Interesse wecken.

Wie teilst du deine Aufmerksamkeit ein? Schaust du in der Ukraine, um abzuschalten, auch mal Netflix?

Ja, das kommt vor, zum Einschlafen. Ansonsten bin ich fast ununterbrochen beschäftigt: Ich treffe Leute, führe Gespräche, arbeite an aktuellen Geschichten. Ich versuche darüber nachzudenken, was am nächsten Tag und in den kommenden Wochen wichtige Geschichten werden. Auch dafür, dass ich so viele verschiedene Plattformen bediene, geht viel Zeit drauf. Das Schlimmste wäre für mich, wenn man in so eine normale Alltagsroutine kommen würde. Deswegen versuche ich eigentlich immer, mich zu quälen.

Also hast du vermutlich eine wahnsinnige Bildschirmzeit?

Ja, es sind viele Stunden. Ich traue mich gar nicht, da draufzuschauen. Im Urlaub versuche ich immer, das Smartphone tagsüber im Hotel zu lassen. Aber das ist nicht leicht.

Was ist deine wichtigste Informationsquelle, wenn du in der Ukraine bist?

Meine wichtigsten Quellen sind eigene Informanten, die ich über Signal, WhatsApp oder Telegram erreiche – per Textnachricht oder als Gespräch. Und danach steht bisher Twitter ganz weit oben. Wobei

ich merke, dass sich das verändert. Die Timeline ist teilweise ganz schön kaputt. Auch dadurch, dass sich irgendwelche Trolle inzwischen einen blauen Haken kaufen können. Und man hat ja noch im Kopf: Blau ist gleich seriös. Dennoch glaube ich, dass Twitter noch für lange Zeit das schnellste Medium bleiben wird. Neben Telegram für die russischen Kanäle.

Gibt es in den umkämpften Gebieten überhaupt Internet?

Kaum, da hilft meist nur Elon Musk mit Starlink. Die Antenne für das Satelliten-Internet haben wir teilweise auf dem Autodach angebracht und darüber lassen sich via Skype sogar Live-Schalten machen. Eine Chance auf Mobilfunk-Internet gibt es in den wirklich umkämpften Gebieten selten. Das gilt auch für die ukrainischen Soldaten: Wenn sie im Feld sind, haben sie kein Internet. Wenn sie aber in ihre Stellungen zurückkehren, dann gibt es dort Starlink.

Welche Rolle spielen denn die sozialen Netzwerke im Krieg für die Informationsbeschaffung?

Auf Twitter und Telegram zeichnen sich Entwicklungen und Ereignisse oft schon eine halbe Stunde oder noch früher ab, bevor sie bei Agenturen wie Reuters oder AP auftauchen. Und das ist wichtig, wenn wir entscheiden müssen, wo wir hinfahren. Bei der Zerstörung

des Kachowka-Staudamms war das zum Beispiel so. Social Media hilft aber auch bei der Recherche. Ich erinnere mich an den März 2023. Da ist das Video von der Erschießung eines unbewaffneten, ukrainischen Soldaten viral gegangen, der den Russen „Ruhm der Ukraine“ zugerufen hatte. Wir haben versucht, seine Familie ausfindig zu machen und über Social Media seine Mutter gefunden.

Ist Social Media im Krieg also eher Segen als Fluch?

Social Media ist beides. Segen für Journalisten bei der Informationsbeschaffung. Fluch, weil da so viel Propaganda möglich ist. Wenn wir nur mal unsere eigentlich aufgeklärten Gesellschaften nehmen, in denen es ja – anders als in Russland – kein Propaganda-Fernsehen gibt, wundert es mich schon, welchen dubiosen Kanälen Menschen folgen und glauben. Für diese Leute sind wir alle PropagandaTrottel. Wenn es Social Media nicht gäbe, dann wäre auch dieser Raum für Fake News und Verschwörungsmythen nicht vorhanden. In Krisensituationen wie dem Krieg oder der Flüchtlingskrise merkt man erst, welche Monster in Form von sozialen Medien erschaffen wurden.

Wo verläuft für dich die Grenze zwischen Berichterstattung und Propaganda? Darüber mache ich mir

tatsächlich öfter Gedanken und glaube, dass wir uns als Journalisten immer mehr selbst kontrollieren und hinterfragen müssen. Als jemand, der sicher extrem pro Ukraine eingestellt ist, habe ich zum Beispiel Annalena Baerbock im Interview gefragt, wie sie Familien, die unter der Inflation leiden und nicht in den Urlaub fahren können, die 700 Millionen Euro teure Waffenhilfe für die Ukraine erklärt. Obwohl ich diese Hilfe befürworte. Ich glaube auch nicht, dass jemand, der meint, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann, automatisch ein Putin-Freund ist. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht jede kritische Äußerung als Propaganda abstempeln. Denn ich glaube, dass diejenigen, die die AfD oder die Linkspartei wählen, sich medial wenig wiederfinden – zum Beispiel in der Debatte um die Ukraine. Und da sind wir dann wieder im sozial-medialen Raum, wo alles so radikalisiert ist, dass wir womöglich Gefahr laufen, diese Menschen komplett zu verlieren.

Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit – stimmt der Satz? Den finde ich zu abgedroschen. Diesen Satz höre ich auch immer von Leuten, die glauben, dass wir Journalisten aus dem Krieg nicht alles berichten dürfen. Denn da gibt es große Unterschiede zwischen Russland und der Ukraine. Ich war zuletzt 2015 in den sogenannten

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»Ich gehe eigentlich nicht mehr in den Schutzkeller.
ist eine Millionenstadt. Da musst du schon sehr viel Pech haben, damit dich eine Rakete trifft«

„Separatistengebieten“ unterwegs, damals hat man Jagd auf mich gemacht, um mich festzunehmen oder zu töten. Wir sind da nur auf sehr verschlungenen Wegen herausgekommen. Auch in der Ukraine ist der Zugang nicht immer ganz einfach, wenn es etwa um die Front geht oder die Frage, wie frei man mit Soldaten sprechen darf. Aber es ist nicht vergleichbar mit Russland. Wir waren zum Beispiel in

einem ukrainischen Krankenhaus, in dem kriegsversehrte Soldaten behandelt werden. Es war nicht ganz einfach, da reinzukommen, aber wir konnten alles frei aufschreiben und berichten. Und auch im Rahmen der Gegenoffensive im Sommer habe ich mit Soldaten gesprochen, die vieles sehr skeptisch sehen. Im Februar hatte ich exklusiv über den Streit zwischen Präsident Selenskyj und seinem Oberbefehlshaber

Saluschnyj über die Verteidigung von Bachmut berichtet. Natürlich war Selenskyj damals wütend auf mich. Aber er hat mir anschließend trotzdem wieder ein Interview gegeben.

Das liegt doch aber zum Teil auch an deiner Sonderrolle. Immerhin hast du mit „Bild“ die größte Medienmarke Europas im Rücken. Ja, das mag sein. Wobei ich auch finde, dass die

ukrainischen Kolleginnen und Kollegen einen tollen Job machen. Sie haben zum Beispiel viel und kritisch über die hohen Verluste in Bachmut berichtet. Und auch sonst habe ich das Gefühl, dass das Selbstbewusstsein der Kollegen seit dem Krieg noch mal gewachsen ist, gerade wenn es darum geht, die Politik zu kritisieren. Trotzdem versucht Selenskyj sicher, die Berichterstattung in seine Richtung zu lenken. Und

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das finde ich problematisch.

Gerade in der Ukraine hast du viele persönliche, auch freundschaftliche Kontakte. Einerseits ist persönliche Nähe wichtig, um Informationen zu bekommen. Andererseits besteht auch die Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Wie hältst du hier die Balance?

Indem ich so arbeite, wie ich als Journalist immer arbeite: Wenn es eine Geschichte gibt, dann schreibe ich sie auf oder berichte davon im TV. Ich glaube, dass mich da der Lokaljournalismus abgehärtet hat. Ich habe 2005 bis 2007 bei der „Emder Zeitung“ als Sportreporter gearbeitet und hatte meinen Spaß daran, Interna aus der Kabine von Kickers Emden aufzuschreiben. Wenn ich dann morgens beim Bäcker war und die Zeitung gekauft habe, ist die Bäckersfrau immer wütend gewesen und hat geschimpft: „Warum schreiben Sie immer so schlecht über Kickers?“ Und natürlich erlebe ich das auch in der Ukraine. Mich hat zum Beispiel mal Vitali Klitschko gefragt, warum wir in einem Fall so intensiv über Kriegsverbrechen der Ukraine berichten, die seien doch gar nicht vergleichbar mit dem, was Russland mache. Da habe ich ihm gesagt, dass das der Unterschied zwischen Journalismus und Propaganda ist. Wir berichten natürlich auch, wenn auf der ukrainischen Seite etwas Unrechtes passiert. Natürlich habe ich eine tiefe Verbindung zu dem Land. Aber das kann eben auch bedeuten, dass man

noch mehr aufschreiben will, was da wirklich vor sich geht.

Du bist das journalistische Gesicht von drei Medienmarken, „Bild“, „Welt“ und „Politico“, das ist eine große Verantwortung. Hast du dir diesen Schritt selbst gewünscht, oder ist Springer auf dich zugekommen?

Ich bin seit 2008 bei Springer, das sind jetzt 15 Jahre. Und da ist es völlig klar, dass man sich irgendwann Gedanken darüber macht, wie es weitergeht, ob man noch mal woanders hingeht. Und da haben wir uns zusammengesetzt und einen Weg gefunden, der für beide unglaublich spannend ist – auch dadurch, dass Springer „Politico“ gekauft hat und ich dort mitarbeiten kann. Meine großen Interviews laufen seit dem Sommer bei „Bild“, „Welt“ und „Politico“. Auch die Schalten zu Welt TV machen Spaß, die Kollegen machen da einen tollen und hochprofessionellen Job. Gleichzeitig entwickeln wir neue Formate wie jüngst meinen Podcast „Ronzheimer“, wo es um die Arbeit als Reporter geht, um Reportagen und Interviews – auch da erreichen wir noch einmal ein ganz neues Publikum. Meinem Team und mir ist es wichtig, unsere Geschichten auf so vielen Plattformen wie möglich zu erzählen: Text, Video, Audio. All das ist viel Arbeit, aber macht große Freude!

Bei „Bild“ hat sich in den vergangenen drei Jahren sehr viel verändert: Erst – noch unter Julian Reichelt – der große Aufbruch ins TV. Nun der

Rückbau. Damit hast du also deinen Frieden gemacht?

Ich finde, dass „Bild“ wieder auf einem sehr guten Weg ist. Mit Marion Horn und Robert Schneider haben wir zwei Chefredakteure, die sehr viel Erfahrung mit „Bild“ haben und ihre Jobs wirklich großartig machen. Das zeigen auch die Zahlen: Das Interesse an bild.de ist so groß wie noch nie. Klar, es sind schwierige Zeiten und die beiden müssen mit Blick auf die Regionalausgaben sehr harte Entscheidungen treffen. Ich war selbst lange Lokalreporter und fühle mit den Kolleginnen und Kollegen, die das betrifft. Ich glaube aber, dass diese Strukturreform und der Weg, zu zeigen, wo wir hinwollen, genau richtig ist. Besser als jedes Jahr aufs Neue

zu sagen: Wir müssen hier sparen und da sparen. Ich finde, diese Klarheit und Wahrheit ist besser für die Redaktion.

Warum hat „Bild“ auf dem großen Screen, auf dem Fernseher, nicht funktioniert?

Dass Bild TV gar nicht funktioniert hat, dem würde ich widersprechen. Wir hatten zum Teil tolle Quoten, angefangen zum Start des Senders bei der Kanzlernacht, wo wir direkt ein Prozent Marktanteil erreicht haben. Wir hatten Formate, die extrem gut auch im TV funktioniert haben. Als der UkraineKrieg ausbrach, hat das junge Team rund um die Uhr einen fantastischen Job gemacht. Ich bin immer noch stolz, Teil dieses Teams gewesen zu sein. Vielleicht war der Glau-

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REICHWEITE, RELEVANZ, AKTIVIERUNG.

be daran, dass ein weiterer News-Sender funktionieren kann, zu optimistisch, vielleicht waren wir auch zu politisch. Als Staatsbürger bin ich ganz froh darüber, dass Deutschland anders funktioniert als die USA, wo Sender wie Fox News wahnsinnig erfolgreich sind.

Hättest du dir mehr Zeit für Bild TV gewünscht? Sender wie Welt TV und ntv haben schließlich auch Jahre gebraucht, bevor sie erfolgreich waren.

Ja, ich hätte mir gewünscht, dass der Sender mehr Zeit gehabt hätte. Aber das soll keine Kritik am Verlag sein, denn mir gehört der Laden nicht, für mich ist es ein Leichtes, das zu sagen. Den 360-Grad-Ansatz aus TV, Digital und Zeitung finde ich nach wie vor richtig. Die Frage ist nur, wie viel Geld bist du bereit zu investieren und wie schnell musst du auch einen Ertrag haben? Am Ende hat Bild TV in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu viel Geld gekostet.

Nun waren Springer und „Bild“ zuletzt selbst Gegenstand schlechter Nachrichten. Wie geht’s dir damit?

Ach, ich versuche, so wie viele meiner Kollegen, dafür zu sorgen, dass auch positiv über Springer gesprochen wird, dass wir Schlagzeilen, Interviews und Nachrichten produzieren, über die die Menschen reden. Und ich glaube, das machen wir ganz erfolgreich. Man muss auch immer unterscheiden: Klar, es gibt berechtigte Kritik, damit müssen wir uns auseinandersetzen. Darüber hinaus habe ich aber den Eindruck, dass zum Teil mit einer Wonne auf Axel Springer, die Akteure und ehemalige Akteure eingedroschen wird, weil man Springer halt schon immer nicht mochte. Da waren auch Kampagnen dabei. Also das, was man uns immer vorwirft.

Ich sehe auch, dass es Kollegen gibt, die ihr Geschäftsmodell darauf aufbauen, bei Springer das Ohr auf der Schiene

zu haben. Aber „Kampagnen“? Es ist doch zuletzt einfach sehr viel passiert bei „Bild“, worüber Medienjournalistinnen berichten müssen.

Klar, zum Teil war das wie eine Netflix-Serie. Ohne auf Details einzugehen, habe ich auf der anderen Seite auch Situationen erlebt, in denen ich nachweislich belegen konnte, dass es anders war, als es berichtet wurde, aber das hat dann niemanden interessiert. Da arbeiten manche Reporter exakt mit den Methoden, die sie uns gerne vorwerfen. Und die Kolleginnen und Kollegen haben mir dann immer gesagt, dass „Bild“, Springer und seine Akteure eben einfach so gut klicken.

Muss „Bild“ vielleicht konstruktiver werden und auch mal sagen, wenn etwas gut gelaufen ist? Das Horror-Szenario von kalten Heizungen im Winter blieb uns erspart, vom „HeizkostenHammer“ haben

wir auch lange nichts mehr gehört und das Heizungsgesetz ist allen Befürchtungen zum Trotz relativ moderat ausgefallen. Habt ihr an dieser Stelle nicht sehr viel dramatisiert? Wo ich dir recht gebe: Vielleicht hätten wir die Regierung mehr loben müssen für das, was sie richtig gemacht und geschafft hat, zum Beispiel was die Gasspeicher angeht. Ich glaube, das fehlt uns manchmal. Aber der „Heizkosten-Hammer“ bezog sich ja auf tatsächliche Berechnungen, die auch so verschickt wurden. Jetzt kann man sagen, dass es am Ende nicht so schlimm gekommen ist – zum Glück. Aber zum Zeitpunkt der Kalkulationen war das ganz klar ein „Heizkosten-Hammer“. Es war auch die mediale und politische Debatte um den Heiz-Hammer, die daraus am Ende ein Hämmerchen gemacht hat. Es ist unsere zentrale Aufgabe, die Politik kritisch zu hinterfragen, wenn sie tief in das Leben oder

Sesshaft: Paul Ronzheimer, der nicht an jedem Morgen weiß, wo er gerade aufwacht, im Gespräch mit Markus Trantow

38 · turi2 edition #22 · Screen

Portemonnaie der Bürger eingreift.

Dein Ruf als Journalist ist extrem gut, auch über „Bild“ und Springer hinaus. Wirst du in der letzten Zeit öfter mal gefragt, warum du nicht längst bei einem Medium arbeitest, das besser zu deinem guten Ruf passt? RTL, das ZDF, die „Zeit“? Ich habe „Bild“ und dem ganzen Verlag unendlich viel zu verdanken, weil ich hier überhaupt erst die Möglichkeit bekommen habe, weltweit so

viele Reportagen machen zu dürfen. Um ein Beispiel zu nennen: Ich habe von vielen deutschen Kolleginnen und Kollegen gehört, dass ihnen bei Ausbruch des Krieges von ihren Chefs verboten worden ist, in Kiew zu bleiben oder hinzufahren. Bei mir stand auch Mathias Döpfner persönlich dahinter, der mich angerufen und mir gesagt hat, dass er mir und meiner Sicherheitseinschätzung vertraut. Er stand und steht als Vorstandsvorsitzender hinter den Reporterinnen und

Reportern. Das ist nicht selbstverständlich und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Natürlich gibt es mit Freunden und Bekannten immer mal wieder Debatten über „Bild“, aber die führt man eigentlich, sobald man bei „Bild“ unterschrieben hat. Mein Ruf hängt unmittelbar mit Springer zusammen und dem, was ich dort auf allen Plattformen mit maximaler Reichweite veröffentlichen darf.

Daran lasse ich mich messen. Von daher wäre es falsch zu sagen: Paul ist nett, „Bild“ ist böse. n

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»Meine Mutter sagt mir immer, dass ich mich nicht in Gefahr bringen soll. Und dann habe ich ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber«
Leichtes Gepäck: Ob Urlaub oder Kriegsgebiet –was Paul Ronzheimer zum Arbeiten und Leben braucht, passt in seine braune Ledertasche.

Philippe

7 Antworten von Paul Remitz

Meine beste Zeit am Bildschirm verbringe ich mit ... Sebastian Leges Challenges auf YouTube.

Meine tägliche Screentime ... Mindestens acht Stunden, außer am Samstag, denn dann ist „electronics detox day“.

Die größte Verschwendung von Bildschirm-Zeit: Social Media.

Meine drei Lieblings-Apps: Audible, Chess Tactics, Bloomberg.

Das fesselte mich als Kind an den Bildschirm: „Flipper“, „Catweazle“, „Der rosarote Panther“ und natürlich „Raumschiff Enterprise“

Gut, dass es noch kein Smartphone gab, als ... ich Jugendlicher war.

Diese Person dürfte mich jederzeit per Videocall anklingeln: Quentin Tarantino, für mich der ultimative Meister des Storytellings und Inszenierens von Geschichten.

Das würde ich auf den größten Werbescreen der Welt schreiben: If you find a good solution, look for a better one.

Die spannendste Neuentdeckung in Sachen Bildschirm: Faltbare Bildschirme. Screens waren bislang immer mit einer festen Struktur versehen.

Das kann man besser woanders als auf dem Bildschirm erleben:

Die Heimspiele der New York Knicks und Roy Hargrove live im Konzert – leider ist er 2018 verstorben.

Meine beste Zeit am Bildschirm verbringe ich mit ... meiner Familie. In Videokonferenzen von Düsseldorf nach Belgien. Jeden Abend mit meiner Frau und meiner Mutter, wenn ich im Rheinland bin. Und mehrmals die Woche auch mit meinen Kindern.

Meine tägliche Screentime ... ist definitiv zu hoch. Aber es gibt Hoffnung: Laut Apple ist es diese Woche ein Prozent weniger als zuvor.

Die größte Verschwendung von Bildschirm-Zeit ist: X. Weil ich ziemlich neugierig bin und wissen will, was die Welt denkt, ist es eigentlich eine meiner liebsten Apps. Aber fast immer, wenn ich sie schließe, sage ich leise: Bildschirmzeit, Bildschirmzeit!

Meine drei Lieblings-Apps: X, OneNote und Teams.

Das fesselte mich als Kind an den Bildschirm: Sport. Ich fand Spiele schon immer faszinierend. In mei-

ner aktiven Seglerzeit hat mich vor allem der Wettbewerb begeistert.

Gut, dass es noch kein Smartphone gab, als ... wir jünger waren. Bei allen Vorteilen: Das Smartphone ist auch der Totengräber der Privatsphäre, wie wir sie einmal kannten.

Diese Person dürfte mich jederzeit per Videocall anklingeln: Wahrscheinlich meine Frau. Wobei ich generell glaube, dass der spontane Videocall am häufigsten in der AppleWerbung stattfindet. Gehen Sie mal Ihren Tag durch: Wer hat Sie heute aus dem Blauen per Video angerufen? An Weihnachten freuen sich die Eltern über den Videocall. Der Videocall beim Chef um halb elf nachts ist eher eine schlechte Idee – dann doch besser der Chat. Und wenn morgens noch keine Reaktion da ist, ist wohl der Anruf das Mittel der Wahl.

Das würde ich auf den größten Werbescreen der Welt schreiben:

„Wir alle haben zwei Leben. Das zweite beginnt, wenn wir verstanden haben, dass wir nur eines haben.“

Die spannendste Neuentdeckung in Sachen Bildschirm: KI – nicht nur fürs Wort, sondern auch fürs bewegte Bild. Da kommt noch viel digitaler Wilder Westen auf uns zu, der Abenteuer bringt, aber auch Regeln braucht. Darauf freue ich mich.

Das erlebt man besser woanders als auf dem Bildschirm: Alles, was mit Familie und Freunden zu tun hat. Zuweilen auch mit Kollegen. Ich bin ein großer Fan des flexiblen Arbeitens. So hilfreich die digitale Verbindung auch ist: Wir müssen aufpassen, dass sie die menschliche nicht trennt – und wir Kollegen abhängen. Auch in Firmen brauchen wir analoges Miteinander. Der richtige Mix darf nicht aus dem Blick geraten.

40 · turi2 edition #22 · Screen
Paul Remitz ist CEO der Omnicom Media Group Germany Rogge ist Belgier und CEO von Vodafone Deutschland 7 Antworten von Philippe Rogge Fotos: Johannes Arlt, Vodafone

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Screenreife Sätze

»Das Kino ist kein Stück Leben, sondern ein Stück Kuchen«

Filmemacher Alfred Hitchcock

»Es war kein gutes Gefühl, als Frau hinter der Kamera lange eine Art Kuriosität zu sein«

US-Regisseurin Sofia Coppola

»Ich hasse das Fernsehen. Ich hasse es wie Erdnüsse. Aber ich kann nicht aufhören, Erdnüsse zu essen«

Regisseur Orson Welles

»The revolution will not be televised«

Musiker und Poet Gil Scott-Heron

»Was ihr dort seht, das ist nichts anderes als eine Illusion – getüncht, geklebt, getackert und aufgemotzt«

Moderatorin Sonya Kraus über Schönheit im TV

»Bei mir muss zum Schluss geküsst und gefeiert werden. Es sollen Tränen des Glücks fließen«

„Wetten, dass..?“-Erfinder Frank Elstner über die Idee, sein Leben zu verfilmen

»Einfach mal die Glotze auslassen und nicht auch noch die letzte Talkshow des Tages anschauen«

„Tagesschau“-Sprecher Constantin Schreiber empfiehlt BildschirmAbstinenz zum Glücklichsein

»Mir ist es ehrlich gesagt lieber, meinen Mann mit einer anderen Frau im Bett zu erwischen, als wenn er sich verriete und etwas wüsste, was er noch nicht wissen kann – was heißt, er hat ohne mich weitergeguckt«

Charlotte Roche über gemeinsames Seriengucken als Eheversprechen

»Als ich Kanzlerin wurde, gab es noch kein iPhone«

SMS-Fan Angela Merkel

»Historisch gesehen ist Social Media gerade mal fünf Minuten alt. Wir müssen alle noch lernen, wie wir damit leben und umgehen«

Ex-„Bild“-Chef Kai Diekmann

»Wer glaubt, dass Twitter etwas mit der realen Welt zu tun hat, der ist schief gewickelt«

Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn

»Die Grundregel ist: Benimm dich nicht wie ein Arschloch«

Ex-SPD-Digitalo Carline Mohr gibt Tipps für den Online-Auftritt

»Es ist nur eine Zeitfrage, wann es in uns hineinwächst«

Miriam Meckel prophezeit die Verschmelzung von Mensch und Smartphone

Altkanzler und Putin-Freund

Gerhard Schröder während seiner Amtszeit

»Wer aufgrund einer Wetter-App eine Grillparty für den Nachmittag plant, hat die Kontrolle über sein Leben schon verloren«

Wetterfrosch Jörg Kachelmann

»Zum Regieren brauche ich Bild, BamS und Glotze«
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VOGELS KLIMACHECK:

WAS IST BESSER – BIOGAS ODER STROM?

„Beides. Da, wo E-Mobilität an ihre Grenzen stößt, gehen die bei Post und DHL noch einen Schritt weiter auf dem Weg zum grünen Konzern. Alternativen wie biogasbetriebene LKW sind dabei superwichtige Bausteine, die schon jetzt im Einsatz sind. Läuft.“

GELB IST GRÜN.

Selber checken auf: VogelCheckt.de

Digital Detox? Nichts für Bernhard Pörksen. Der Medienwissenschaftler träumt von einer redaktionellen, medienmächtigen Gesellschaft

Interview: Nancy Riegel

Wie hoch ist Ihre tägliche Screentime?

Ich prüfe das lieber gar nicht erst. Und muss anerkennen: Selbst wenn man die Mechanismen der Dauerablenkung kennt und die Formen des Brainhackings analysiert, so wirken sie trotzdem. Und erzeugen einen Stress eigener Art. Auf der anderen Seite des Bildschirms im Silicon Valley, wo ich derzeit forsche, sitzen jede Menge extrem smarter Leute, die genau wissen, wie sie Aufmerksamkeitsströme zum Nutzen der eigenen Plattform lenken.

In Ihrem Buch „Die große Gereiztheit“ schreiben Sie über die kollektive Erregung durch 24/7 am Bildschirm. Woran machen Sie das fest?

Meine These lautet: Vernetzung verstört. Wir

Bernhard Pörksen

ist Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen. Er erforscht die Macht der öffentlichen Empörung und die Zukunft der Reputation und veröffentlicht – neben wissenschaftlichen Aufsätzen – Essays und Kommentare in diversen Medien

»Wir sehen zu viel, zu schnell, zu unmittelbar und zu direkt«

sehen zu viel, zu schnell, zu unmittelbar und zu direkt. Und dies alles auf einem einzigen Kommunikationskanal. Information und Emotion fließen unter den aktuellen Medienbedingungen ineinander, das gerade noch weit Entfernte kommt uns ganz nah. Es ist dieser Kollaps der Kontexte, der – neben den Extremereignissen, dem Geschehen selbst – eine mediale Tiefenursache der großen Gereiztheit darstellt.

Was heißt das? Es bedeutet, dass die feuilletonistische These von der Isolation ganzer Milieus in algorithmisch produzierten Filterblasen nicht länger haltbar ist. Wir können uns zwar in unsere Selbstbestätigungsmilieus zurückziehen, aber den Perspektiven anderer unter vernetzten Bedingungen nicht ausweichen. Die Konsequenz: Es regiert der Filterclash, das permanente Aufeinanderprallen von Parallelöffentlichkeiten; eben dies macht gereizt. Es fehlen Abkühlungs- und Ausweichmöglichkeiten, Formen der Distanznahme.

Auf Nachrichten verzichten ist doch aber auch keine Option. Nein, absolut nicht, auch wenn wir anerkennen müssen: Nachrichtenmüdigkeit und Informationserschöpfung nehmen zu. Und gleichzeitig steigt die Notwendigkeit, als Gesellschaft im Angesicht all der Krisen und Katastrophen ein Denken in der langen Linie zu trainieren, um präventiv und programmatisch zu handeln. Dazu braucht es den kollektiven Fokus, die Konzentration auf das gemeinsame The-

ma und den Diskurs in der Breite, nicht die fragmentierte Aufmerksamkeit.

Waren wir medial 1975 besser dran, als noch keiner am Smartphone klebte und es im TV nur drei Programme gab? Nein. Es gab hier ein anderes Fundamentalproblem: Informationsknappheit aufgrund der spärlich vorhandenen Medienkanäle – ohne Partizipationsmöglichkeiten des Publikums. Heute lautet das Fundamentalproblem: Aufmerksamkeitsknappheit aufgrund der totalen Medienvielfalt und der Beteiligung aller, die man früher das Publikum genannt hätte.

Ist das beste BildschirmAntidot Digital Detox?

Das denke ich nicht, nein. Und argumentiere hier im Kern politisch und als jemand, für den die engagierte Zeitgenossenschaft ein echter Wert ist. Natürlich, es gibt längst ganz unterschiedliche Formen des Digital-DetoxSpießertums. Sie lassen sich romantisch oder religiös begründen, aber auch bloß effizienz- und optimierungsversessen.

Mein Votum: Es braucht einen Balanceakt eigener Art – zwischen selbstfürsorglicher Informationsdosierung und kraftvoller Weltzuwendung. Und diesen Balanceakt gilt es immer wieder neu und unvermeidlich individuell auszutarieren.

Screens filtern die Realität – Unschönes lässt sich wegwischen. Wie kann man gegensteuern?

Der Netzphilosoph Kevin Kelly hat einmal sehr schön gesagt: Wir waren einst Menschen

des Wortes, wir wurden Menschen des Buches und werden nun Menschen des Bildschirms. Das heißt: das Leitmedium des Weltkontakts wird das Smartphone-Display. Die Folge ist eine totale Dominanz visueller Effekte, die Selbstbildstörungen eigener Art produziert. Ein Beispiel: Die Zunahme von Nasen-SchönheitsOPs, weil Menschen die eigene Nase im endlosen Strom der Selfies zu groß und zu dick erscheint. Was kann man tun, um die unterschiedlichsten Negativ-Effekte einer laufenden Medienrevolution einzuhegen? Ich bin nicht grundsätzlich pessimistisch, denke aber, dass in der aktuellen Entwicklung ein großer, gesellschaftlich noch unverstandener Bildungsauftrag steckt.

Brauchen wir einen Bildschirm-Führerschein? Das wäre für mich noch zu klein gedacht, weil man ja einmal eine Prüfung absolviert, aber dann bis ans Ende seines Lebens klarkommt, das Zertifikat im Portemonnaie. Genau das trifft jedoch nicht zu, weil sich die technischen Innovationen förmlich überschlagen. Nur eine einzige Zahl: Rund 75 Jahre benötigte das Telefon, um auf 100 Millionen Nutzerinnen und Nutzer zu kommen. Instagram brauchte für 100 Millionen nur gut zwei Jahre. Die Symbole, mit denen wir uns austauschen, ändern sich. Die Inhalte werden andere. Und es entstehen neuartige Formen der Gemeinschaftsbildung. Das Grundprinzip: Die neue Medienwelt stößt mit Macht auf den Menschen – mit seinem evolutionsgeschichtlich so alten Ge-

hirn, seinen Traditionen, seinen Gewohnheiten, seiner Verführbarkeit.

Was also tun?

Meine Bildungsvision ist die Idee einer redaktionellen Gesellschaft. Ich sage: In den Maximen und Prinzipien des guten Journalismus – prüfe erst, publiziere später; analysiere deine Quellen; höre auch die andere Seite; orientiere dich an Relevanz und Proportionalität – steckt eine Ethik für unsere Gegenwart, in der jeder zum Sender geworden ist, medienmächtig, aber nicht medienmündig. Diese Prinzipien sollten heute in der Schule gelehrt werden. Um nicht missverstanden zu werden: Das bedeutet nicht, dass jeder Journalistin sein oder als Journalist arbeiten sollte, aber die Grundfragen des redaktionellen Bewusstseins sollten zu einem Element der Allgemeinbildung werden. Sie lauten: Was ist glaubwürdige, relevante, überhaupt veröffentlichungsreife Information?

Können Sie der Bildschirmzeit auch etwas Positives abgewinnen? Unbedingt ja. Nehmen wir nur YouTube. Natürlich gibt es hier Desinformation, Hassvideos in Serie, Anreize in Richtung Ideologie und Radikalisierung. All dies ist bestenfalls Zeitverschwendung und im Extremfall politisch hoch gefährlich. Aber YouTube hat auch den Charakter einer gigantischen Lernplattform, die Weltwissen auf leichte, gut aufbereitete Weise zugänglich macht. Und doch: Man muss wissen, was man sucht, um zu finden, was tatsächlich wertvoll ist.

Schlecky Silberstein

Jahrgang 1981, heißt eigentlich Christian Brandes. Er startet als Blogger, heute ist er Gesellschafter und Kreativdirektor der Produktionsfirma Steinberger Silberstein. Silberstein hostet das 2016 bei Funk entstandene Satire-Format

„Browser Ballet“, das mittlerweile für das ZDF neben Kurzvideos auf YouTube auch halbstündige Filme für die Mediathek produziert

»Es ist unfassbar, was uns die Leute durchgehen lassen«

Schlecky Silberstein erklärt, warum sein „Browser Ballett“ Narrenfreiheit genießt und wie ihm sein Zyniker-Dasein hilft

Interview: Tim Gieselmann

Witze im Alltag sind eine Sache. Was braucht es, um auf dem Bildschirm lustig zu sein?

Wir hatten mal die Idee vom großen Kino für kleine Bildschirme und sehen dazu spannende Dinge in den Statistiken. Zum Beispiel, dass sehr viele Leute unsere Online-Clips ohne Ton gucken, dann aber hinterher doch kommentieren. Daraus haben wir mit der Zeit gelernt: Es muss so visuell wie möglich sein. Man muss den Witz idealerweise auch ohne Sound verstehen. Ich glaube, das ist gerade die Herausforderung, wenn man für Mobiltelefone produziert.

Wie geht ihr das an?

Wir haben die alten Charlie-Chaplin- und BusterKeaton-Filme angeschaut und geguckt, wie Humor in der Stummfilmzeit gemacht wurde. Davon sind wir immer noch stark inspiriert. Manchmal macht es auch viel mehr Spaß, darüber nachzudenken: Können wir diesen verbalen Gag nicht auch in einen visuellen Gag umbauen? Das ist in der

Regel immer die bessere Lösung.

Welcher Humor funktioniert auf dem Bildschirm gar nicht?

Wenn eine Sache gut ist, funktioniert natürlich alles. Aber wir versuchen nach Möglichkeit, Talking Heads und Dialoge rauszuhalten. Die können noch so toll geschrieben sein. Wenn im Kern des Clips ein Dialog steht, arbeiten wir mit Requisiten oder ein paar Tricks. Es sollten nicht bloß Menschen sein, die irgendwas sagen.

Ihr wart bei Funk, der ARD, jetzt beim ZDF. Was zieht euch zu den Öffentlich-Rechtlichen? Die Öffentlich-Rechtlichen haben mit Funk ein tolles Ausbildungssystem. Da hatten wir am Anfang das Privileg, scheitern zu dürfen. Normalerweise sind sowas Lippenbekenntnisse und am Ende geht es um Erfolg oder Nicht-Erfolg. Aber bei Funk hatten wir eine ganz andere Narrenfreiheit und haben für uns gelernt, was das „Browser Ballett“ eigentlich ist. Ich glaube, auch

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Schlecky Silberstein spielt Uli, den das SEK in der „Browser Ballett“-Folge „Tag X – Die Deutschlandretter“ für einen islamistischen Klimaterroristen hält

»Es muss so visuell wie möglich sein. Man muss den Witz idealerweise auch ohne Sound verstehen«

die größten anfänglichen Skeptiker können rückblickend sagen: Funk ist eine Erfolgsgeschichte.

Narrenfreiheit braucht ihr jetzt nicht mehr? Die Narrenfreiheit ergibt sich daraus, dass die Leute aus Funk-Tagen wissen, was sie von uns zu erwarten haben und dass wir da beispielsweise in ganz verschiedene politische Richtungen geschossen haben. Wir dürfen jetzt Dinge machen, über die andere wohl stolpern würden. Es ist fürs „Browser Ballett“ sehr schwer, einen Shitstorm zu bekommen. Und wir versuchen es, weil wir glauben, dass das immer noch die beste Promo ist. Es ist unfassbar, was uns die Leute teilweise durchgehen lassen. Das ist Fluch und Segen zugleich.

Sind die beim ZDF eher glücklich oder genervt, wenn ihr eine halbe Stunde lang Markus

Lanz persifliert? Wann schiebt der Sender euch einen Riegel vor? Mittlerweile arbeiten wir so lange zusammen, dass wir gar nichts vorschlagen, bei denen sie irgendwelche Riegel vorschieben. Meistens geht es dann eher um Details, um Aussteuerung von einigen Ideen. Unsere Redaktionen, vorher bei der ARD und jetzt beim ZDF, wissen, was das Format ist.

2010 hast du deinen Blog gestartet. Wie hat sich dein Humor seitdem verändert?

Als der Blog mein Hauptberuf war, Ende der 00er Jahre, war die politische Debatte eine ganz andere. Da hat Anarchie eine große Rolle gespielt und es war mehr Quatsch im

Äther. Ich habe zum richtigen Zeitpunkt aufgehört zu bloggen, denn da ging es los, dass wir alle deutlich mehr Dinge politisiert haben. Im Pitch des „Browser Balletts“ stand witzigerweise nirgends das Wort Satire, es war ein Comedy-Format. Wir haben aber festgestellt, dass die ersten erfolgreichen Clips alle satirischen Einschlag hatten. Also haben wir gemacht, was nachvollziehbar ist: Stärken stärken, Schwächen schwächen. Die Leute mögen es, wenn wir Humor mit Politik verbinden. So sind wir eigentlich Satiriker wider Willen geworden.

Die Nachrichtenlage ist ja aktuell eher zum Weinen. Sind das gute oder schlechte Zeiten, um Menschen zum Lachen zu bringen?

Es sind fantastische Zeiten. Unser aktuelles Motto ist: Alle haben Angst vorm Weltuntergang, wir leben davon. Je mehr Konflikte in einer Gesellschaft sind, desto besser ist es in der Regel für Satire. Ich wurde zur ersten Kanzlerschaft von Gerhard Schröder politisiert. Da hat der Klimawandel öffentlich keine Rolle gespielt. Es ging viel um Arbeitsplätze und Verdienst. Die Debatte wurde sachlich in Zeitungen und TV-Sendern geführt und es wurde deutlich weniger diskutiert, weil es Social Media noch nicht gab. Jetzt haben wir viele hitzige Debatten. Ich weiß nicht, ob sich eine Gesellschaft damit einen Gefallen tut, aber es ist natürlich bessere für Satire.

Sind wir durch all den Input und das Überan-

dann geben wir unser Alleinstellungsmerkmal auf. Es ist total wichtig, dass du als „Browser Ballett“-Fan weißt: Diesen einen Clip fand ich jetzt scheiße, weil ich die politische Haltung dahinter zum Kotzen finde. Aber ich weiß: Nächste Woche kommt bestimmt einer aus einer ganz anderen Richtung.

gebot an Online-Unterhaltung so abgestumpft, dass Humor immer extremer werden muss, damit er wirkt?

Ich beobachte eine positive Abstumpfung. Wir machen langsam bessere Erfahrungen mit der aktuellen Debattenkultur. Bei gewissen Themen regen sich die Leute nicht mehr so wahnsinnig auf wie noch vor fünf Jahren. Vielleicht muss sich der Humor deswegen verändern. Ich glaube eher, dass das Durchdringen generell heute schwerer ist, weil das Überangebot im Unterhaltungssektor irre ist. Vor 20 Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich 90 Prozent aller Serien, die ich gerne sehen wollte, in meinem Leben gar nicht sehe.

Wie viel Prinzipien und Moral stecken in eurer Arbeit?

Ich habe selbst gar keine Haltung und bin eher Zyniker. Sobald ein spannender Konflikt entsteht, will ich daraus einen Gag oder eine Story machen. Aber für andere, jüngere Kollegen sind ihre Stücke kathartisch und das ist auf jeden Fall erlaubt. Es gibt bei uns keine Gesinnungsschranken. Wir dürfen nur insgesamt nicht zu tendenziös werden. Denn

Das heißt: Die Meinungsmischung ist euer Erfolgsmerkmal?

Ja, absolut. Es gibt ja unterschiedliche Satire-Formate in Deutschland und einigen wird eine klare politische Agenda und ein Einschießen auf die gleiche Klientel nachgesagt. Das möchte ich vermeiden. Wenn einige Leute aus dem politisch eher konservativen Spektrum das Logo der geschätzten Kollegen der „heute Show“ sehen, machen die schon dicht. Ich finde es spannend, wenn das „Browser Ballett“-Logo nicht gleich sagt: Das kann gar nichts für mich sein, die haben ihre Agenda. Wenn ich weiß, dass schwer konservative bis rechte Leute von uns nicht abgeschreckt werden, weiß ich auch, dass man zu denen noch durchdringen kann.

Ihr habt euch kürzlich an Till Lindemann und dessen Anwaltskanzlei abgearbeitet. Wie viel hat man da mit dem ZDFJustiziariat zu tun? Gar nicht wäre gelogen. Natürlich müssen wir das prüfen. Aber wir haben da über das ZDF als auch inhouse juristische Beratung. Man tut sich natürlich keinen Gefallen, wenn man gegen Regeln verstößt, aber das wollen wir so oder so nicht. Ich hätte eine Abmahnung

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»Wenn schwer konservative bis rechte Leute von uns nicht abgeschreckt sind, kann ich zu denen noch durchdringen«

von dieser Kanzlei für genau diesen Clip aber auch spannend gefunden, um die Geschichte rund zu machen. Man muss immer auch prüfen: Ist es manchmal nicht auch ein Erfolg, wenn gegen dich geklagt wird?

Eure neuen Halbstünder brauchen viel mehr Vorbereitung. Wie schafft man komplexere Bewegtbild-Satire, die trotzdem aktuell ist?

Das ist das Schwerste. Die Vorlaufzeiten sind wir so nicht gewohnt. Sonst war das „Browser Ballett“ einigermaßen tagesaktuell. Jetzt mussten wir wahnsinnig viele Filmideen wegschmeißen. Aber wir haben gelernt, dass es geht. Vor der Formulierung einer Idee fragen wir uns: Um welches Thema soll es gehen und können wir davon ausgehen, dass es noch mindestens ein halbes Jahr einigermaßen aktuell ist?

Reicht die Aufmerksamkeitsspanne eurer Fanbase überhaupt für die neuen Halbstünder in der Mediathek?

Nein, unsere Stamm-Fans haben diese Aufmerksamkeitsspanne nicht. Das wussten wir aber vorher. Es geht darum, jetzt Leute zu erreichen, die sagen: Ich geb mir auch eine halbe Stunde lang irgendeine Message. Da ist die Chance eher, alte Fans nicht zu verschrecken und neue zu gewinnen.

Ihr macht ja auch Comedy über Geschlechterrollen und -erwartungen. Wie wichtig ist da ein diverser Writer’s Room?

Wir haben einen sehr ausgewogenen Writers Room. Auch auf das gesamte

Unternehmen gerechnet haben wir mindestens 50 Prozent Frauen. Das ist aber keine Firmenpolitik per Quote, sondern hat sich organisch so ergeben. Was natürlich stimmt: Als 41-jähriger Mann habe ich gelernt, dass das ein total wichtiges Korrektiv ist. Und ich glaube schon, dass wir deutlich schlechtere Arbeiten abliefern würden, wenn alle genauso wären wie ich.

Du kritisierst das SocialMedia-Internet, gleichzeitig spielst du dort seit Jahren Inhalte aus. Ist das nicht paradox? Ich vergleiche das mit dem Leben in der DDR. Das ist einfach die Welt, in der du dich befindest. Social Media ist die eine zentrale Informationsund Kommunikationsinfrastruktur, die wir haben und die so weit geht, dass dir in vielen Bereichen Teilhabe fehlt, wenn du nicht daran teilnimmst. Wenn ich Kunst machen möchte, erwartet jeder Auftraggeber, dass die auch auf Social Media ausgespielt wird. Ich kann gleichzeitig trotzdem guten Gewissens gegen die Funktionsweise von Social-Media-Algorithmen sein. Wäre ich ganz konsequent, müsste ich unsere Arbeiten nur auf ethisch unbedenklichen Kanälen präsentieren. Die werden aber von vielen Leuten nicht gesehen.

Du hast beim Sprechen über deine Depression gesagt, dass „Menschen die beste Medizin sind“. Wäre nicht Bühnen-Comedy eine Option? Da hätte ich total Bock drauf. Selbst stehe ich nur sporadisch auf kleinen Bühnen in meiner Hood.

Ich kenne die geile Atmosphäre als Zuschauer, wenn da alle gemeinsam lachen. Dazu kommt auch: In meinem aktuellen Hauptberuf höre ich ja nie Applaus. Wir wissen nicht, bei welchen Gags gelacht wird und das ist eigentlich schade. Wenn es die Zeit zulässt, würde ich mal gucken, ob ich in dem Bereich nicht auch eine Erfüllung finde, aber nicht mit dem Anspruch, daraus eine Karriere zu machen. Das würde wohl nicht nur mich, sondern auch meine Familie überfordern.

Also bleibst du erstmal zweidimensional. Welchen Screen willst du denn noch erobern? Nur die Kinoleinwand haben wir noch nicht bedient. Ansonsten sind wir fast überall. Es ist irre, wenn man sich heute überlegt, dass wir so naiv waren, nur auf Facebook zu starten. YouTube haben wir nur bespielt, weil wir die Filme eh hatten. Danach sind wir den relevanteren Plattformen immer eher hinterhergereist. Wahrscheinlich ist es so: Wenn wir merken, dass da eine aussichtsreiche Plattform ist, würden wir auch mal versuchen, zu den Early Adoptern zu gehören und nicht Late to the Party zu sein. Bei Tik-

Tok haben wir lange Zeit gesagt, dass sich das nicht durchsetzt, und jetzt sind wir wahnsinnig froh, da zu sein, weil es auch noch mal eine ganz andere Erzählfarbe hat.

Spielt ihr auf TikTok deckungsgleiche Inhalte aus?

Auf TikTok haben wir die gleiche Haltung, sind aber viel experimenteller und deutlich alberner. Die Plattform hat mich dadurch positiv überrascht, dass sie erfrischend unpolitisch ist. Dafür gibt es wahnsinnig viel Irrsinn und Kreativität. Es hat mich an meine Bloggerzeiten erinnert. Für uns ist das echt spannend, weil wir zum einen dort jüngeren Autoren sehr viel Spielraum lassen und auch kein teures

Kamera-Equipment leihen, sondern versuchen, Geschichten wirklich nur mit dem Handy zu erzählen. Das macht wahnsinnig viel Spaß. Ganze Videos drehen wir zum Teil in einer Stunde ab, aber die sind genauso gut oder schlecht wie Sachen, bei denen wir uns in zwei Tagen irgendein Riesen-Setpiece aus dem Kreuz leiern. Und sie ziehen teilweise deutlich mehr Views. Ich dachte erst, TikTok wird nerven, aber das Gegenteil ist richtig.

»Ich vergleiche das Leben mit Social Media mit dem in der DDR. Das ist einfach die Welt, in der wir uns befinden«
»Alle haben Angst vorm Weltuntergang. Wir leben davon. Es sind fantastische Zeiten für Satire«

Michaela Kauer-Franz und ihr Mann Benjamin Franz gestalten mit ihrer Agentur für User Experience, UX, digitale Benutzeroberflächen so, dass Menschen sie gerne nutzen

Interview: Anne-Nikolin Hagemann

Als UX-Profis arbeitet ihr an der Schnittstelle Mensch-Screen. Was steuert, ob diese Begegnung ein Erfolg wird?

Michaela: Zu Beginn legt der Auftraggeber mit uns fest, was er durch die Überarbeitung seines Produktes erreichen möchte. Das kann eine schnellere Bedienung sein, weniger Fehler oder einfach ein cooleres Image. Um das erreichen zu können, brauchen wir ein gutes Verständnis von der Zielgruppe, müssen techni-

sche Beschränkungen verstehen und iterativ arbeiten dürfen. Heißt für uns: Wir legen Ziele fest, entwickeln die Schnittstelle Stück für Stück und prüfen mit Nutzenden immer wieder, ob wir auf dem richtigen Weg sind.

Benjamin: Nur wenn man versteht, was Nutzer mit einem Produkt erreichen wollen, kann man es so gestalten, dass sie das auch können. Klingt einfach – ist in der Praxis aber oft komplex. Daher

Michaela Kauer-Franz, Psychologin, und Dr. Benjamin Franz, Maschinenbauingenieur, gründen 2013 die UXAgentur Custom Interactions, spezialisiert auf datenbasiertes, nutzerfreundliches Design von Prozesssteuerungen, Produkten aus der Medizin und Sicherheitsanwendungen. Die beiden haben das Handbuch „Usability und User Experience Design“ geschrieben

ist es wichtig, echten Kontakt mit den Nutzenden zu haben. Nur so können wir schon in der Entwicklung verstehen, ob das Produkt auf dem Markt erfolgreich ist oder nicht.

Wie vertreibe ich eine Nutzerin von meiner App oder meiner Seite?

Benjamin: Halte ich den Nutzenden von seinem Ziel ab, verliere ich ihn. Das kann auch individuell und produktabhängig sein: Eine Person, die gerne lesen möchte, kann ich

abschrecken, wenn ich ein Video anbiete. Eine, die Videos sehen möchte, mit viel Text. Dauerbrenner, die quasi jeden Nutzenden vertreiben: technische Fehler und Dinge, die dem Nutzer nichts bringen, etwa eine Registrierung oder Anmeldung, bevor jemand überhaupt Inhalte sehen darf. Generell kann man auch Nutzende die gleichen Informationen immer wieder angeben lassen oder viele technische Begriffe einsetzen. Eine sehr gute Möglich-

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»Halte ich den Nutzenden von seinem Ziel ab, verliere ich ihn«

keit, jemanden zu vergraulen, ist es, unseriös zu sein: Du könntest zum Beispiel direkt nach den Kreditkartendaten fragen.

Wo begegnen wir im Alltag noch UX-Design, ohne es zu bemerken?

Michaela: UX ist überall um uns. Die User Experience, also das Erlebnis der Nutzenden, kann ich eigentlich immer haben, wenn ich in Interaktion mit einem Produkt oder Service bin. Wenn ich Auto fahre, am Automat eine Fahrkarte kaufe oder die Mikrowelle am Arbeitsplatz verwenden will. UX fällt vor allem dann auf, wenn sie besonders gut ist, weil neuartig und anders. Oder weil sie besonders schlecht ist.

Benjamin: Auch alles um das Produkt herum gehört zur UX, beispielsweise die Werbung, der Kauf oder die Entsorgung. Daher investiert Apple so viel Geld in eigene Stores. Hier kann man sehr genau beeinflussen, wie ein potentieller Kunde mit dem eigenen Produkt in Kontakt kommt und so auch die UX sehr genau steuern. Wusstest du, dass im Apple-Store Laptopscreens auf einen Winkel von 76 Grad eingestellt werden? Damit ist der Bildschirm für eine typische Bedienung zu weit zugeklappt. Das sorgt dafür, dass ein Interessent das Produkt berührt und den Bildschirm aufklappt. So entsteht die erste Bindung zum Produkt – alles UX und bewusst gestaltet.

Habt ihr ein Positiv-Beispiel für clevere UX?

Michaela: Mein Lieblingsbeispiel ist die Entdeckungsliste bei Steam,

einer Plattform, bei der man verschiedene Videospiele kaufen und spielen kann. Ich oute mich jetzt als Nerd: Ich besitze dort über 400 Spiele. Die Entdeckungsliste wird von Steam automatisch anhand meiner gekauften Spiele und meiner Wunschliste erstellt und schlägt mir neue Spiele vor, die ich bisher noch nicht besitze oder kenne. Ich liebe diese Funktion. Damit habe ich schon viele coole Indie-Titel entdeckt, die ich sonst nie gefunden hätte.

Benjamin: Ich liebe Apple CarPlay. Also das „Ich schließe mein Handy in einem Auto an und habe dann meine Bedienoberfläche“-Ding. Es vereinfacht für mich ungemein das Verstehen eines anderen Fahrzeugs – eben, indem ich es nicht verstehen muss. Ich möchte mich nicht mit den Infotainmentsystemen von Autos beschäftigen, sondern einfach einsteigen, meine Musik anmachen und losfahren. Für mich ist das übrigens ein Grund, ein Fahrzeug nicht zu kaufen: Bietet es mir kein CarPlay, kaufe ich es nicht – egal, was es sonst kann oder wie toll es aussieht.

Was wird beim UX-Design zu oft vergessen?

Michaela: Dass UX-Design nicht beeinflusst, wie etwas aussieht, sondern auch und vor allem, was es mir ermöglicht. Es geht um das Zusammenspiel aus Funktion, Bedienung, Außenwahrnehmung und Optik. UX-Design ist nichts, was man am Ende eben noch schnell draufpinselt. Es betrifft die Art und Weise, wie eine Anwendung gedacht wird und muss daher ganz zu

Beginn im Mittelpunkt stehen. Wenn ich UX-Design als „Ich mach es noch schön bunt“ sehe, kann das Ergebnis schon nicht mehr besonders herausragend werden.

Benjamin: Wir vergleichen unsere Arbeit oft mit einem Baum. Die Wurzeln sind die Ergonomie: Ist das Produkt so ausgelegt, dass man es langfristig schädigungsfrei verwenden kann? Der Stamm ist die Usability: Kann ich das Produkt generell ohne Fehler verwenden? Die Krone ist die UX: Wie differenziere ich mich von Wettbewerbern, wie begeistere ich die Nutzenden? Wenn man in der Metapher weitergeht, ist das visuelle Design die Kirsche, ein wichtiger Teil der UX. Nur mit der Kirsche wäre der Baum, also das Produkt, aber nicht lebensfähig.

Wie hat sich der Stellenwert von UX verändert?

Michaela: Mit der ständigen Verbreitung von Technik in unserem Alltag steigt auch der Wert von Produkten mit gutem UX-Design. Technik ist untrennbar mit unserem Leben verbunden, deswegen wird es auch immer wichtiger, so wenig Zeit wie möglich in die Bedienung zu investieren. Die

Zeit, in der Technik von Experten bedient wurde, ist vorbei.

Benjamin: Die Technik, wenn auch allgegenwärtig, sollte immer mehr in den Hintergrund treten. Bei wirklich wenigen Produkten ist das Ziel der Nutzenden die Verwendung des Produkts. Typischerweise möchte ein Nutzer mit der Produktnutzung ein Ziel erreichen. Da es mittlerweile zum Glück immer mehr sehr gut gestaltete Produkte gibt, steigt auch der Anspruch. Es gibt immer weniger Akzeptanz für schlechte Produkte. Wenn ein Produkt nicht funktioniert, findet man heute auch schnell eine bessere Alternative.

Welche Mensch-ScreenBegegnung würdet ihr gerne in zehn Jahren gestalten?

Michaela: Ich würde gerne stärker an ethischen Produkten arbeiten. Dadurch, dass Technik inzwischen omnipräsent ist, nehmen wir durch die Gestaltung starken Einfluss auf das Leben und Verhalten vieler Menschen. Wäre es da nicht schön, Technik zu gestalten, die Menschen dabei unterstützt, die beste Version ihrer selbst zu sein? Sei es moralisch oder auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz.

Benjamin: Ich möchte Produkte gestalten, bei denen ausschließlich die positive UX im Fokus steht und man nicht mehr parallel überlegen muss, welche technischen Restriktionen es gibt. Das Resultat wäre eine Welt, in der jede Mensch-Technik-Begegnung ein Erfolg ist.

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»Es gibt immer weniger Akzeptanz für schlechte Produkte.
Dafür gibt es zu viele gute Alternativen«

Dennis Papirowski von TikTok Deutschland rät Unternehmen, über Videos ein Fenster in ihre Welt zu öffnen. Um viral zu gehen, brauche es nicht viele Follower

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»Videos müssen die richtige Stimmung treffen«
Interview: Nancy Riegel Dennis Papirowski ist Head of Content Programming bei TikTok DACH. Zuvor hat er das Team ContentPartnerschaften geleitet

Wie teilen Medienmarken auf TikTok News, ohne sich zu blamieren?

Wichtig ist, dass das gewählte Format, die Inhalte und die Art der Präsentation zur Medienmarke passen. @Funke setzt auf personality first: Die Journalistin Amelie Marie Weber interviewt Politiker*innen und erklärt komplizierte politische Themen auf einfache Art und Weise. Die @ZEIT bringt Hintergründe zu aktuellen Themen, Infografiken und Best-of-Inhalte aus Podcasts wie „Zeit Verbrechen“. Allen voran ist die @tagesschau zu nennen, die mit einem Team aus Moderator*innen aktuelle Nachrichten mit der GreenscreenFunktion von TikTok aufnimmt und erklärt. Sie ist seit November 2019 dabei und hat 1,4 Millionen Follower gewonnen. Obwohl sie auf Deutsch sendet, ist sie damit eine der größten Nachrichtenmarken auf TikTok weltweit.

Müssen Medienmarken unbedingt viral gehen?

Inhalte stehen im Fokus und können auch unabhängig von hohen Follower-Zahlen eine große Community erreichen. Das Wissenschaftsformat des ZDF, @TerraX, ist da ein super Beispiel. Das zweite Video zur Frage „Warum sind Bienenwaben sechseckig?“ ist direkt durch die Decke gegangen und hat 1,5 Millionen Views erreicht. Da hatte TerraX weniger als 100 Follower*innen.

Wie können Journalistinnen mit TikTok Geld verdienen?

Jede*r kann im Video-Format Geschichten erzählen und durch Entdeckungen

und Selbstdarstellung mehr Engagement erreichen. Daraus ist ein Off-Plattform-Impact festzustellen, auch für Medien: Nutzer*innen lassen sich auf TikTok inspirieren, dem folgt eine Aktion außerhalb der Plattform, etwa bei Musik. Sie streamen ihre neu entdeckten Songs auf Spotify oder kaufen sich CDs oder Schallplatten. Bei #BookTok kaufen sie Bücher im Buchhandel. Ähnliche Auswirkungen sehen wir auch bei Film und Fernsehen. Es gibt Tools, Inhalte auf TikTok zu monetarisieren, wie beispielsweise Series. Damit können Inhalte-Sammlungen hinter einer Paywall veröffentlicht werden.

Wie komme ich an die passende Zielgruppe?

Kurz gesagt: über die Inhalte. Unser Vorschlag für Unternehmen: Öffnet ein Fenster und lasst das Publikum einen Blick in eure Welt werfen. Findet heraus, welches Fenster ihr öffnen könnt und möchtet und bei welchen Themen oder Verticals ihr echt und authentisch sein könnt. Stellt eine emotionale Verbindung her – ob humorvoll, überraschend oder authentisch. Videos müssen die richtige Stimmung treffen, in den Kontext passen und sollten nicht überinszeniert sein. Dafür gilt es auch, mit Inhalten zu experimentieren, verschiedene Formate und Produktionsstufen auszuprobieren, um zu sehen, was beim Publikum ankommt, und anhand dessen zu ermitteln, was für ihre Marke am besten funktioniert.

In welchem Fall lagern Unternehmen ihren Tik-

Tok-Kanal am besten an eine Agentur aus?

Der Vorteil einer Agentur ist, dass direkt und ohne Vorlaufzeit auf vorhandene Expertise zugegriffen wird. Wenn die Marketingkompetenz auch für digitale Kanäle intern gegeben ist, beziehungsweise TikTok ein strategischer Kanal wird, macht es durchaus Sinn, eigene Ressourcen aufzubauen. Es ist nämlich einfach, mit TikTok loszulegen – mit kreativen Tools kann man direkt partizipieren, auf aktuelle Trends aufspringen und so mit wenigen Ressourcen viel erreichen. Das sehen wir beim Fußball-Bundesligisten Mainz 05 oder beim Spieleentwickler MrLuchs. Beide erreichen mit ein bis zwei Personen regelmäßig eine große Community und Fanbasis.

Wie gehen Unternehmen bei TikTok erfolgreich auf Bewerbersuche?

Das funktioniert vor allem dann, wenn Inhalte nahbar und authentisch sind und sich nativ in die Plattform einfügen. Die Inhalte dürfen edutaining und informativ sein, denn auch solcher Content ist auf TikTok gefragt, wie die Hashtags #Karriere oder #Ausbildung zeigen. Ein

super Beispiel ist @die.azubis, ein Account der IHK, auf dem echte Azubis regelmäßig Einblicke in ihr Leben in der Ausbildung geben. Zum deutschlandweiten Ausbildungsstart am 1. September hat die IHK mit Thjnk Hamburg eine Kampagne gelauncht, die die neuen Azubis am ersten Ausbildungstag begleitet und motiviert. Und zwar mittels einer Medienkombination, die es so noch nicht in Deutschland gab: TikTok und DOOH.

Was sagen Sie Marken und Firmen, die TikTok aus Datenschutzgründen nicht nutzen?

Wir sind gesprächsbereit und möchten die Bedenken hinsichtlich unserer Plattform ausräumen.

Dabei geht es auch darum, Fehlinformationen über unsere Plattform zu korrigieren und zu zeigen, an welchen Lösungen und branchenführenden Initiativen zum Schutz von Nutzer*innen und Unternehmen wir arbeiten. So haben wir 2021 eine Strategie zur Datenverwaltung in Europa festgelegt und treiben das Thema aktuell mehr denn je voran. Außerdem setzt sich TikTok für die Umsetzung der Bestimmungen des DSA ein. Auf unserem Blog können entsprechende Updates verfolgt werden.

Was wird der nächste große TikTok-Trend?

Wir sehen eine deutliche Entwicklung bei Storytelling, das sich weg vom Hochglanz bewegt. Inhalte und Formate entstehen, mit denen sich Menschen auf einer persönlichen Ebene identifizieren können, anstatt nur oberflächliche Perfektion zu zeigen.

»Wenige Ressourcen sind kein Hindernis. Es gibt Accounts, die mit ein bis zwei Personen regelmäßig eine große Community erreichen«

»Ich möchte die Herrschaft über meinen Kühlschrank nicht verlieren«

Als Marketing Director bei Samsung verkauft Mike Henkelmann smarte Fernseher und Backöfen. Im Showroom in Schwalbach bei Frankfurt sagt er, wo Technologie an ihre Grenzen stößt

Von Tim Gieselmann (Text) und Johannes Arlt (Fotos)

Mike Henkelmann, bestellt dein Kühlschrank selbstständig Milch, bevor sie alle ist?

Die Vision, dass der Kühlschrank irgendwann einmal selbst Lebensmittel bestellt, damit der Lieferservice sie bringt, ist bis dato noch keine Realität. Aber theoretisch wären die Geräte bereits in der Lage, einen Bestellprozess auszulösen. Ein Szenario, das aktuell schon genutzt wird ist, dass wir mit dem Smartphone während des Einkaufens in den vernetzten und mit Kameras ausgestatteten Kühlschrank schauen können, um beispielsweise festzustellen, ob noch Milch da ist. Darin sehe ich für mich einen großen Mehrwert.

Aber glaubst du, Menschen lassen sich darauf ein, dass Kühlschränke Bestellungen aufgeben? Würdest du dich darauf einlassen?

Auf gar keinen Fall. Da sind wir ja schon zwei. Ich persönlich möchte die Herrschaft über meinen Kühlschrank nicht verlieren, insbesondere nicht über das Budget. Nicht, dass eines Tages plötzlich 30 Liter Milch vor der Tür stehen.

Samsung stellt Handys, Tablets, Smartwatches und TV-Geräte her, aber eben auch Kühlschränke, Waschmaschinen und

Küchenherde. Was für ein Mehrwert entsteht aus diesem Produktmix? Große Hausgerätemarken haben keine Smartphones und TVs, andere TV-Hersteller umgekehrt keine Küchengeräte. Wir dagegen haben das Potenzial, das gesamte Portfolio an Geräten miteinander sprechen zu lassen und zu vernetzen. Wir haben zum Beispiel zur FußballWM 2022 über das Smartphone mit unseren TVs zusammen Multi-View angeboten. Kundinnen und Kunden konnten die Spiele am Fernseher über Magenta TV anschauen und sich über das Smartphone in der Sportworld-App weitere Kameraperspektiven anzeigen lassen sowie Statistiken und Analysen erhalten. Bei Fußballspielen der deutschen Mannschaft ist die Nutzungsrate wenig überraschend extrem angestiegen. Und auch die Verweildauer in der App war hoch. Wir möchten, dass Kundinnen und Kunden einen Mehrwert haben und in den Genuss von Unterhaltung kommen, den sie vielleicht bei anderen nicht haben.

Beim Second Screen leuchtet mir das ein. Aber warum soll ich jetzt noch meine Waschmaschine verbinden?

Händisch befüllen muss ich die doch eh.

Energiesparen ist für mich das überzeugendste Argument. Wenn der Strom

aus der Photovoltaikanlage kommt, sollte man eigentlich waschen, wenn die Sonne scheint. Ein PV-Balkonkraftwerk kann in Zukunft bis zu 800 Watt erzeugen. Davon kann ich die Waschmaschine betreiben, aber ich muss sie zum richtigen Zeitpunkt einschalten können. Das funktioniert per App, auch wenn ich nicht zu Hause bin.

Welche Smart-Home-Geräte hast du zu Hause vernetzt?

Über die Samsung SmartThings-App sind der Fernseher, die Soundbar, der Kühlschrank, die Rollläden und die Photovoltaikanlage vernetzt. Mein 19-jähriger Sohn ist sehr technikaffin und hat ebenfalls sehr viele Dinge in Betrieb, darunter natürlich auch einen eigenen Router. Über SmartThings Energy kann ich den Energieverbrauch im Haus einsehen und aktiv managen. Das ist grundsätzlich der erste Schritt. Auch den Verbrauchern und Verbraucherinnen ist es derzeit besonders wichtig, einsehen zu können, welchen Energiebedarf sie haben. Mit SmartThings Energy bieten wir diesen Überblick an, was wiederum den Nutzerinnen und Nutzern clevere Entscheidungen ermöglicht: Ich stelle fest, dass ich auf den Eisschrank verzichten kann oder kaufe ein energieeffizienteres Gerät.

studiert Elektro- und Nachrichtentechnik an der TU Darmstadt. Er arbeitet als Entwicklungsingenieur für den US-Hörschutz-Hersteller Howard Leight, zur Jahrtausendwende heuert er beim japanischen Unterhaltungselektroniker Kenwood an. Dort managt Henkelmann Home-Entertainment-Produkte, bis er 2003 zu Samsung wechselt. Heute ist er bei Samsung Director Marketing Consumer Electronics und verantwortet die Bereiche TV & Audio, Hausgeräte und Display

Wir haben zum Beispiel zu Hause kein Eisfach und keinen Eisschrank mehr, weil wir ihn schlicht nicht brauchen. Ich habe meine Photovoltaikanlage mit den Geräten verbunden und versuche, dass unser CO2-Fußabdruck gering ist. Das ist meine Motivation, Investitionen zu tätigen und ich glaube, das muss für die Zukunft unser aller Motivation sein.

Das heißt, du regelst sehr viel über den Bildschirm. In welchem Lebensbereich verzichtest du gerne auch mal auf Screens?

Da gibt es einige. Wenn mein Sohn sonntags Fußball spielt, dann schaue ich live zu, da brauche ich keinen Screen. Beim Joggen logischerweise auch nicht. Ich genieße es, auch mal in Ruhe etwas zu tun, ein Buch zu lesen zum Beispiel. Aber am Ende sind wir zu Hause schon sehr technikbegeistert, das muss ich zugeben.

Gibt es wirklich Menschen, die alles zu Hause vernetzt haben? Oder ist das eine Utopie für Reiche?

Ich denke, dass die Vernetzung den Status der Early Adopter überschritten hat. Das vernetzte Zuhause setzt sich dann durch, wenn Menschen einen echten Mehrwert davon haben. Meinem Eindruck nach wird es in der Tat bestimmten Leuten vor-

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behalten sein, einen rundum smarten Neubau zu realisieren. Wir haben aber viele Bestandsbauten in Deutschland, bei denen die Frage ist: Wie kann ich diese modernisieren?

Da liegt aus meiner Sicht die Gelegenheit, Lösungen anzubieten. Davon kann auch die breite Masse profitieren. Eine WLAN-fähige Waschmaschine kostet nicht viel mehr Geld als eine herkömmliche – und das ist gut investiert. Die SmartThings-App ist kostenlos und technologieoffen, also kann man auch Geräte steuern, die nicht von Samsung sind. Uns ist es sehr wichtig, Schnittstellen zu anderen Herstellern zu finden.

Ich würde einfach mal vermuten, dass die Deutschen bei der Adaption solcher Technologien etwas skeptischer sind?

Deutsche Konsumentinnen und Konsumenten müssen einen klaren Nutzen sehen. Wir haben vor 15 Jahren einmal eine kleine Kamera, so groß wie eine Hand, mit ausbaufähiger Video-

qualität eingeführt. In Deutschland hat sich das Produkt nie durchgesetzt, wohingegen es in Italien sehr gut lief, da der Markt offener für LifestyleGadgets zu sein scheint. Deutsche Kundinnen und Kunden sind kritischer, haben aber eine sehr hohe Bereitschaft, Geld für Unterhaltungselektronik auszugeben. Wenn man ihnen eine Lösung anbietet, sind sie bereit zu investieren, weil sie grundsätzlich technologiebegeistert sind.

Du bist seit 2003 bei Samsung. Wann fing das überhaupt an, dass alles miteinander vernetzt werden sollte?

Schon vor meiner Zeit bei Samsung waren in der Automatisierung oder im Maschinenbau solche Prozesse gang und gäbe. Dann stellte sich die Frage: Wie zieht das in den Haushalt ein?

In der Unterhaltungselektronik haben wir den Anspruch, Produkte unterhaltsam zu gestalten und das Leben zu vereinfachen. Deswegen wurde

Ist noch Milch da? Mike Henkelmann checkt den Inhalt eines Kühlschranks im Schwalbacher Showroom. Selber kochen kann das Gerät die Gnocchi-LachsPfanne leider noch nicht

das Thema Vernetzung schon sehr früh gedacht. Konsequent umgesetzt wurde es mit der Übernahme von SmartThings 2014. Und die Entwicklung ist gewaltig. Früher hat zum Beispiel die Installation einer Videokamera zu Hause einen riesigen Stress bedeutet: Netzwerkkabel, Stromversorgung, Videobänder anstatt Cloud-Systeme. Ein durchschnittlicher Haushalt nutzt hierfür erst seit fünf bis acht Jahren neue Produkte und Lösungen. Wir gestalten die Zukunft. Es ist wichtig, dass sich Deutschland weiter digitalisiert, um die Bandbreite vorhandener Produkte nutzen zu können.

Apropos Sicherheit:

Wenn ich jetzt mein Türschloss nur noch per App öffne, was mache ich dann bei Stromausfall? Oder wenn ich mein Handy verliere? Da ist doch eine große Abhängigkeit.

Ich bin kein Fachmann für Türsysteme. Aber schauen wir einmal aufs Auto, das ist ja auch mittlerweile

ein rollender Computer. Da sollte ich, wenn die Elektrik versagt, notfalls das Cabriodach auch manuell bedienen können. Genauso würde ich nicht alle meiner Hausschlösser elektronisch sichern. Man benötigt Notfallszenarien und die Möglichkeiten dafür gibt es. Am Ende ist es eine Ermessensfrage, wie sehr ich mich vernetze.

Wie sicher bin ich vor Hackern?

Wir haben mit Samsung Knox eine Technologie, mit der wir unsere gesamten Produkte sichern – auch wir selbst im Konzern. Hacker-Angriffe wird es weiterhin geben. Bis jetzt haben unsere Systeme standgehalten, und das soll auch so bleiben. Für uns hat es höchste Priorität, dass wir Kundinnen und Kunden bestmöglich schützen.

Hand aufs Herz: Findest du Kameras im Kühlschrank nicht auch etwas bizarr, wenn nicht sogar gruselig?

Bizarr ist es nicht, es ist bequem. Jeder muss für sich selbst definieren, was er gerne möchte. Es ist lediglich ein Angebot für unsere Kundinnen und Kunden. Wenn jemand sagt, „In meinen Kühlschrank schaue ich nur analog rein“, ist das auch okay.

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»Das vernetzte Zuhause setzt sich dann durch, wenn Menschen einen echten Mehrwert davon haben«

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Samsung Electronics 1969 in Südkorea gegründet, produziert zunächst u.a. Schwarz-Weiß-Fernseher und Mikrowellen. Heute zählt der Konzern mit seinen rund 270.000 Angestellten zu den größten der Welt, stellt Smartphones und Röntgengeräte, Waschmaschinen und Halbleiter her. Der Name Samsung bedeutet übersetzt „Drei Sterne“. Die verschwinden aber schon 1993 aus dem Firmenlogo

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Mike Henkelmann im Videofragebogen unter turi2.de/koepfe

Wird man nicht zu bequem durch die Möglichkeiten, per Bildschirm Dinge erledigen zu lassen?

In stressigen Zeiten ist Bequemlichkeit hilfreich. Vor Familienurlauben wurden früher BenzinGutscheine vom Automobilclub bestellt, die Reiseroute ausgedruckt und wenn man in einen Stau geraten ist, musste man eben warten. Heute springst du ins Auto und sagst: „Ich habe mein Smartphone, mir kann nichts mehr passieren.“ Du könntest damit sogar noch das Licht zu Hause ausschalten, wenn es noch brennt. Ja, man wird bequemer, aber gewinnt auch Zeit und damit das wichtigste Gut, was wir heutzutage haben.

Per SmartThings-App kann ich dann sogar meine Miele-Waschmaschine oder meinen Bosch-Kühlschrank ausstellen. Ist das Ziel der Vernetzung nicht, Menschen komplett an eure Marke zu binden?

Natürlich gehört Kundenbindung zu unseren Unternehmenszielen. Aber wichtiger ist es für Samsung, das alltägliche Leben unserer Kundinnen und Kunden durch die Vernetzung der Geräte im Haushalt zu vereinfachen. Als Hersteller mit einem sehr breiten Portfolio profitieren wir davon, dass Konsumentinnen und Konsumenten früh mehrere Berührungspunkte mit unseren Produkten haben. Deutsche Konsumentinnen und Konsumenten haben im Schnitt ohnehin zwei bis drei SamsungProdukte zu Hause. Der erste Kontakt ist oft ein Smartphone. Wenn ein

junger Mensch zufrieden mit seinem SamsungSmartphone ist, dann kauft er sich hoffentlich auch die Samsung-Waschmaschine, auch weil man sie über das Smartphone bedienen kann. So kumuliert sich das. Bei meiner Mutter musste es immer eine Waschmaschine einer deutschen Traditionsmarke sein und das ist auch okay. Wir wollen alle Kunden mit unseren Produkten ansprechen und freuen uns besonders in den letzten Jahren über den Zuspruch der sogenannten Gen Z.

Stichwort Smartphone: Deutlich stärker als seine Smart-Home-Lösungen bewirbt Samsung gerade sein Flip Phone mit klappbarem Display. Muss man jungen Leuten immer noch krassere Smartphone-Neuerungen anbieten, damit sie bei einer Marke bleiben? Oder ist das Smartphone als Innovationsfeld irgendwann sowieso auserzählt?

Das glaube ich nicht, Smartphones gehören mit zu den innovativsten Produkten auf dem Markt. Man muss sich nur vor Augen führen, was sich allein bei unseren Produkten in den letzten 14 Jahren, seit unserem ersten Smartphone, dem Samsung Galaxy GT-i7500,

getan hat. Seit ziemlich genau vier Jahren gibt es zudem die neue Kategorie Foldables. Diese haben wir als logische Konsequenz der Wünsche unserer Kundinnen und Kunden entwickelt. Gefragt sind große Displays, allerdings gerne in einem kompakten Format. Oder starke Kameras, mit denen Selfies ganz einfach von der Hand gehen – wie mit der FlexCam. Wie erfolgreich das neue Konzept ist, zeigt sich in der steigenden Beliebtheit. 2019 wurden global 600.000 Foldables umgesetzt, 2022 waren es bereits 13 Millionen – mit fast zehn Millionen Foldables von Samsung werden wir als Innovationstreiber in dieser Kategorie gesehen. Aber das Zusammenspiel unserer Produkte, sei es mit SmartThings oder im Galaxy-Ecosystem, ist ein entscheidendes Kriterium. Die Menschen wollen Technik, die funktioniert und das am liebsten mit einem Klick. Das zählt auch für Smartphones.

Welche neuen ScreenTechnologien werden erst noch kommen? Was haben wir heute vielleicht noch gar nicht auf dem Schirm?

Samsung gibt jährlich acht Prozent des Umsatzes für Forschung und Entwicklung aus. Das ist schon immens. Wir sind sehr zahlen- und datengetrieben und können schnell auf die Bedürfnisse der Konsumentinnen und Konsumenten reagieren. Wir sehen im TV-Bereich schon in naher Zukunft andere Bildschirmtechnologien mit Micro-LED. Da gibt es Möglichkeiten, mit viel mehr Leuchtkraft

zu agieren, und das Bild wird sich noch weiter verfeinern. Klar ist auch, das Auge hat natürliche Grenzen. Das sollte man nicht überfrachten. Die Herausforderung ist, das Erlebbare energieeffizient darzustellen.

Gilt beim Fernsehbildschirm wirklich: Je größer, desto besser?

Ja, natürlich. Der Irrglaube war ja früher, dass man das Fünffache der Bildschirmdiagonale an Abstand zum Gerät einhalten sollte. Das stimmt nicht. Man sitzt heute auch am Computermonitor viel näher. Und eine Person, die einmal einen großen Bildschirm hatte, möchte diesen ungern wieder missen. Die Entwicklung zu immer größeren Screens ist deutlich. Der Durchschnitt verkaufter TV-Geräte liegt etwa bei 55 Zoll. Vor zehn Jahren waren es noch 48 Zoll. Aber hier gilt wie bei der Fotografie: Je größer das Bild, desto besser muss die Auflösung sein. Deswegen haben wir die 8K-Technologie eingeführt.

Experten sagen, dass mit 4K das erreicht ist, was das menschliche Auge wahrnehmen kann. Verliert man sich nicht irgendwann in Details, die wir Menschen überhaupt nicht verarbeiten können?

Das ist meine Lieblingsfrage. Du hast an sich recht: Aufgrund des vorliegenden Materials, also Filmen zum Beispiel, ist 4K das, was man heute gut übertragen kann. Bei einem 8K-Bildschirm ist aber jeder Bildpunkt ein Kreis. Da ist der Buchstabe O wirklich kreisrund und kein Zackenwerk wie bei

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»Man hat vor zehn Jahren geglaubt, dass der Fernseher in deutschen Haushalten ein Auslaufmodell ist. Das Gegenteil ist der Fall«

der 4K-Technik. Wenn du heute eine 8K-Fotografie siehst, hast du eine andere Tiefenstaffelung. Man sieht den Hintergrund deutlich schärfer und hat ein natürliches und plastischeres Seherlebnis. Man sieht das im Vergleich zweier Bildschirme. Wir haben mit Sky eine Staffel von „Das Boot“ in 8K coproduziert, die nur auf Samsung TVs angesehen werden konnte. Das war das erste Mal, dass wir den Content mitinitiiert haben. Der Unterschied zwischen HD und 8K war riesig.

Wird Samsung wieder unter die Produktionsfirmen gehen?

Das Gerät liefert auch bei einem 4K-Inhalt einen deutlichen Unterschied, aber wir wollten unseren Kundinnen und Kunden zeigen, was mit einem 8K-Fernseher möglich ist. Mit Sky haben wir einen erfahrenen Kooperationspartner gefunden. Das Filmen mit 8K-Kameras war ein großer Produktionsaufwand, gerade in Hinblick auf Beleuchtung und Make-up. Aber das Ergebnis ist sehr stark. Wir sind nicht in die fünfte Staffel

eingestiegen, aber immer dafür offen, auch mal Projekte generisch mit anzuschieben.

Geht diese Fokussierung auf den immer größeren Fernsehbildschirm nicht völlig an der Realität vorbei, in der zwar alle ein Smartphone, aber viele in meinem Alter oder jünger gar keinen TV mehr zu Hause haben?

Man hat vor zehn Jahren geglaubt, dass der Fernseher in deutschen Haushalten ein Auslaufmodell ist. Das Gegenteil ist der Fall. Es geht eher um die Second-Screen-Nutzung mit Tablet oder Smartphone. Aber ein Fußballspiel oder einen Film auf dem großen Screen zu sehen, wird immer ein größeres Erlebnis sein als im mobilen Bereich. Zudem kann der TV die Schaltzentrale im Smart Home sein, um Dinge mit der Fernbedienung zu steuern. Diese Szenarien gibt es, und deswegen wird der TV aus den Wohnzimmern nicht verschwinden. Siehst du das anders?

In meiner Wohnung gibt es einen Beamer

Wie viel Vernetzung bleibt Symbolbild, wie viel wird Realität? Tim Gieselmann im Gespräch mit Mike Henkelmann

im Wohnzimmer und immerhin noch einen alten TV im Schlafzimmer, aber in meinem Freundeskreis sind einige Leute komplett ohne Fernseher. Stabile Absatzzahlen mit sieben Millionen Fernsehern jährlich in Deutschland sind schon ein Wort. Die Zahlen zeigen auch, dass es keine Kannibalisierungseffekte zwischen Smartphone und TV gibt. Klar, Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber ein Fernseher ist heute mehr, als wir vor zehn oder 15 Jahren geglaubt haben. Mit The Frame TVs haben unsere Kundinnen und Kunden die Möglichkeit, sich mit einer matten Oberfläche ein Gemälde anzeigen zu lassen. Viele Betrachter glauben nicht,

dass das ein TV-Gerät ist. So ein Fernseher kann dann einfach als Bilderrahmen existieren. Daher schaue ich positiv in die Zukunft.

Was sagt deine Erfahrung, in welchen Bereichen, wo auf dem Bildschirm werden wir in Zukunft die größten Veränderungen erleben? Ich glaube, wir werden im Metaverse einiges erleben – virtuelle Welten, die wir uns heute noch nicht vorstellen. Oliver Kahn war lange unser Testimonial. Als er noch CEO des FC Bayern war, hat er erzählt, dass ein virtuelles Stadionerlebnis für ihn der nächste Schritt ist. Das Stadion ist auf 75.000 Leute limitiert, aber bei einem Champions-League-Spiel könnten sie das Sechsoder Siebenfache an Karten verkaufen. Tickets für VR-Nutzung, mit denen der Sportfan mit Brille von zu Hause das Spiel erlebt, sind schon gar nicht mehr so weit weg. Das zeigt: Man hofft auch außerhalb der produzierenden Unternehmen auf neue Technologien, um neue Geschäftsmodelle zu erschließen.

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»Wir haben das Potenzial, das gesamte Portfolio an Geräten miteinander sprechen zu lassen«

Andrea Schafarczyk ist Vize-Intendantin des WDR sowie Programmdirektorin für Nordrhein-Westfalen, Wissen und Kultur

7 Antworten von Andrea Schafarczyk

Meine beste Zeit am Bildschirm verbringe ich mit ... Menschen.

Meine tägliche Screentime ... ist viel zu lang. Ab und zu verabrede ich mich mit Kolleg:innen zum Spazierengehen anstatt zur Video-Konferenz. Für Ideen ist es wichtig, das Gewohnte zu durchbrechen. Oft helfen ein paar Schritte. Die größte Verschwendung von Bildschirm-Zeit: Auf drei Screens unterschiedliche Sachen zu machen und von keiner wirklich etwas mitzubekommen.

Meine drei Lieblings-Apps: die ARD-Mediathek, um beim Sportmachen neue Dokus zu gucken. Radio Garden, um Radiosender aus der ganzen Welt kennenzulernen und die

ARD-Audiothek für Hörspiele, Podcasts und Talks.

Das fesselte mich als Kind an den Bildschirm: Die Musikvideosendung „Formel Eins“, für mich eine der ersten Türen zur Popkultur.

Gut, dass es noch kein Smartphone gab, als ... ich zur Schule gegangen bin. Ich musste mir keine Gedanken darüber machen, wer welche Fotos und Videos von mir hat und teilt. Der Nachteil: Ich habe heute kaum Fotos und Videos von meinen Mitschüler:innen. Auch schade.

Diese Person dürfte mich jederzeit per Videocall anklingeln: Die Liste ist lang, ich bin ein neugieriger Mensch. Jeder kann mich anrufen, ob ich

rangehe oder nicht, kann ich ja immer noch entscheiden.

Das würde ich auf den größten Werbescreen der Welt schreiben: Miteinander ist immer der Erfolg bringendste Weg!

Die spannendste Neuentdeckung in Sachen Bildschirm: Ich liebe Dokus und schaue fast alles von Rabiat und YKollektiv. Besonders gut fand ich zuletzt „Nothing Compares“ über Sinéad O’Connor und „Queer Underground –Ballroom als Safe Space“.

Das kann man besser woanders als auf dem Bildschirm erleben: Mit Freund:innen stundenlang um einen Tisch voller Essen sitzen und reden, bis alle müde umfallen.

7 Antworten von Jeannine Michaelsen

Meine beste Zeit am Bildschirm verbringe ich mit ... Facetime mit meiner Tochter oder Menschen, die ich sehr mag. Sich beim Sprechen anzuschauen, ist die schönste Form von Gespräch für mich.

Jeannine Michaelsen moderiert bei ProSieben u.a. „Das Duell um die Welt“ mit Joko und Klaas

Meine tägliche Screentime ... ist wahrscheinlich zu lang. Vor allem diese Übersprungshandlung, zum Handy zu greifen, wenn man gerade nicht anders beschäftigt ist, nervt mich sehr. Ich versuche, mir das abzugewöhnen.

Die größte Verschwendung von Bildschirm-Zeit:

Die „Empfehlungen“ der Social-Media-Apps. Ich werde da reingesogen und leer wieder ausgespuckt. Bei einem von 100 Videos bleibt was bei mir hängen. Der Rest sind verbrannte Zeit und Hirnzellen.

Meine drei Lieblings-Apps: Duolingo, ich versuche mich gerade an Italienisch. Erinnerungen, denn ich bin ein Schlurf mit Sieb als Hirn. Sprach-Notizen, denn ich blubbere jede noch so halbgare Idee einfach rein, dann verliere ich sie nicht.

Das fesselte mich als Kind an den Bildschirm: „Friends“, „Knight Rider“ und die „Gilmore Girls“.

Gut, dass es noch kein Smartphone gab, als ... ich Jugendliche war. Social Media hätte mich fertig gemacht.

Diese Person dürfte mich jederzeit per Videocall anklingeln: Meine Tochter. Weil sie meine Tochter ist. Und Foo-Fighters-

Sänger Dave Grohl. Weil er Dave Grohl ist.

Das würde ich auf den größten Werbescreen der Welt schreiben: Guckt euch an und hört euch zu. Bitte.

Die spannendste Neuentdeckung in Sachen Bildschirm: Für mich „Miro“, eine virtuelle Pinnwand, fast unendlich erweiterbar. Man kann da mit anderen Notizen schreiben und kleben bis zum Umfallen. Ich liebe Pinnwände.

Das erlebt man besser woanders als auf dem Bildschirm: Mich. Im TV bin ich auch echt nett. Aber schaut doch ab Oktober bei meiner ersten Comedy-Tour vorbei. Ein Theater hat ‘ne schönere Atmosphäre als jedes Wohnzimmer.

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Fotos: Moritz Künster, Annika Fußwinkel
100 Foto: Picture-Alliance

ScreenSchrittmacher

Menschen, Medien und Marken, die Bildschirme bewegen – vom Smartphone-Display bis zur 54.000 Quadratmeter großen LED-Kugel

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Welchen Screen haben wir künftig vor Augen, Virginie Briand?

Das Deloitte Center for the Long View hat dazu vier Zukunftsszenarien für 2030 entworfen, die auf bestehenden Trends und Entwicklungen wie dem Anstieg der Screentime beruhen.

Szenario 1: Die Welt der unzähligen Schnittstellen. In diesem Szenario durchziehen Bildschirme unsere Welt. Sie bilden das Rückgrat eines hochgradig

Wie sieht das Smartphone der Zukunft aus, Marcel de Groot?

personalisierten Internets der Dinge, in dem Medien lediglich eine Facette von vielen sind.

Szenario 2: Mein persönlicher Assistent. Ein einziges, individuell angepasstes High-End-Gerät pro Nutzer tritt an die Stelle zahlreicher Bildschirme.

Szenario 3: Flucht aus der Realität. Konsumenten ziehen sich ins Private zurück und finden Ablenkung in maßgeschneiderten Premium-Inhalten auf wenigen Bildschirmen.

Szenario 4: Quelle der Ablenkung. Bildschirme sind allgegenwärtig und plagen Konsumenten, da die Inhalte oft nicht zielgerichtet und belanglos erscheinen.

Es geht für Unternehmen nicht darum, sich auf ein bestimmtes Szenario festzulegen – vielmehr las-

sen sich Schlussfolgerungen ableiten, die bei der Zukunftsplanung helfen. Erstens: Die Annahme neuer Bildschirmtechnologien durch Verbraucher ist entscheidend – obwohl es Smart Glasses und VR-Headsets bereits gibt, ist die Nachfrage bisher begrenzt. Zweitens: Die Haltung zur Datennutzung und -regulierung wird das Marketing prägen. Plattformbetreiber stehen vor der Herausforderung, einen Mehrwert für Nutzer zu schaffen, um deren Zustimmung zur Datenverwendung zu erhalten. Drittens: Unternehmen aus allen Branchen sollten offene Ökosysteme entwickeln und stärken. Durch Kooperation und das Einbringen spezifischer Kompetenzen lässt sich die Nutzerfreundlichkeit für alle steigern.

Es war einmal ein mobiles Telefon. Ein Kilo schwer, 25 Zentimeter groß. Mit einer Laufzeit von 30 Minuten und einer Akkuladezeit von zehn Stunden. Wenn ich meinen Kindern davon erzähle, schütteln sie nur lachend den Kopf. Sie kennen das Smartphone nur als das, was es heute ist: Wecker, Kalender, Navi, Bankkarte, Kamera, Flugticket, Zeitung, EntertainmentPaket – und natürlich ultimative Verbindung zur Außenwelt. Doch irgendwann wird der Moment kommen, an dem meine Enkelkinder ihre Eltern anschauen und lachend den Kopf schütteln: „Ihr musstet euer Handy jeden Tag aufladen? Ihr habt euch jedes Jahr ein neues Smartphone gekauft, um immer die beste Kamera

leitet

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02
Virginie Briand ist Partner Creative Consulting bei Deloitte Digital Marcel de Groot das Privatkundengeschäft bei Vodafone Deutschland

zu haben? Und was ist überhaupt ein Portemonnaie?“

Wenn ich einen Blick in meine digitale Glaskugel werfe, dann bin ich überzeugt: Der obligatorische Handy-Schlüssel-Portemonnaie-Check vorm Verlassen der Haustür wird meinen Enkelkindern vorkommen wie ein Relikt aus der Antike. So wie einst den Wecker, die Kamera und das Navigationssystem werden unsere täglichen Begleiter immer mehr Alltagsgegenstände ersetzen: Auto und Haustüre werden wir mit dem Handy entsperren. In der digitalen Wallet findet sich neben der Bankkarte selbstverständlich Personalausweis, Reisepass und das Ticket zum nächsten Metaverse-Konzert der Beatles – die treten natürlich als Hologramme auf und performen ihr neustes, KI-produziertes Album.

Das Handy zu verlieren, wäre in der Zukunft ein noch viel größeres Horror-Szenario, als es heute ohnehin schon ist. Deshalb muss mit all den neuen Funktionen und Möglichkeiten auch die Sicherheit exponentiell steigen: Dank Iris-Scan und Herzfrequenz-Analyse wird das Smartphone so sicher wie Fort Knox. Und dank selbstheilender Materialien auch genauso unkaputtbar. Die einzige App, die es in Zukunft nicht mehr geben wird, ist die Spider App. Zusammen mit der Schutzhülle verschwindet auch das Ladekabel. Denn das Smartphone der Zukunft ist so energieeffizient, dass es sich innerhalb weniger Minuten über im Display integrierte Solarzellen

vollständig auflädt. Und jeder Bestandteil, von Akku bis Kamera, stammt nicht nur zu 100 Prozent aus recycelten Materialien, sondern ist modular und austauschbar. Wer seiner Kamera ein Upgrade verpassen will, muss dafür also nicht gleich das ganze Gerät austauschen.

Werden Smartphones also noch innovativer, noch technologischer? Oder werden sie vielleicht sozialer, empathischer? Vermutlich beides. Anstatt Verbindung zur Außenwelt könnten sie vielleicht auch eine Verbindung zur Innenwelt schaffen. „Der Inhalt dieser Nachricht ist für den Empfänger verletzend oder diskriminierend. Das Absenden wurde blockiert“, könnte das Smartphone der Zukunft sagen, das dafür Sorge trägt, dass wir achtsam mit unseren Mitmenschen umgehen. Genau wie mit uns selbst: Wenn mal wieder ein Termin den nächsten jagt und meine Gedanken kreisen, „Habe ich die Drohne eigentlich schon zum Einkaufen geschickt?“, ploppt plötzlich eine Nachricht auf: „Du scheinst gestresst zu sein. Wie wär’s mit einer kleinen Auszeit?“ Und zack, schicken mich meine VirtualReality-Kontaktlinsen an meinen Lieblingsstrand in den Niederlanden. Dank 6G und taktilem Internet höre ich dann nicht nur das Meeresrauschen, sondern schmecke auch das Salz in der Luft und spüre den Sand unter meinen Füßen.

So könnte es aussehen, das Smartphone der Zukunft. Vielleicht nicht ganz genau so, aber vielleicht doch ein bisschen.

Was berührt uns am Touchscreen, Christoph Schnabel?

Touchscreens sind nicht nur eine technische Komponente, sie sind auch ein Symbol: für Interaktion, Austausch, Berührung. Zu den goldenen Zeiten des linearen TV haben Röhrenbildschirme die Produzent:innen von Inhalten und die Konsument:innen hart getrennt. Mein Vater erklärt noch heute: „Die im Fernsehen haben gesagt, ...“. Content Creator haben diese Grenze mit ihren Communities eingerissen.

Im Zeitalter des Touchscreens sind Bildschirme nicht nur ein technisches Hilfsmittel, sondern verbinden Menschen emotional: Konsument:innen und Produzent:innen von Content sind im Austausch – und nehmen sich gegenseitig in die Verantwortung. Diese neue Art von

Beziehung hat sogar einen Spill-Over-Effekt in klassische Medien. Auch hier erwarten Konsument:innen heute Dialog und Rechenschaft von „denen im Fernsehen“. Ein Beispiel ist das mittlerweile weit verbreitete Format „Was sagen die Social-Media-User dazu?“ in Talkshows. Genau hier zeigen sich Macht und Potential von Content Creators: Ihre Reichweiten, ContentMengen und Interaktionsdichten sind nicht nur das Ergebnis eines veränderten gesamtgesellschaftlichen Mediennutzungsverhaltens, sondern befeuern es weiter.

Der ikonische Moment, als Steve Jobs 2007 den Touchscreen des iPhones vorstellt, hat sich als Gänsehautmoment ins kollektive Gedächtnis aller Digitalenthusiasten eingebrannt. Allerdings sind mobile Endgeräte und soziale Netzwerke per se unemotional. Menschen, die Inhalte produzieren, geben ihnen erst Bedeutung und Wirkmacht: Sie suchen immer neue Wege Technik zu nutzen, um sich auszudrücken und ihre Communities zu berühren.

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Fotos: Gaby Gerster, Marcel de Groot, Thorsten Jochim
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Christoph Schnabel ist Associate Director Digital bei MSL

Love & Live

Von Anbandeln bis Zaubertricks: Nutzerinnen können über Lovoo nicht nur Dates finden, sondern auch gucken und selbst streamen

Eine erfolgreiche DatingApp muss Menschen zusammenbringen. Klar. Das versucht auch Lovoo von der ParshipMeet Group, die zu ProSiebenSat.1 gehört. Die Marke will aber auch diejenigen erreichen, die gerade nicht auf der Suche nach einem Flirt oder der Liebe sind.

Seit 2018 gibt es eine Livestreaming-Funktion in der App: Binnen Sekunden kann jeder mit dem Smartphone live gehen und die Community am eigenen Leben teilhaben lassen, ähnlich wie bei Twitch oder Instagram Live. Streamerinnen können andere Nutzer in ihren Livestream einladen, mit ihnen diskutieren oder einfach nur virtuell miteinander abhängen.

„Wir wollen Menschen auf eine andere Art zusammenbringen, nicht notwendigerweise mit romantischer Intention“, sagt Luisa Esposito, die bei Lovoo Livestreaming und Influencer Marketing verantwortet. Es gehe um Freundschaften, zufällige Bekanntschaften, Geselligkeit und Austausch.

Die Kleingruppengespräche zwischen fremden Menschen erinnern bei Lovoo Live zuweilen an die Hoch-Zeiten von Clubhouse, der AudioChat-App, die im zweiten

Corona-Jahr ein paar Monate lang gehypt war. Aber mit Video. Über sieben Millionen Stunden Livestreams zählt Lovoo 2022 im deutschsprachigen Raum sowie Italien, Spanien und Frankreich.

„Real Talks“ machen etwa 60 bis 70 Prozent der Livestreams aus. Daneben bietet Lovoo Talenten und Creators eine Plattform, um ihre Reichweite zu vergrößern und mit ihren Livestreams Geld zu verdienen. Es gibt mehr als 100 wöchentliche Shows, bei denen es um Dating und Lifestyle, Kochen oder Yoga geht, auch Zaubertricks sind dabei.

Wem das gefällt, der darf ein paar Credits in den virtuellen Hut werfen, die sich die Creators auszahlen lassen können. Wenn Nutzer für echtes Geld Credits kaufen, um sie zu verschenken, verdient Lovoo daran mit.

Rund 30 Managerinnen kümmern sich bei der ParshipMeet Group darum, Talente zu finden, zu coachen und zu fördern. Als kleinere Livestreaming-Plattform könne Lovoo sich persönlicher und intensiver um Talente kümmern, ist Marketerin Esposito überzeugt.

Im deutschen Markt ist Lovoo die einzige DatingApp der ParshipMeetGroup mit LivestreamingFunktion, international kommt das Format auch bei den Marken MeetMe, Growlr, Skout und Tagged zum Einsatz.

Obwohl es bei den Streams offiziell nicht explizit ums Dating geht, erzählt Esposito stolz von einer Hochzeit in Österreich, die ebenfalls übertragen wurde. Das Paar hatte sich über Lovoo Live kennengelernt. Björn Czieslik

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Die Farbe der Liebe? Mit Shows, Challenges und Quizzes versucht sich Lovoo auch als Streamingdienst. Ums Dating soll es dabei nicht explizit gehen

05 Verlernen wir durch Bildschirme das Verlieben, Pia Kabitzsch?

Als die Mail mit dieser Frage auf meinem iPhone aufploppte, war ich gerade vertieft in eine siebenminütige Sprachnachricht meiner Freundin Lisa. Sie erzählte mir ganz aufgeregt von Tobi, den sie vor einigen Wochen auf der DatingApp Tinder gematcht hatte. Sie waren verliebt und hatten sich zum ersten Mal ihre Gefühle füreinander gestanden. Geschichten wie ihre sind heute keine Seltenheit mehr. Ganz im Gegenteil sogar: Online-Dating ist mittlerweile so normal wie der Haferdrink im Kaffee. Die meisten Paare lernen sich heutzutage online kennen und, Überraschung, lieben. Ganz klar, Online-Dating hat unser Dating- und Beziehungsleben verändert. Wir sind heute wählerischer bei der Entscheidung, mit wem wir eine Beziehung eingehen, lernen einander erstmal richtig kennen, bevor wir der Verbindung das Label „Beziehung“ geben. Und wenn es nicht passt, werfen wir das

Handtuch auch lieber zu früh als zu spät. Der nächste Single, mit dem es besser klappen könnte, ist schließlich nur einen Wisch auf den DatingApps entfernt. Und außerdem: das Wort „Dating“ dient heute auch eher als Synonym für „sich kennen lernen“. Bezogen auf die Person, die man da gerade trifft, aber auch in Bezug auf sich selbst, die eigenen

Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse.

Macht uns das veränderte Dating- und Beziehungsverhalten weniger fähig, Beziehungen zu führen oder zu lieben? Nein. Sich zu verlieben und zu lieben ist nichts, was wir bewusst steuern oder gar verlernen können. Wenn es passiert, dann passiert es, da haben wir gar keinen Einfluss

drauf. Und was unsere Beziehungsfähigkeit angeht: Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass Bildschirme diese verbessern können. Auf den sozialen Medien gibt es mittlerweile so vielen wertvollen Input zum Thema Dating und Beziehungen, der helfen kann, gesündere Partnerschaften zu führen. Wenn man sich denn für eine entscheidet.

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Pia Kabitzsch ist Psychologin, Autorin und hostet als Datingexpertin den Podcast „Besser Daten“

Welche Skills am Screen brauchen Jugendliche, Elisabeth Möckel?

Soziale Medien prägen das Leben von Kindern und Jugendlichen. Der Umgang erfordert jedoch Fähigkeiten und Wissen. Bei Kika führen wir regelmäßig Zielgruppen- und Pädagog*innengespräche und stellen immer wieder fest, dass Gutgläubigkeit im Umgang mit neuen Medien leider nicht nur Grundschulkindern vorbehalten ist. Auch Preteens und Jugendliche haben wenig Bewusstsein für Gefahren. Selbst wenn sie Stolpersteine von TikTok und Co kennen, ignorieren sie diese meist. Kompetente Ansprechpersonen bei medienbezogenen Problemen fehlen.

So entstand das Anliegen, neben „Team Timster“ für Grundschüler*innen ein Format für eine ältere Zielgruppe zu etablieren: „f.im.chat“, das TikTokAngebot von Kika und Funk, die damit Kompetenzen und Ressourcen bündeln, um ihrem medienpädagogischen Auftrag gerecht zu werden.

Mit einem F im Chat kann man im Stream Respekt, Mitleid oder Schadenfreude über einen Fail ausdrücken. Unser TikTok-Format gibt mit Humor altersgerechte Tipps. Denn: Jugendliche suchen nicht nach medienpädagogischen Inhalten, empfinden kein Defizit – zumindest so lange nicht, bis Probleme auftauchen. Dann ist es wichtig, sie ernst zu nehmen und Lösungen zu finden. In diesen fünf Bereichen wollen wir die Kompetenz der jungen Nutzer*innen stärken.

1. Kritisches Hinterfragen: Preteens sollten lernen, Social-Media-Inhalte zu hinterfragen, beispielsweise vermeintlich seriöse Informationen oder eine scheinbar perfekte Influencer*innen-Welt. Wir müssen sie stärken gegen jede Form des Missbrauchs und Hate, müssen ihren Blick schärfen bei der Rezeption von Inhalten und der Auswahl von Quellen, sie müssen differenzieren lernen und Meinungsbildungsprozesse beherrschen.

Elisabeth Möckel ist Redakteurin und Moderatorin bei Kika. Ihr TikTok-Projekt „f.im.chat“ von Kika und Funk greift Handy- und Internet-Struggles für 13bis 15-Jährige auf

2. Sensibilität für Datenschutz und Privatsphäre: Der Schutz persönlicher Daten ist entscheidend. Junge Nutzer*innen legen selbst ihre Datenspuren für immer an und müssen die Konsequenzen daraus verstehen.

3. Filter-Kompetenz: Kinder und Jugendliche verbringen täglich mehrere Stunden in sozialen Medien und werden mit einer Flut an Information, Benachrichtigungen und Meinungen konfrontiert. Eine zentrale Fähigkeit ist daher, relevante von irrelevanten Inhalten zu unterscheiden.

4. Bedeutung des Smartphones: Jugendliche müssen lernen, das eigene Leben nicht vom Smartphone bestimmen zu

lassen, das Handy beiseite zu legen, nicht auf jede Nachricht zu antworten oder das nächste witzige Video anzuschauen. Sie müssen ihre individuellen Grenzen kennenlernen.

5. Empathie und Respekt: Täglich erfahren Jugendliche unterschiedlichste Meinungen. Sie sollten Meinungsvielfalt akzeptieren und respektvoll reagieren können. Und verstehen, wie Posts und Kommentare Menschen beeinflussen.

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Sehnsuchtsort Metaverse

Der virtuelle Raum kommt nicht so richtig in Fahrt. Selbst Meta, das sich die Technologie in den Namen geschrieben hat, tüftelt jetzt lieber an KI. Fünf Unternehmen, die im Metaversum trotzdem ihr Glück versuchen – oder daran gescheitert sind

Siemens: Werkeln 4.0

Aus dem Industrie-Giganten soll ein Techie werden, der es mit Alphabet und Amazon aufnehmen kann – so die Vision von Siemens-Chef Roland Busch, Physiker aus Franken. Siemens tüftelt dafür mit den US-Grafikspezialisten von Nvidia am „Industrial Metaverse“, einem digitalen Raum mit virtuellen Abbildern realer Maschinen, Fabriken und Systemen, an denen Menschen arbeiten und forschen können. Mögliche Probleme, die in der echten Welt auftreten, sollen im industriellen Metaverse durchgetestet werden, was wiederum echte Millionen Euro sparen soll, in der Automobilindustrie oder im Gesundheitswesen. Für die Mitarbeitenden des

Konzerns ist diese Vision schwer zu verstehen, hört das „Manager Magazin“. Der Chef lässt sich davon nicht abhalten: In Erlangen investiert Siemens 500 Millionen Euro in den Nukleus des industriellen Metaverse, einen neuen Campus für Entwicklung und Hightech-Fertigung.

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NexR: Doppelt hält nicht besser

Das Berliner Startup NexR Technologies will gleich eine ganze Armada digitaler Doppelgänger auf die Welt loslassen. Die Scanner des Unternehmens nehmen dafür Dutzende Körpermaße der Kundinnen und schaffen so virtuelle Abbilder – Avatare. Diese probieren online etwa Klamotten von H&M

an oder dokumentieren im Fitnessstudio, wie sehr der Bizeps schon gewachsen ist. „Wir glauben, dass bald jeder seinen eigenen Avatar haben will“, sagt NexR-Chef Markus Peuler noch Ende 2022 dem „Spiegel“. Diese Vision scheint nicht jeder zu teilen: Ein Großinvestor kappt dem Unternehmen Anfang 2023 die Geldquelle, ein neuer Finanzier ist nicht in Sicht. Mitte 2023 rutscht NexR Technologies in die Insolvenz. 09

Vans: Spiel, Spaß und Skateboards

Die Klamotten- und Schuhmarke Vans gilt als Vorzeigebeispiel fürs Metaverse. Im August 2023 zählt sie den 100.000.000. Besucher in

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Finde den Fehler: Siemens klont komplette Werke digital

der „Vans World“, einem digitalen Skatepark auf der Gaming-Plattform Roblox. Nutzerinnen probieren dort mit ihren Figuren Tricks aus und treten zu Wettbewerben an. Dazu können sie sich digitale Klamotten und Accessoires von Vans mit der In-Game-Währung kaufen. Roblox nutzen auch andere Marken als Einfallstor zum Metaverse: Gucci, Nike und Samsung haben dort bereits 3-D-Marketing-Welten.

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PwC: Virtuelle Verhandlung

Der Prüfungs- und Beratungskonzern PwC startet Mitte 2023 eine virtuelle Plattform für Meetings und Teamwork. Mitarbeitende, Kunden und Bewerberinnen sollen sich dort in Form ihrer Pendants in Videospieloptik versammeln, plaudern und verhandeln – ein Schritt

in Richtung Metaverse. „Wir sehen darin eine disruptive Technologie, die Teil des kommenden neuen Web-Zeitalters sein wird. Und da wollen wir früh dabei sein“, sagt Geschäftsführer Clemens Koch dem „Handelsblatt“. Der 3-D-Konferenzraum kostet das Unternehmen einen mittleren einstelligen Millionenbetrag. Ob sich die Investition bereits gelohnt hat? PwC will dazu nichts sagen.

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Aldi Süd:

Digitale Umkleidekabine

Klamotten am Grabbeltisch kaufen ist Glückssache – ob die Teile passen, zeigt sich erst zu Hause. Aldi Süd sucht für die

Die virtuellen Klamotten der Avatare im VansMetaverse kaufen die User mit echten Dollars

Sommerkollektion 2023 die Lösung im Pixeligen: Eine Woche vor Launch kann man die Shirts, Shorts und Socken virtuell anprobieren. Möglich macht’s ein digitaler Zwilling auf der AvatarPlattform ReadyPlayerMe. Aldi ist damit laut eigenen Angaben der erste Lebensmittelhändler mit einer digitalen Kollektion im Metaverse. Klingt gut, ist aber eigentlich Metaverse light: Die fesch gekleideten Hologramme können Nutzerinnen zwar tanzen lassen und die Videos davon auf Social-MediaPlattformen teilen – mehr aber auch nicht. Interaktivität und soziale Vernetzung sind kaum möglich. Wie viele Kundinnen die Anwendung getestet haben, will der Discounter aus „Wettbewerbsgründen“ nicht verraten. Nur so viel: „Die Kollektion fand großen Anklang“, sagt eine Sprecherin.

Aldi packt seine UnisexKollektion auf den Grabbeltisch und auf die AvatarPlattform ReadyPlayerMe

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Roland Eisenbrand ist Redaktionsleiter der OnlineMarketingPlattform OMR

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Warum drehen Marken auf TikTok durch, Roland Eisenbrand?

Eine 90-Jährige mit Gucci-Basecap und Umhängetasche leert eine Flasche in „Tornado“-Manier. Immerhin trinkt sie nicht – wie eigentlich üblich – Bier, sondern Mineralwasser. Einige Sekunden später fordert sie die Zuschauenden im typischen TikTok-Sprech auf: „Mach das Plus weg, Brrrrra!“ Dazwischengeschnitten ein mutmaßlicher Leiter eines ReweMarktes, der von dem gescheiterten Versuch berichtet, mit der „Gucci Oma“ als eingekauftem TikTok-Star den neu gestarteten Account von Rewe zu promoten. Das Video endet damit, dass die Seniorin erneut ins Bild tritt und den Marktleiter anpflaumt: „Ey Junge, was drehst du ohne mich, du Wi...“ – der Rest der Unflätigkeit wird von einem Piepen übertönt. Wer hätte solch ein Video früher von einer kreuzbiederen Marke wie Rewe erwartet? Und doch ist genau das der erste Clip auf dem offiziellen TikTok-Account der Supermarktkette.

Verantwortlich dafür, dass nicht nur Rewe, sondern auch andere Marken auf digitalen Plattformen immer häufiger freidrehen, ist der Trend zu „Unhinged Marketing“ (zu

Deutsch: irres Marketing). Oder wie wir bei OMR sagen: „Unhinged Entertainment Content“, kurz UEC. Der ist auf zwei Dinge zurückzuführen: Zum einen den Aufstieg des Kurzvideoformats, zum anderen dem Selbstverständnis des Vorreiters TikTok: „TikTok is an entertainment platform, not a social network.“

Deswegen muss auch das Marketing auf Plattformen unterhalten. Und das geht nicht, wenn Marken einfach brav ihren Claim aufsagen.

Pionier und „Best in Class“ im UEC ist die Sprachlern-App Duolingo. Deren Social-MediaManagerin Zaria Parvez hat sich einfach ein Kos-

tüm des Marken-Maskottchens, einer grünen Eule, angezogen und Videos mit ähnlich krudem Humor wie das Rewe-Video gedreht. Knapp eine halbe Million Likes verzeichnen die Clips im Schnitt –mehr als beispielsweise Red Bull.

Mittlerweile setzen viele andere Marken auf UEC, in Deutschland beispielsweise die Deutsche Bahn. Wie sehr sich das lohnen kann, zeigt das Rewe-Video, das bislang 4,1 Millionen Abrufe und fast eine halbe Million Likes gesammelt hat.

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»Brrrrra!
Wer hätte solch ein Video früher von einer biederen Marke wie Rewe erwartet?«
Quatsch mit Schnabel: Die Deutsche Bahn dreht auf TikTok frei, genau wie Rewe und der Sprachlern-Dienst Duolingo

Jede*r Zwölfte davon hat die kicker-App. Quellen:

APP | WEB | PRINT | SOCIAL | PODCAST | BUSINESS
Rund 60 Millionen Menschen nutzen hierzulande täglich ein Smartphone.
statista/kicker
„DER 1 2. MANN.“

»Ich will immer das Herz berühren«

Ein guter Auftritt ist in der Politik genauso wichtig wie auf TikTok. Wolfgang Heubisch von der FDP zeigt, wie beides zusammengeht

Mit 77 müsste FDPPolitiker Wolfgang Heubisch niemandem mehr etwas beweisen. 25 Jahre war er Zahnarzt in eigener Praxis, er war Wissenschafts- und Kunstminister in Bayern, Stadtrat in München und Vizepräsident des Bayerischen Landtags. Heute ist Wolfgang Heubisch einer der aktivsten und erfolgreichsten deutschen Politik-Profis auf TikTok.

Eine junge Wahlkampfmanagerin, die Heubisch im Landtagswahlkampf 2018 unterstützt, schlägt

2020 vor, nach Facebook und Instagram auch TikTok auszuprobieren. Zunächst ist Heubisch skeptisch: „Den Wahnsinn mache ich nicht mit, ich tanze doch da nicht rum und mache mich zum Affen.“

Seine Motivation, es doch zu tun, ist die AfD, die damals bei TikTok zunehmend Präsenz zeigt: „Da muss man dagegenhalten“, denkt sich Heubisch, holt sich zur Unterstützung junge Social-MediaProfis an die Seite und lädt im November 2020 sein erstes TikTok-Video hoch.

Heubisch sagt, es sei ihm wichtig, demokratische Werte zu vermitteln, er greift Trends und Memes auf und ist sich auch für Gaga-Clips nicht zu schade. Heubisch steht vor der Kamera, sein Team konzeptioniert und setzt um. Manche Vorschläge lehne er aber auch ab. Knapp 118.000 Follower zählt er bei TikTok inzwischen und landet mit seinen Kurzvideos sehr wahrscheinlich auch bei Menschen im Feed, die sich sonst vielleicht nicht für die FDP interessieren würden.

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»Ich dachte, es gibt einen Totalverriss, wenn die schon mein Alter sehen. Aber es war total anders«

„Ich habe gedacht, es gibt einen Totalverriss, wenn die schon mein Alter sehen. Aber es war total anders“, sagt Heubisch. Eine junge Frau habe ihm geschrieben, wie froh sie sei, „dass sich ein Politiker für mich interessiert“. In Gesprächen seien es oft die Kinder seiner Gesprächspartnerinnen, die Heubisch von TikTok kennen.

Was Heubisch an TikTok gefällt? „Die Schnelligkeit, die Lebendigkeit und die Witzigkeit bis hin zur Peinlichkeit“. In Sachen Datenschutz sehe er die Plattform zwar kritisch, aber das sei bei US-Techfirmen auch nicht anders, meint der Politiker.

Heubischs Erfolg hat wohl auch etwas mit seinem lockeren Auftreten zu tun: oft mit T-Shirt oder Pulli und weißen Sneakern, nur selten zeigt er sich mit Krawatte. „Ich will immer das Herz berühren“, sagt Heubisch. Er findet: Viele andere Politiker treten zu steif auf, spulen nur ihr Parteiprogramm ab und verstehen nicht, dass sie das junge Publikum emotional ansprechen müssten.

Sein Rat an andere Politikerinnen: „Holt euch junge, coole Fachleute, die schon bewiesen haben, dass sie mit dem Medium umgehen können. Jeder, der glaubt, er weiß es besser, wird keinen Erfolg haben.“

Die AfD ist in Heubischs Videos übrigens bis heute regelmäßig Thema. Sein mit 2,6 Millionen Views erfolgreichstes Video ist ein neun Sekunden langer Clip, in dem er zeigt, was er mit AfD-Anträgen macht: Er zerknüllt sie und wirft sie weg.

Björn Czieslik

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Wilde Videos finden Gehör

Sieben Teilnehmer, sieben Tage in der Wildnis, Kameras im Gepäck. 77 Millionen Menschen schauen die 2021 erschienene Staffel eins von „7 vs. Wild“, der Survival-Spielshow-Serie des Creators Fritz Meinecke.

Den Hype befeuern Reaction-Videos: YouTubePromis wie Rezo und Jens Knossalla alias Knossi kommentieren die Folgen für ihr Publikum. Das Prinzip setzt die Produktionsfirma Maniac Studios in einen Podcast um: Pünktlich zur Ausstrahlung von Staffel zwei Ende 2022 startet „Ungefiltert“, gehostet von zwei Teilnehmern von „7 vs. Wild“, die die Staffel mit Gästen besprechen.

Zielgruppe zu bringen, helfen Short Videos – denn die können quasi aus dem Nichts viral gehen. 18 Millionen Videoaufrufe zählt der „Ungefiltert“-Auftritt bei TikTok, allein der beliebteste Clip wird zwei Millionen mal geklickt. Der Podcast landet auf Platz 16 der Charts. TikTok ist Reichweitenbringer Nummer eins, PodcastAufzeichnungen auf YouTube, YouTube Shorts und Insta-Reels funktionieren weniger gut.

Daniel Sprügel, Chef von Maniac Studios, hat die These: „Audio-Podcasts brauchen Bewegtbild, um erfolgreich zu sein.“ Seine Tipps, wie Short Videos Podcasts unterstützen können:

nicht nur für Hosts. Lade auch in der Community bekannte Gäste ein. Dazu Visuals von anderen Promis einblenden.

3. Trends der Community aufspüren: Analysiere über Contents und Hashtags, welche Inhalte virales Potenzial haben.

4. Radikale Schnitte: Videos unter zehn Sekunden kommen bei TikTok super an. Eines unserer erfolgreichsten Videos ist kürzer als fünf.

5. KI-Tools helfen: ChatGPT bringt Ideen. AutoPod schneidet Videos automatisch par excellence.

6. Test, learn, build bigger: Low-performing Content löschen, optimieren, reposten. Der Algorithmus kennt keine Gnade. Nichts geht zufällig viral.

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„1. Starke Captions und Hooks: Ob dein Video gesehen wird, entscheidet sich innerhalb von Millisekunden. Don’t call it Clickbait. Sei polarisierend und kreativ, aber halte dein Versprechen.

Um das neue Audioformat an die videoaffine

2. Auf bekannte Gesichter setzen: Das gilt

7. Kommentieren: Direkter Austausch mit deinen Followern? Dem TikTok-Algorithmus gefällt das. Aber lasst Hater links liegen, die lassen sich eh nicht umstimmen.“

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„Podcasts brauchen Video“, sagt Produzent Daniel Sprügel

15 Darf eine CEO heute noch kamerascheu sein, Lutz Hirsch?

Wir leben in einer hybriden Arbeitswelt. Das heißt auch: Viele von uns kommunizieren und arbeiten verstärkt digital und verbringen weniger Zeit im Büro. Umso wichtiger ist es da, dass CEOs ihre Mitarbeitenden auch digital erreichen und Nähe zu ihnen aufbauen. Dabei ist völlig klar: Nicht jede und jeder liebt die Kamera. Doch digitale Kanäle und Formate sind inzwischen für Mana-

gerinnen und Manager essenziell, um ihre Unternehmen fit für die Zukunft zu machen, Strategien und Botschaften zu vermitteln sowie das Daily Business zu steuern. Es gilt daher, die Kamera als Freund und Helfer zu sehen und die oft beobachtete Scheu zu überwinden. Jeden Tag aufs Neue. Warum? Weil Bewegtbild einfach bewegt.

So ist es nicht nur in der externen Kommunikation, etwa bei OnlineKonferenzen oder in Webinaren, mittlerweile erfolgsentscheidend, dass CEOs ihre Themen und Botschaften gut und authentisch vor der Kamera präsentieren können. Auch in der internen Kommunikation helfen ihnen Videoformate, um wichtige Fakten und Informationen kurz und knackig zu

vermitteln sowie komplexe Themen auf unterhaltsame Weise zu transportieren. Ich persönlich erlebe zum Beispiel in meinem Arbeitsalltag immer wieder, dass ich über Videobotschaften unsere Vision oder auch relevante, strategische Themen sowie aktuelle Entwicklungen im Unternehmen den Mitarbeitenden viel besser näherbringen kann als über reine Texte. Und auch bei Online-Bespre-

chungen beziehungsweise Videokonferenzen schalte ich die Kamera an und nutze reale statt künstlicher Hintergründe, um so als Person auch wirklich sichtbar für die Mitarbeitenden zu sein.

Denn für CEOs heißt mit positivem Beispiel vorangehen in diesem Fall eben auch: die Kamera anschalten. Dann werden es andere ihnen gleichtun. Und nur dann kann statt räumlicher Distanz auch digitale Nähe im Team entstehen. Mein Appell an alle CEOs: Seid sichtbar. Wagt euch vor die Kamera. Ihr müsst nicht immer perfekt sein. Aber bleibt glaubwürdig.

Lutz Hirsch ist CEO der Hirschtec, einer Agentur für Transformation in der Arbeitswelt

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Fotos: PR
»Mein Appell an alle CEOs: Seid sichtbar. Ihr müsst nicht immer perfekt sein. Aber bleibt glaubwürdig«

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TK: Wat sitzte noch hier?!

Die Berufsberaterin kann es kaum glauben: flexible Arbeitszeiten, Homeoffice, 30 Tage Urlaub, Weihnachtsgeld – und das bei einem Ausbildungsplatz. „Wat sitzte noch hier?! Geh nach Hause und bewirb dich!“ Sie wirft den Notizblock nach dem flüchtenden Schüler und ruft: „Renn!“

Die unprofessionelle Beraterin ist gar keine –sondern TikTokerin Saskia Fröhlich. Das Kurzvideo ist Teil 44 ihrer Sketchreihe „Ich als ...“, in der sie sich in verschiedenen Berufen als Fehlbesetzung inszeniert. Das Jobangebot aber ist echt: Die Techniker Krankenkasse sucht auf TikTok mithilfe von Creator-Kooperationen

nach Nachwuchs, Hashtag: #karrieregoals.

Die Rechnung ist einfach: Rund 270 Ausbildungsplätze sucht die Techniker Krankenkasse pro Jahr. Drei Viertel der 16- bis 19-Jährigen hierzulande nutzen TikTok.

„Wenn wir die junge Zielgruppe erreichen wollen, dann hier“, sagt HR- und Marketing-Verantwortliche Melina Friedrichs.

Einen eigenen TikTokKanal hat die Krankenkasse nicht, dafür aber mit der Krankenversicherungskarriere ein komplexes, eher trockenes Thema zu vermitteln – an eine Zielgruppe, die beim Scrollen auf der Suche ist nach lustigem, kreativem Content zur Zerstreuung zwischendurch.

Also setzt die TK auf Creators mit Reichweite, neben Saskia Fröhlich auch TikTok-Stars Helge Mark Lodder und Paul Luca Fischer. Denen gibt sie zwar Kampagnenziele vor, die sich aus der Unternehmensstrategie ableiten – lässt ihnen aber in der Gestaltung Freiraum. „Bei Briefings gilt: Weniger ist mehr“, so Fröhlich.

Die Sketche holen ihr Publikum ab, wo es steht: Väter (dargestellt vom TikTok-Star mit angeklebtem Schnauzbart) mahnen, sich einen Job zu suchen

statt zu zocken. Es fallen Sätze wie „Workaholismus war 2000er, Mädchen“, die TK wird zum „Great Place to Work“. Der Plan geht auf: Eine breite Zielgruppe werde erreicht, die Aufrufe der Ausbildungswebsite steigen im Kampagnenzeitraum um 15 Prozent, die TikTokGemeinde reagiere positiv, vermeldet die TK.

„Das beste Kooperationsvideo, das existiert“, kommentiert Mel unter Saskias Berufsberaterinnen-Sketch. Tomato schreibt: „Ich dachte, du sagst jetzt, dass du selbst den Job bei der TK annimmst.“ Saskia antwortet: „Das können andere (also alle) besser.“ Lachsmiley.

Anne-Nikolin Hagemann

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Metro: Die Katze tanzt

Budget möglich. „Dass wir innerhalb kurzer Zeit ein hohes Wachstum bei Followern und Video-Views verzeichnen konnten, hat uns selbst überrascht“, sagt Evelyn Hohlbein, Abteilungsleiterin Recruiting und Employer Branding. „Es lohnt sich, der Zielgruppe da auf Augenhöhe zu begegnen, wo sie sich bereits aufhält.“

Knapp 32.000 Menschen folgen dem Channel von Metro, der den Alltag der Azubis in Content verwandelt. Sieben Videos haben bisher „die magische Ein-Millionen-Marke an Views geknackt“, so Hohlbein. Unter den erfolgreichen ist dieser Dialog: „Mein Chef: Wir können nicht jeden Trend mitmachen. Ich: – im Video erscheint eine überdimensionierte tanzende Katze, die über der MetroFilliale schwebt. #metroausbildung.“ 40.000 Likes.

Anne-Nikolin Hagemann

BU weiß Sedicia con rem ventest prem quam fuga. Iquo offic temporia vel modisOdi idi atiunt dis volupta vid quae la con

Auch der Großhändler setzt bei der Suche nach der seltenen Spezies Gen Z auf deren Habitat TikTok. Bei Metro kümmert sich der Nachwuchs um die Nachwuchs-Ansprache: Zu Beginn betreuen fünf Azubis aus dem Düsseldorfer Großmarkt den eigenen TikTok-Channel, nach einem internen Wettbewerb kommen Teams aus fünf weiteren Städten hinzu. Das bedeutet einerseits, dass der Content – mit dem Handy gefilmt, selbstironisch, aktuellen Plattform-Trends und Memes folgend –besonders authentisch und praxisnah erscheint. Andererseits war so auch ein Start mit geringem

Metro umwirbt potentielle Azubis mit Memes: „And I need you ...“ singt hier Schauspieler Terry Crews

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»Es lohnt sich, der Zielgruppe potentieller Azubis da auf Augenhöhe zu begegnen, wo sie sich bereits aufhält«

Mit den Hörnern

voran Jasmin „Gnu“ Sibel ist Deutschlands größte Gaming-YouTuberin. Mit gemütlichem Zocken hat ihr Job wenig zu tun

Das Gnu war mal saftig, dann hatte es die Nase voll. Jahrelang war Jasmin Sibel unter ihrem Synonym „Saftiges Gnu“ in der Gaming-Welt unterwegs, bis ihr die ekligen Kommentare zu viel wurden. Das Adjektiv verschwand, die Antilope blieb – und vereint heute insgesamt über vier Millionen Abos bei YouTube, Twitch und Instagram.

Es ist durchaus erwartbar, dass in einem Text über Deutschlands erfolgreichste Gaming-YouTuberin Sexismus Thema ist. Aber es lässt sich nicht vermeiden. Als Sibel, Jahrgang 1989, während ihres Studiums 2015 die ersten Gameplay-Videos hochlädt, bekommt sie üble Angebote von männlichen Influencer-Kollegen: Reichweite gegen Sex. Sie lehnt ab. Seit 2019 arbeitet sie hauptberuflich als Content Creator, betreibt zwei Gaming-Kanäle bei YouTube und einen bei Twitch. Sie filmt sich beim Zocken von Farm-Spielen und Horror-Games, probiert Apps und Challenges aus, teilweise stundenlang. Daneben dreht sie häufig mit befreundeten Creators wie Rezo und Julien Bam, garniert mit derben Sprüchen, die auch mal schwäbeln.

Wenn sie bei LiveStreams aufstehen muss,

dreht sie sich bis heute nicht mit dem Rücken zur Kamera, damit ihr Hintern nicht auf PornoSeiten landet. Trotzdem findet sie: „Ich habe meine Community gut im Griff.“ Follower, die sich daneben benehmen, fliegen raus. Anders geht es auch nicht, denn Gnu widmet ihren Fans viel Zeit.

„Ich gehe selten raus”, erzählt sie Kai Pflaume, als der sie zu Hause in Stuttgart besucht. Sie sei ein „Höhlenmensch“. Mit

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Fotos: PR
Jasmin Sibel schauen beim Zocken Tausende Zuschauerinnen auf Twitch zu
»Heute nehmen sich die Mädels auch künstliche
Figuren zum Vorbild – nur eben bei Instagram«

ist

Disziplin: Sibel steht morgens um 6 Uhr auf, macht Sport, achtet auf ihre Ernährung, zockt nur zu festen Zeiten. Sie hat Deals mit Red Bull, einer Fitnessuhren-Firma und einem Hersteller von Trinkmahlzeiten. Unter einem Video, in dem sie ihre Community nach Feedback fragt, steht mehrfach: Gnu solle mal einen Gang runter schalten, sie wirke oft gestresst.

Sibel betreibt noch einen dritten YouTubeKanal, auf dem sie über Social-Media-Trends und Reality-TV spricht. Und über Schönheits-OPs: Mit 18 Jahren probiert sie sich als Model und lässt sich irgendwann die Lippen aufspritzen. „Ich sah schrecklich aus“, sagt sie rückblickend. Die OP lässt sie rückgängig machen. Schon als Jugendliche habe sie sich an den unrealistischen Proportionen von Spielfiguren wie Lara Croft orientiert, große Brüste, schmale Hüfte, lange Beine. Sie entwickelt eine Essstörung, gegen die sie zehn Jahre kämpft. Über ihre Erfahrungen schreibt sie 2022 das Buch „Du schaffst das nicht“ und warnt in ihren Videos: „Heute nehmen sich die Mädels auch künstliche, unechte Figuren zum Vorbild – nur eben bei Instagram.“

Als Influencer muss Gnu intime Einblicke in ihr Leben erlauben. Und so spricht sie auch darüber, dass sie Eizellen hat einfrieren lassen. Sie will nicht von anderen abhängig sein. Nancy Riegel

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TV-Spot oder YouTubeAd, Andrea Malgara?

Die Zahlen zeigen scheinbar Offensichtliches: 224 Minuten täglich investieren 14- bis 29-Jährige in OnlineVideos, die Sehdauer fürs lineare TV schrumpft –auf 59 Minuten. Auch bei den 14- bis 49-Jährigen hat Online-Video das TV-Gerät in der Bewegtbildnutzung überholt, sagt der Viewtime Report des Vermarkters Seven.One Media. Stirbt das klassische TV als Werbemedium? Natürlich nicht!

der Kontakthäufigkeit –und auch davon, wie die Formate auf TV, YouTube und Facebook verknüpft werden.

Schon kompliziert genug? Nein? Den richtigen Mix zu finden, wird in Zukunft garantiert noch schwieriger. Der Kampf der Streamingdienste um Abonnenten erreicht den Werbemarkt. Nachdem der Hype um Netflix und Co seinen Höhepunkt überschritten hat, setzen die Anbieter immer häufiger auf werbefinanzierte Modelle und auf das Geschäft mit den Daten der Nutzer:innen. Neue Konkurrenz erwächst derweil durch Retail Media. Video-Ads zwischen Chips und Bananen auf dem Lieferdienstportal Gorillas: bald durchaus denkbar. Otto und MediamarktSaturn machen es vor.

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Doch dazu später mehr. Zunächst eine gute Nachricht: 94 Prozent der schwer ansprechbaren Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen schauen laut ARD/ZDF-Studie Bewegt-

bild – auf welchem Kanal auch immer, linear oder on demand. Auch die anderen Altersgruppen von Ü30 bis 70+ kommen aktuell auf rund 87 Prozent. 80 Prozent der Deutschen, das wissen wir gleichfalls aus dem Viewtime Report, nutzen YouTube. Werbe-Euros nur bei YouTube zu parken, wäre aber fatal. Was aus den hohen Nutzungszahlen nicht ersichtlich ist: 72 Prozent der gesamten YouTube-Time gehen auf das Konto von 17 Prozent der YouTuber. Diese Vielseher erhalten Werbung dann in geballter Dosierung, der Rest aber bekommt die Botschaft zu wenig ausgespielt. Auch die Werbewirkung ist bei YouTube in den höheren Kontaktklassen nachweislich geringer, das haben wir erstmals in unserer Medienäquivalenzstudie belegt. Der qualitative Wirkungsbeitrag jedes Bewegtbildmediums fällt laut der Studie sehr unterschiedlich aus, abhängig von der Platzierung und

Der Verdrängungswettbewerb wird also spannend. Klar ist, dass TV in der derzeitigen Gemengelage das deutlich stabilste Werbemedium ist. Corona und der Ausbruch des Krieges in der Ukraine haben gezeigt: Live-TV ist wichtiger denn je. Zumal die Grenzen zwischen Online und TV verschwinden. Bereits 17 Prozent aller TV-Haushalte schauen primär über das Internet. Online-Video wird zunehmend auf der heimischen Couch geschaut. Connected TV erlaubt die Übertragung der Digitallogik aufs klassische TV. Uns erwartet ein komplettes Einreißen der Silos, losgelöst von der Frage: klassisch oder online, TV oder digital. Und das ist – trotz massiv mehr Planungsaufwand – eine gute Nachricht für Werber.

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Die Regel-Fetischisten der klassischen Herrenmode, die beinahe einen Herzinfarkt kriegen, wenn das Uhrenarmband nicht zum Gürtel passt

2 Die Fashion-Verweigerer, die sich morgens nur anziehen, weil sie in Unterhose auf der Straße sonst Aufsehen erregen würden

3 Die Old-Money-Styler, die verstanden haben, dass man Luxus still und leise trägt und nicht als Logo auf der Brust

4

Die Nostalgiker, die an den 80s hängen und sich immer noch wünschen, sie hätten Don Johnson mal einen Klaps auf den Hintern gegeben

5 Die Südländer mit Savoir-Vivre im Blut, die nach dem 15. Mojito immer noch besser Salsa tanzen als jeder „Dancing with the Stars“-Gewinner

Die Bonvivants ab Mitte 50, die zu viel Geld haben, und leider nicht mehr genug Jugend, um ewig auf Lanzarote den Salonlöwen zu geben

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Welchen Typen begegnen wir auf Insta, Ben Bernschneider?

Jonas „Ben“ Bernschneider ist Fotograf, Regisseur – und jetzt auch Influencer. Auf Instagram und TikTok präsentiert er sich als „Style Cowboy“ und „Traveling Gentleman“ mit US-Faible. Hunderttausende verfolgen seine täglichen Styling-Tipps und Lebensweisheiten

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Content wie diesen gibt es seit 2011 auf Visual Statements und anderen Channels. Daten helfen bei der Trend-Suche – von Aperol bis Single-Sein 21

Mit Bildern mit Sprüchen und Kurzvideos wird Visual Statements aus Freiburg zur SocialGröße. CEO Benedikt Böckenförde erklärt, wie’s geht

Wie verdient man damit Geld?

Über klassische Kampagnen-Flights verkaufen wir den Zugang zu unserer Zielgruppe an Firmen wie Netflix, DM oder die Deutsche Bahn. Im Auftrag von Kunden bauen und betreuen wir Social-Kanäle. Daneben bauen wir neue, eigene Marken auf. Wir analysieren Daten zu Watch Time, Likes, Shares und schauen, worüber Menschen unter Posts diskutieren. Daraus lesen wir Trends ab. Und aus diesen Trends produzieren wir weiteren Content und Produkte. Das nennen wir datengetriebenes Content Marketing. So haben wir unter anderem Selbstliebe als einen Trend in unserer Community ausgemacht und die Marke „Liebe lie-

ber dich“ gestartet. Zwei Drittel unseres Umsatzes kommt aus Kampagnen und Services, ein Drittel aus dem Verkauf von TShirts, Tassen, Postkarten.

Wen erreicht ihr damit?

Unsere Follower sind zu 70 Prozent weiblich. Wir erreichen überwiegend Millennials von 25 bis 39, auch die Gen Z. Früher vor allem über Facebook, heute über Instagram.

Was macht ein Posting erfolgreich?

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Das Zauberwort lautet Relatable Content, also Content, über den die Menschen sagen: „Ach, das kenne ich!“ Beziehung, Partnerschaft und Liebe finden häufig bei uns statt, weil dazu jeder eine Geschichte hat. Wer Millionen von Menschen mit Content erreichen will, muss Content produzieren, der Millionen von Menschen interessiert.

Was zieht nicht mehr?

Als um 2015 der EinhornTrend abging, haben wir

die Marke „Always be a Unicorn“ gegründet, anfangs sehr erfolgreich. Aber es war nicht zeitlos, irgendwann hat es keinen mehr interessiert. Auf jede erfolgreiche Marke kommen drei oder vier, die nicht funktionieren.

Was können andere von euch lernen?

Den Blick auf Daten in Verbindung mit Kreativität. Wir schauen, was wie funktioniert, ziehen daraus Rückschlüsse und probieren viel aus. In an-

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»Geld kann Sichtbarkeit generieren, aber nie Relevanz«

deren Unternehmen fehlt diese Datenbrille oft komplett. Das größte No-Go ist, an der Zielgruppe vorbei Content zu produzieren. Ja, Geld kann Sichtbarkeit generieren, aber nie Relevanz.

Kannst du verstehen, dass eure Arbeit auf manche oberflächlich wirkt?

Neulich haben wir in einem Posting gefragt: „Was hast du von deiner letzten Beziehung gelernt?“ Die Reaktionen darauf hatten eine unglaubliche Tiefe. Manche nennen uns die Freiburger Sprücheklopfer. Auf Facebook wurden wir mal parodiert. Ich kann darüber reflektiert lachen. Jeder hat seine Meinung. Und das ist okay.

sind das, was Nutzer in Nachrichten-Apps zieht. Algorithmen müssen zusätzlich sicherstellen, dass dem User die relevantesten Geschichten angezeigt werden. Personalisierbarkeit, intuitive Bedienbarkeit und Performance sind darüber hinaus Pflicht.

Und wie ist es mit Websites? Was geht gar nicht, wenn man Leserinnen wiedersehen will?

Die Anforderungen sind ähnlich wie bei Apps. Neben qualitativ hochwertigen Content, der in allen möglichen Formen wie Text, Bild, Audio oder Videos aufbereitet sein muss, spielen User Experience, Ladezeiten, Bedienbarkeit und Personalisierung die größte Rolle. Zusätzlich müssen Webseiten responsiv und somit für alle Endgeräte optimiert sein.

Schreibt KI künftig alle Nachrichten für „Bild“, „Welt“, Politico?

Welches KI-Potenzial ist für Nachrichten-Medien noch unerkannt?

Springer-CIO Samir

Fadlallah über erfolgreiche NewsApps und bissige KI

Samir Fadlallah, wie verleiht man einer NewsApp Suchtpotenzial?

Sucht ist, finde ich, kein passender Begriff. Relevanz gefällt mir besser. Und die erzeugt man im mobilen Zeitalter über das perfekte Zusammenspiel von Content und Technologie. Exklusive oder gut erzählte Geschichten

Ist eine App heute wichtiger als die Website? Wir sind auf jeden Fall im mobilen Zeitalter angekommen. Egal ob App oder Web, die meisten Zugriffe auf unsere Inhalte werden über ein mobiles Endgerät getätigt. In der Vergangenheit hatten native Apps bei der Bereitstellung des besten Nutzererlebnisses auf mobilen Endgeräten sicher Vorteile, da bestimmte Features nicht im Browser zur Verfügung standen. Neue BrowserTechnologien können die Lücke mittlerweile aber fast schließen. Ich persönlich bin trotzdem immer noch Heavy-App-User. Die Nutzung von bestimmten exklusiven App-Features nehme ich als sehr positiv wahr. Dafür nehme ich den App-Install gerne in Kauf.

Definitiv nein. Keine KI wird exklusive Stories, pointierte Meinungsstücke, Hintergrundgeschichten, Interviews oder investigative Recherchen so schreiben können wie ein Mensch. KI kann aber mehr als nur unterstützen. Sie kann Informationen aggregieren, Fakten ausformulieren, Transkripte oder Texte erstellen. Journalisten gewinnen dadurch Zeit, um sich auf die relevanten Dinge zu fokussieren.

Kann KI Boulevard – hat sie den nötigen SpringerBiss?

Den Biss haben nur unsere Journalistinnen und Journalisten. Verlässlich sind die Informationen der Bots leider auch nicht immer. KI kann aber mit den richtigen Daten durchaus so trainiert werden, zu schreiben wie eine bestimmte Person oder Marke. Somit können gezielt Stile nachgeahmt werden, auch Boulevard.

Ich glaube, wir stehen in allen Bereichen der generativen KI noch ganz am Anfang. Insbesondere im Bewegtbild steckt die Technologie noch in den Kinderschuhen. KI kann für unsere Kunden ein neues, derzeit von vielen noch unentdecktes Mittel zum Interagieren mit Inhalten sein. Ein Beispiel: KI in Form eines Chatbots oder eines smarten Begleiters auf News-Webseiten wird Nutzern beim Entdecken der für sie relevanten Inhalte sicher helfen.

Brauchen wir in zehn Jahren überhaupt noch Bildschirme, um Nachrichten zu konsumieren?

Mit Sicherheit wird sich die Art und Weise unseres Nachrichtenkonsums verändern. Wie, kann keiner vorhersagen. Aber ich bin mir sicher: Menschen werden auch in Zukunft mit allen Sinnen erleben wollen. Text, Audio, Video, AR, VR – alles ist denkbar.

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Samir Fadlallah ist CIO bei Springer und CTO der Einheit News Media Germany
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»Personalisierbarkeit und Performance sind Pflicht«
Zwischen Tradition steckt Innovation. Am Medienstandort Bayern. Überzeuge dich selbst und entdecke, was der Medienstandort Bayern zu bieten hat! DAZN, Disney+, Joyn, Prime Video, Wow xplr-media.com Weiß -bier

„Spiegel“: wisch und hin

Per Smartphone-Swipe durchs vertikale Weltgeschehen: Der „Spiegel“ testet seit Juli 2022, ob das für seine Inhalte funktioniert. Direkt unter dem Aufmacher in Homepage und App steht seitdem die Story-Leiste, die Nachrichten- und Service-Themen im Hochkant-Format so aufbereitet, wie es die Generation Smartphone gewohnt ist: multimedial, viel (Bewegt-)Bild, Grafiken und Animationen, wenig Text.

Einen „Ankerpunkt für jüngere Menschen“ nennt das Ayla Kiran, Ressortleiterin Social Media. Und eine zusätzliche Möglichkeit, „Spiegel+“-Geschichten anzureißen. Auf denen liegt der inhaltliche Schwerpunkt in den Stories: Macht der vertikale Teaser neugierig, führt ein Wisch nach oben zum

Der „Spiegel“ sucht per Story neue Freundinnen

Text – und dann idealerweise direkt ins Abo.

„Vom Storytelling zum Storyselling“ nennt Ayla Kiran das. Nach einem Jahr zählt „Spiegel+“ 2.896 Neu-Abos von Userinnen, die direkt davor in den Stories unterwegs waren. Noch nicht eingerechnet: die Abos, die aus der Story-Weiterverwertung auf Instagram entstanden sind.

Nicht alles funktioniert in einem Jahr Stories: Ein Newsformat bringt weniger Aufrufe als erhofft, wird eingestampft. Umso besser laufen vertikale Weiterdrehs aktueller Themen, Recherche-Einblicke und Erklärvideos.

„Je früher das Stories-Team in Recherchen und Planung der Ressorts eingebunden ist, desto besser ist am Ende das Ergebnis“, sagt Kiran. So werde das Team auch zum „Labor für neue Workflows, die das Digitale im Fokus haben“.

Was ursprünglich für ein jüngeres Publikum konzipiert ist, funktioniert offenbar auch für alte Hasen: „Erstaunt“ registrierten Kiran und Kolleginnen auch hohe Zugriffszahlen und Verweildauer von bereits eingeloggten Abonnentinnen – auch die scheinen lieber durch die Stories zu swipen als sich durch die Website zu scrollen. Erstaunt zeigt sich Kiran auch über etwas anderes: „Es ist nicht nachvollziehbar, warum nicht jedes große Medium Deutschlands das Konzept bereits kopiert hat.“

Guckst du: Werbe-Stories bei „Welt“ setzen auf Optik

„Welt“ swipt siebenstellig

Auch Springer hat das Swipen für sich entdeckt –und direkt in ein Werbeprodukt umgewandelt: Bei welt.de sind Advertorials im vertikalen StorytellingFormat buchbar, optimiert für die Nutzung am Smartphone: bildstarke, leicht konsumierbare Kost für unterwegs, eingebettet in den Content der mehrheitlich mobil genutzten Online-„Welt“. „Wie unsere liebsten Social Apps, nur in brandsafe“, schwärmt Dirk Nolde, Director Axel Springer Brand Studios. Die Erfolgsformel für Kunden und Nutzer fasst er so zusammen: „weniger Text, mehr optisch aufbereiteter Inhalt“. Grafiken, Animationen, Videos, Fotos, Zitate. So lassen sich unterschiedliche Markenstories erzählen: Hyundai stellt per Swipe-Story seine neue E-Limousine vor, E.On gibt Stromspartipps, McDonald’s feiert sein Diversity-Konzept. Entstanden ist die Idee

zu den Swipe-Stories bei einem Hackathon von Entwicklerinnen und Produktmanagerinnen auf der Suche nach einem mobilfreundlichen Storytelling-Format für die Redaktion, Brand Studios und Produktentwicklung haben sie zum Vermarktungs-Tool weiter gedacht. Offenbar in die richtige Richtung: „Die Swipe Story steht für einen deutlich siebenstelligen Umsatz“, sagt Dirk Nolde. Der nächste geplante Schritt soll aber wieder zurück auf den Laptop führen: Das Format soll bald nicht nur mobil, sondern auch im Querformat funktionieren – und dafür mehr mediale Möglichkeiten bieten. Das Ziel: „Werbekunden den größtmöglichen Platz auf jeder Art von Screen zu verschaffen.“

Anne-Nikolin Hagemann

25 Burda: Alles wird gut

Sich im Insta-Feed in schöne Bilderwelten träumen statt sich mit der realen Welt auseinander zu setzen? In Zeiten von Krieg und Krise verlockend. In einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von Burda Forward gibt die Hälfte der Befragten an, Nachrichten manchmal bewusst zu meiden, um sich nicht damit zu belasten. „Das ist unsere Zielgruppe“, sagt Linda Hinz, neben Nachrichtenredakteurin Vivien Wilkens Co-Founderin von Burda Forwards App „News to be Good“. Die soll helfen, „sich zu informieren, ohne sich schlecht zu fühlen“.

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Fotos: PR

Einer von mehreren Bereichen der App ist der News-Flow: eine aktuelle Auswahl an zusammengefassten News, bewusst ohne Bilder, um NegativTrigger zu vermeiden, begrenzt auf zehn Stück. Das soll davor schützen, „in einem Endlos-Strom von Nachrichten zu versinken“ und ist inspiriert vom Instagram-Feed: Dort stoppt irgendwann die Meldung „Du bist auf dem neuesten Stand“ die Scrollerei –wenn auch nach deutlich mehr als zehn Posts. Nach dem News-Lesen kann man in Burdas App die Pause-Tase drücken – und bekommt Wohlfühl- und Selfcare-Inhalte zu sehen. Oder kann sich einer Good-Challenge stellen, kleinen Aufgaben mit Weltverbesser-Feeling: Datenmüll entsorgen und so CO2 sparen, Komplimente machen und Glückshormone tanzen lassen. Wer dann noch den App-Macherinnen etwas Gutes tut, etwa Werbung ansieht oder Freundinnen einlädt, sammelt Kleeblätter, die sich in Spendengelder umwandeln lassen. Im Bereich Gutes tun – also Kleeblatt-Spenden und Challenges – sieht Linda Hinz noch Ausbaupotential. Auch, was die Vermarktung angeht: „Hier bieten sich auch spannende Möglichkeiten für zu unserem

Purpose passenden Partnerschaften mit Stiftungen und Unternehmen.“

Wellen, Wind, Werbung: Republic setzt auf Emotion

26 Republic bewegt Bilder

Unter grau-blauem Morgenhimmel gleitet ProfiSurfer Finn Springborn in den Wellenschaum, die Kamera fährt mit. Die Multimedia-Reportage auf den Websites der „Frankfurter Allgemeinen“ und „Süddeutschen Zeitung“ begleitet ihn zum Training ans Meer. Er erzählt, untermalt von stimmungsvollen Bildern und Clips, von Herausforderungen, Inspiration und Kraft. Und von seinem Kia Sportage Plug-in Hybrid, der ihn zum Strand bringt, dessen Sitzheizung ihn nach einer Surf-Session wärmt und der dank E-Antrieb so gut zum nachhaltigen SurferLifestyle passe. Die Repor-

Heile Welt: Burda will die Angst vor News nehmen

tage ist gekennzeichnet als Werbecontent, produziert für Kia von Vermarkter Republic.

Aus den sozialen Medien sei die Zielgruppe Kurz-Content gewohnt, sagt Lukas Leister, Head of Content Solutions bei Republic. Gleichzeitig soll der Text „den hohen inhaltlichen Ansprüchen gehobener Leserschaften auf faz.net und sz.de“ genügen und Sachinfos liefern. Surfer Finn wird emotional inszeniert als authentischer Markenbotschafter nach Influencer-Prinzip. Das scheint zu gefallen: Eine Verweildauer von im Schnitt zwei Minuten und 19 Sekunden ist in Zeiten von Snackable Content schon beinahe eine vollwertige Mahlzeit. Und: Die Inhalte können von Kunde Kia mehrfach verwertet werden – für OOH und Markenwebsite zum Beispiel. Und Social Media. Anne-Nikolin Hagemann

TikTok-Projektgruppe. Viele Like-Herzchen bedeuten allerdings nicht immer, dass die Inhalte fachlich richtig sind. Die Apotheken-Umschau will da „mit wissenschaftlich fundierten Inhalten gegenhalten“.

Ob das Skelett im VideoHintergrund bald an einer Tanzchallenge teilnimmt? Seit 2023 mischt auch die @apotheken_umschau mit im Kurzvideo-Kosmos. „Es gibt mittlerweile viele Kanäle rund um Gesundheit, da es ein absolutes Lifestyle-Thema geworden ist“, sagt Samira Pletzer, Leiterin Social Media bei Wort & Bild und Teil der

Ziel des Channels sei, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu verbessern – und nebenbei auch die Bekanntheit der Marke. Für den jüngeren Teil der Zielgruppe klappt das besser im Feed als am Apothekentresen. Um passende Formate zu entwickeln, hat das Team Inhalte anderer Healthfluencer und Gesundheitsunternehmen analysiert und sich Hilfe der Agentur Social Attention geholt. Die Themen orientieren sich an Magazininhalten und spinnen diese als Videoformat weiter, alle Skripte werden von der wissenschaftlichen Redaktion geprüft. Die Hosts geben im Arztpraxis-Setting mit Skelett im Hintergrund Antworten auf Tabu-Fragen („Vaginal-Pupse beim Yoga?“), prüfen Gesundheitsmythen („Abnehmen per Spritze?“) und machen Straßenumfragen – stilecht mit Knochen-Mikro.

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Knochen-Talk mit der „Apotheken-Umschau“
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„ApothekenUmschau“ macht TikTok gesund

Wie kriegt man Oma Erna ans Tablet, Bernhard Bahners?

In dünn besiedelten Regionen stehen alle Verlage bei der Logistik der gedruckten Zeitung vor Herausforderungen: Die Zustellung ist deutlich kostenintensiver als in dicht besiedelten Räumen. In immer mehr Regionen wird sie zum Verlustgeschäft. Das ist wirtschaftlich nicht tragbar. Für die Madsack Mediengruppe ist in dieser Situation klar: Wir können es nicht zulassen, dass unabhängiger, kritischer und investigativer Journalismus in solchen Regionen nicht mehr stattfindet. Mit unserem Modellprojekt der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ im Landkreis Prignitz setzen wir auf ein

rein digitales Geschäftsmodell. Alle Angebote wurden mit Leserinnen und Lesern sowie Multiplikatoren vor Ort in einem kontinuierlichen Austausch entwickelt. Entstanden sind neue digitaljournalistische Angebote: Newsletter, Apps, Websites, Social Media.

Ferner haben wir in eine neu aufgestellte Lokalredaktion investiert, die sich mehr denn je auf die Themen vor Ort fokussiert, die für die Menschen wichtig sind. Unser E-Paper-Angebot wurde zudem um zusätzliche Funktionalitäten ergänzt – insbesondere für die vereinfachte Nutzung von Nutzergruppen im höheren Alter. Es gibt eine Vorlese- und Merk- sowie eine Zoom-Funktion und digitale Rätsel.

In Infoveranstaltungen konnten Leserinnen und Leser das neue Angebot kennenlernen. Mehr als 80 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einem bestehenden Print-Abo entschieden sich anschließend für den Wechsel zum Digitalangebot. Dies haben wir zusätzlich durch HardwareAngebote begleitet.

Ob Schulungen, Hausbesuche, Erklär-Flyer oder Service-Hotlines: Wir kämpfen um jede einzelne Kundin, jeden einzelnen Kunden. Unsere Unterstützung endet nicht bei der Ersteinrichtung. Der Aufwand lohnt sich: Vielen Bestandskundinnen und -kunden konnten wir Unsicherheiten nehmen. Wir erfahren oft Dankbarkeit dafür, ein Begleiter in der Digitalisierung zu sein.

Bernhard Bahners ist Digitalchef bei Madsack und RND-Geschäftsführer

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Wie bringt man TVGuides auf den HandyScreen, Malte Peters?

Als ich bei Funke anfing, waren die Reichweiten unserer zwei Hauptwettbewerber sieben- und dreimal größer als die unserer eigenen digitalen TV-Guides. Damit wollten wir uns nicht abfinden. Wir haben viel Zeit und Energie in den Aufbau von hoerzu.de, tvdigital.de und tvdirekt. de investiert. Zwar wurden unsere Seiten immer stärker genutzt, das Wachstumstempo reichte aber nicht aus, um jemals zum Wettbewerb aufzuschließen.

Um schneller zu wachsen, haben wir uns auf die Entwicklung von TVGuide-Apps konzentriert.

Weil sich abzeichnete, dass Android mittelfristig iOS als meistgenutztes Betriebssystem ablösen würde, haben wir uns für eine Android-First-Strategie entschieden. Da bisher nur ein Wettbewerber eine Android-App gelauncht hatte, konnten wir von Googles Aufholjagd profitieren. Unsere erste App zählte 30 Tage nach Start 120.000 Nutzer:innen. Heute betreiben wir fünf TV-Guide-Apps, die auf 35,8 Millionen Visits pro Monat kommen.

Zuletzt haben wir die Hörzu-App entwickelt – unser ausgereiftestes Produkt und mit 16,5 Millionen Visits pro Monat die meistgenutzte TV-Programm-App in DACH. Anfangs hatte ich starke Vorbehalte, unter der Marke „Hörzu“ eine weitere App zu starten, wollte mich auf unsere jüngeren Brands TV Digital und TVdirekt konzentrieren. Dass mich unser Team dennoch überzeugt hat, war rückblickend entscheidend für die Entwicklung von Hörzu zu Funkes reichweitenstärkster Digitalmarke.

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Malte Peters führt zusammen mit Matthias Sandner das Digitalgeschäft von Funkes Zeitschriftensparte Fotos: PR, Tim Schaarschmidt, Andreas Chudowski

30 Müssen sich Medienmarken vom Screen emanzipieren, Jochen Wegner?

Auf den ersten Blick kann es so scheinen, als arbeite Zeit Online an der Befreiung vom Bildschirm. Wir veröffentlichen Podcasts, wir initiieren analoge Festivals, wir veranstalten Demokratie-Experimente, all dies weitgehend abseits vom Bildschirm. Neuerdings trainieren wir KI-Systeme, die nicht nur alle unsere Inhalte rezitieren können, sondern mit denen ich mich auch darüber unterhalten kann: „Zeit, welche Gerichtsverfahren laufen gerade gegen Donald Trump und warum?“

Müssen sich Medien vom Screen emanzipieren? Die Frage ist nicht so neu, wie sie klingt. Schon zur Geburtszeit der Online-Medien, Ende der 80er, prophezeite der Informatiker Mark Weiser, dass eine Zeit des „ubiquitous computing“ bevorstehe. Computer würden

zunehmend unsichtbar und in unserer Umgebung verschwinden, bald müsse niemand mehr auf einen Desktop-Bildschirm starren. Auch „Wired“-Gründer Kevin Kelly oder der Informatiker und Futurist Ray Kurzweil formulierten ähnliche Gedanken. Elon Musk, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und Tim Cook gießen sie bereits in Produktstrategien.

Aber es ist kompliziert. Kein Medium wird jemals so ganz durch ein anderes ersetzt. Unsere technischen Vorrichtungen zum Gedankenaustausch verfeinern höchstens ihren Zweck. So ungefähr lautet das „Rieplsche Gesetz der Medien“ von 1913, das eher eine grobe Faustregel ist und bis heute erstaunlich haltbar. Fernsehen hat das Kino nicht ersetzt, sondern verändert, Streaming nicht das Fernsehen, und so weiter.

Wir werden deshalb noch sehr lange eine Zeitung drucken, auch, wenn wir immer mehr digitale Leser gewinnen. Die Zeitung ändert nur nach und nach ihre Funktion und wird von vielen aus ganz neuen Gründen geliebt als vor 20 oder 80 Jahren. Mit der Screen-Emanzipation wird es deshalb ebenfalls nichts. Wir werden nie aufhören, auf Desktopund Smartphone-Bildschirmen zu erscheinen, auch, wenn uns Menschen in fünf oder zehn Jahren vielleicht über „konversationelle Interfaces“ rezipieren, einer Art hochbegabtem Urenkel von Siri, ChatGPT und Google.

und immer neue geboren werden – auf wie vielen davon können, ja müssen wir in Zukunft mit unseren Inhalten präsent sein?

Schon heute gibt es uns nicht nur am Kiosk, auf zeit.de und in den App Stores. Es gibt uns auf Facebook und Instagram, TikTok, YouTube und Twitch. Wir livestreamen ein wöchentliches Videoformat und betreiben ein Roboter-Radio. Sicher wird es uns auch in den nächsten fünf oder zehn erfolgreichen Inkarnationen digitaler Medien geben, seien sie nun intelligent oder nicht, mit Bildschirm, Datenbrille oder Datentapete im Wohnzimmer, mit Sprachinterface oder Hirn-Schnittstelle. Vom Bildschirm emanzipieren müssen wir uns nicht. Wir müssen herausfinden, wie wir diesen

stetig wachsenden Kleintierzoo digitaler Angebote in Zukunft füttern sollen. Schließlich benötigen alle Medien ihre eigene Idee, eine adäquate Aufbereitung unseres Journalismus, einen eigenen Sound und Ansatz. So, wie wir nicht nur eine gedruckte Wochenzeitung ins Internet stellen, erfordert Instagram andere Formate als TikTok, Live- und Audio-Angebote gehorchen wieder anderen Gesetzen. Wenn die Zahl der Köpfe in unseren Redaktionen mit dieser Entwicklung nicht mitwächst, fällt mir nur eine Antwort auf die Frage nach dem Kleintierzoo ein. Viele KIs werden uns bald dabei helfen, unseren Journalismus für eine wachsende Zahl von Kanälen, Plattformen und Screens aufzubereiten. Wir arbeiten schon daran.

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In Riepls Faustregel ist deshalb eine Falle verborgen für jene, die die Zukunft der Medien gestalten: Da die alten Medien nie verschwinden

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Jochen Wegner ist Chefredakteur von Zeit Online und Mitglied der Chefredaktion der „Zeit“
»Kein Medium wird jemals so ganz durch ein anderes ersetzt. Die Zeitung ändert nur ihre Funktion«
Foto: Picture-Alliance

31 Blick in die Unendlichkeit

Von den oberen Rängen des SoFi-Stadiums in Inglewood, Kalifornien, sehen die Spieler auf dem Rasen aus wie wuselnde Ameisen. Blickt man nach oben, werden sie zu Riesen: Der Infinity Screen von Samsung, ein 110 Meter langer, ovaler Ring, ist beim Finale des Super Bowl 2022 erstmals im Einsatz und zeigt rund 37 Meter über dem Spielfeld Höhepunkte, Szenenwiederholungen und Statistiken zum Spiel. Er ist der größte Sport-Bildschirm der Welt. Als die LA Rams gegen die Cincinnati Bengals mit 23 zu 20 gewinnen, fließen die Freudentränen in 4K.

Ein bisschen Netflix

Für die Regionalzeitungen der FunkeGruppe liegt ein Teil der Zukunft im Bildschirm-Sport

Wenn der FC Rot-Weiß Erfurt gegen den ZFC Meuselwitz zum Thüringen-Derby antritt, ist Stimmung auf den Rängen. Wer keinen Platz im Stadion ergattert, kann das Spiel im Internet sehen – auf den Websites von „Thüringer Allgemeine“, „Ostthüringer Zeitung“ und „Thüringische Landeszeitung“, zum Eintrittspreis von fünf Euro.

Die drei Thüringer Tageszeitungen der FunkeGruppe haben die Rechte für 20 Spiele der Regionalliga Nordost erworben – für hoch vierstellige Summen pro Spiel. Sie freuen sich über vierstellige Zuschauerzahlen und rund 500 Menschen pro Spiel, die für fünf Euro auch zwei Monate lang Zugriff auf die Websites kaufen. Immerhin rund 45 Prozent von ihnen wechseln später ins Vollabo der Website.

Das Interesse hat viel mit Ostalgie zu tun: In der viertklassigen Regionalliga Nordost haben sich viele Vereine aus der früheren DDR-Oberliga versammelt wie Dynamo Berlin, Lok Leipzig und Energie Cottbus. Dazu die Thüringer Clubs Erfurt, Meuselwitz und Carl-Zeiss Jena. Hier leben Tradition und Fan-Treue. Da will Roman Seefeldt, Projekt-

manager bei Funke Thüringen, als Bildschirmmedium dabei sein: „Die Idee ist eben nicht: Schuster, bleib bei deinen Leisten; Funke, bleib bei deinen gedruckten Zeitungen.“

Seefeldt will lokale Präsenz zeigen und zahlenden Nutzern ein Goodie bieten. Er visioniert „die Zeitung als Medium für den lokalen Live-Sport“. Doch noch gibt der Lizenznehmer Ostsport.tv eine deutliche Mehrheit der Spiele der Regionalliga Nordost an den öffentlich-rechtlichen MDR. Sollte die Politik den MDR bei der nächsten Gebührenrunde zum Sparen anhalten, könnten für Funke mehr Spiele möglich werden. Die Nummer Zwei beim regionalen Bildschirm-Sport will Seefeldt jetzt schon sein.

Till Rixmann, Teamlead New Products bei Funke, schränkt ein: „In Thüringen ist die Nummer Zwei realistisch, in Hamburg oder Berlin nicht.“ Rechte an der 1. oder 2. Bundesliga, dem Fußball-Ober-

haus, sind für Funke nicht zu refinanzieren. Die 3. Liga finden Rixmann und Seefeldt dagegen spannend. Rixmann: „1. und 2. Liga sind nicht drin, 3. Liga ist realistischer und prüfen wir.“

Lernen lässt sich überall. „Wir sind schnell und experimentierfreudig“, sagt Rixmann. „Wir profitieren dabei von Vernetzung, wir teilen Erfolge und Misserfolge“. Roman Seefeldt ergänzt: „Wir alle dürfen auch Fehler machen“ – und Erfahrung sammeln. So hat ein Experiment mit Tennis nicht funktioniert: Das ATP-Challenger-Turnier Brawo Open in Braunschweig fand digital kaum zahlende Zuschauer.

Ein Experiment läuft auch in der Kreisliga A1 Bochum – eine echte Rückkehr ins Lokale. Wo früher Raum für Hartplatzhelden war, geht’s heute auf Kunstrasen zur Sache. Alle Spiele sind Lokalderbys, alle Teams aus Bochum und seinen Vororten. Zwei Live-Spie-

le pro Spieltag überträgt Funke – für drei Euro ist der Fan drei Monate lang digital live dabei, zum Beispiel beim Spiel SV Höntrop gegen VfB Günnigfeld II. Zwar mit nur einer Kamera und ohne Zeitlupe, aber immerhin mit Kommentator und ruckelfreiem Bild. Funke ist mit einem Zeltpavillon und Reportern vor Ort, bearbeitet Clips mit Höhepunkten, pflegt den Instagram-Kanal @kreisliga_bo_live, verschickt einen Newsletter und plant eine Talkshow. Ziel sind neue Digitalabos und eine höhere Bindung für bestehende Abonnenten. Till Rixmann: „Sollten wir Erfolg haben, werden wir das Projekt bestimmt skalieren.“

Die Infrastruktur für neue Bildschirmaktivitäten hat Funke schon gebaut: TV-Studios in Essen, Hamburg, Berlin und bald auch Braunschweig und Thüringen werden für Live-Talks wie „Fußball inside“, Podcasts und Videopodcasts genutzt.

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Funke ist da, wenn in der Kreisliga Bochum die Bälle rollen. Live-Kommentar inklusive Foto: Dirk A. Friedrich, PR

Nicht nur Fußball trauen sich die Funke-Leute zu. In Sublizenz von Dyn übernehmen sie Spiele aus der Basketball-Bundesliga, wie Alba Berlin auf morgenpost.de. Auch zeigen Funke-Websites Spiele aus den Bundesligen von Handball, Volleyball und Feldhockey.

Sogar ein bissen Netflix wagen die Funke-Leute: Die Fußballer des Eimsbütteler Turnverbands sind von der 6. Liga durchmarschiert in die 4. Liga, die Regionalliga Nord. Die Videoreporter des „Hamburger Abendblatt“ waren und sind in einem Langzeit-Projekt dabei, um in einer Doku im Netflix-Stil den steilen Aufstieg der Hamburger Vorstädter und ihre erste Saison in der Regionalliga zu dokumentieren. Im Sommer 2024 sollen auf abendblatt.de sechs bis acht Folgen à 30 Minuten laufen – aber nur für zahlende Nutzerinnen der Website. Peter Turi

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Wie wollen Sie Volleyball & Co wieder auf den Bildschirm kriegen, Christian Seifert?

Es gibt Millionen von Sportfans, deren Lieblingssportart nicht Fußball ist. Die wollen wir mit Dyn erreichen und begeistern. Die Vorausset-

zungen waren nie besser: Zunehmend breitbandige Internetanbindungen ermöglichen hervorragende Streaming-Qualität – alle neuen Angebote der letzten Jahre setzen nur noch auf diesen Zugang.

Rasant verbesserte Kameratechnologie ermöglicht kleineren Sportarten eine immer professionellere Inszenierung. Die Übertragung basiert auf immer größerer Erfahrung der technischen Dienstleister. Im Ergebnis steht die Möglichkeit, Sportarten auch jenseits der nationalen Marktführer medial erstklassig zu präsentieren.

ner Social-Media-Teams in Bundesliga-Kaderstärke. Andere Sportarten haben diese Möglichkeiten nicht. Da setzen wir an. Neben einer erstklassigen Live-Produktion schaffen wir auf flexiblen und mobilen Konsum zielende Social-Media-Formate.

am Spieltag. Wir nennen das Initial-, Preview- und Follow-Up-Content. Beim OMR-Kongress war da von „Snippification“ die Rede – und genau das machen wir. Dazu können sich regionale Medien an unser Dyn-Media-Network anschließen und erhalten gegen eine geringe technische Gebühr Highlights der Bundesligisten in ihren Regionen.

Das geht über den reinen (Live-)Spieltag hinaus. Denn auch im Sport entsteht die Nachfrage vor dem Konsum – also zwischen den Spieltagen. Für den Fußball erledigen das mehr oder weniger automatisch eine Vielzahl von Medien samt clubeige-

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Zwischen 90 Sekunden und 20 Minuten Länge werden diese von einem exzellenten On-Air-Team präsentiert. Dabei kombinieren wir kompetente redaktionelle Arbeit so konsequent wie noch nie mit den Möglichkeiten von Social Media. Alle Formate haben ein eigenes Branding, einen Host sowie ein festes Veröffentlichungsdatum. Zunächst auf der Dyn-Plattform, kurz danach frei verfügbar auf unseren Social-Kanälen. Ausschnitte daraus weisen auf das Format hin und finden sich ebenso in der Berichterstattung

Das erhöht die Reichweite für den Sport, die Clubs und die Sponsoren –und generiert attraktiven Content für Medienhäuser, die bisher bestenfalls statisch berichten konnten. Durch die großen Reichweitenpartner Axel Springer, ARD und ZDF erhöhen wir die Sichtbarkeit der Ligen auch auf nationaler Ebene.

Mediale Präsenz führt zu Interesse, Interesse zu Reichweite. Und Reichweite zu Nachfrage.

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Christian Seifert war Chef der DFL. Seit August 2023 streamt seine Gründung Dyn die großen Mannschaftssports jenseits des Fußballs
»Mediale Präsenz führt zu Interesse, Interesse zu Reichweite. Und Reichweite zu Nachfrage«

34 Warum verkauft sich das TVProgramm mit blonder Cover-Frau noch immer,

Philipp Schulze?

Warum schreibt „Barbie“ Kinogeschichte? Weil der Film mit einem stereotypen Frauenbild spielt (und aufräumt). Gleichzeitig spricht er auch und gerade wegen dieser Stereotype so viele Menschen an. Ich bin froh, dass der Film dazu beiträgt, Schönheitsideale und Geschlechterrollen zu hinterfragen.

Aber zurück zur Frage: TV-Zeitschriften sind nicht gleich TV-Zeitschriften. Als ich aufgewachsen bin,

Philipp Schulze ist bei Bauer Editorial Director für „TV14“, „TV Movie“, „TV Hören & Sehen“, „Happinez“ und „Welt der Wunder“

haben sich die Programmzeitschriften kaum voneinander unterschieden. Jeder hat vom anderen abgekupfert und kaum Risiken gewagt. Da hat man sich schon öfter mal am Kiosk vergriffen, weil die Cover-Heldinnen alle gleich aussahen. Das hat sich zum Glück geändert. Bei „TV Movie“ etwa heben wir alle Haarfarben auf das Cover – mit Erfolg. Gleichzeitig wollen Programmzeitschriften so viele Menschen wie möglich ansprechen.

Denn: TV-Magazine sind Mainstream! Und wenn sich auf einer erfolgreichen Zeitschrift wie „TV14“ – rund 3,7 Millionen Menschen lesen das Heft – eine blonde Frau am besten verkauft, dann tragen wir dieser Tatsache Rechnung. Was aber nicht heißt, dass wir bei „TV14“ nicht andere Covermodels im Markt testen.

Leider funktionieren

Männer auf dem Cover nach wie vor nicht. Nicht mal, wenn sie blond sind.

Selbst Stars wie Daniel Craig nicht. Was mich als

James-Bond-Fan natürlich wurmt. Menschen suchen auch in Programmzeitschriften nach Verlässlichkeit. Veränderungen lassen sich nur schwer über Nacht umsetzen. Aber klar, auch TVZeitschriften müssen sich weiterentwickeln. Sowohl auf dem Cover als auch inhaltlich. Das sehen wir im Bereich Streaming. Eigentlich ist der Streaming-Boom nichts anderes als der Hype um das Privatfernsehen damals: Plötzlich waren unzählige neue Sender da, deren (Über-)Angebot viele überfordert hat. Die 14-tägigen TV-Hefte haben genau das Anfang der 1990er-Jahre erkannt, aufgegriffen und für Ordnung im Film- und Serienchaos gesorgt. Und die braucht es heute noch immer, wenn nicht sogar noch mehr. Denn die Vielfalt an Filmen, Serien und Dokumentationen war nie größer. Das ist Fluch und Segen zugleich. Programmzeitschriften mit ihren Bewertungssystemen sind wichtiger denn je. Und selbst für mich als Film-Junkie, TV-Addict und Berufs-Gucker, der als Filmkritiker angefangen hat und jeden Abend viele Filme und Serien schaut, ist es unmöglich, sämtliche Neuerscheinungen im Blick zu haben. Da bin ich einmal mehr dankbar für meine Redaktion und einen Blick in unsere großartigen Programmhefte. EntertainmentStress kann schließlich keiner gebrauchen.

»Wenn man über den Holocaust spricht,

Spruch«

Mirko Drotschmann, YouTuber und ZDF-Moderator, erklärt Themen so, dass Follower folgen können – und warnt vor zu viel Snackable Content

Du bist ausgebildeter Journalist, als YouTuber berühmt geworden und moderierst jetzt fürs ZDF. Warum will man heute überhaupt noch zum Fernsehen?

Weil man die Leute da noch überraschen kann. Wer sich seine Inhalte selber im Netz zusammenstellt über eine Mediathek oder einen Streamingdienst, sucht ganz bewusst aus. Viele Leute schauen aber fern, um sich überraschen zu lassen. Fernsehen hat auch immer noch die Magie und die Anziehungskraft, Familien zu versammeln und Gesprächsthemen zu bilden, weil alle zur gleichen Zeit etwas angeguckt haben. Ob das jetzt ein Fußballspiel ist oder eine große Show oder eine spannende Dokumentation. Die Lagerfeuerfunktion ist noch da – wenn auch nicht im Umfang von früher.

Wie gelingt es, Inhalte über den Screen so zu

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passt kein lockerer

vermitteln, dass sie tatsächlich auch geguckt werden?

Indem man eine gute Dramaturgie hat, einen guten Spannungsbogen und die Leute mitnimmt mit einem roten Faden. Wenn ich Skripte für YouTubeVideos schreibe, überlege ich immer zuerst: Was könnte der Titel fürs Video sein? Ich nehme diese Titelidee als Leitfaden und kann immer wieder darauf zurückkommen. Das hilft mir auch, beim Thema zu bleiben. Die Leute folgen dir, wenn sie dir folgen können. Außerdem möchte ich Themen möglichst anschaulich vermitteln, steige oft mit einem Bild ein oder mit einer Szene. Zu trocken, zu theoretisch: Das funktioniert nicht. Man sollte sich auch nicht hinter Floskeln oder

Fachausdrücken verstecken, sondern die Dinge auf den Punkt bringen.

Wie viel Entertainment darf im Infotainment stecken?

Man sollte nicht der Unterhaltung wegen Klamauk machen. Es gibt auch Themen, da verbietet sich das einfach: Wenn man über den Holocaust spricht, passt kein lockerer Spruch. Ich will Fakten möglichst anschaulich, plastisch und sachlich vermitteln, ohne Übertreibung, ohne Auslassungen. Zentrum ist immer das Thema, unterhaltende Elemente können helfen. Aber im Zweifelsfall sollte man sie eher weglassen, um den Inhalt nicht zu verwässern und auch nicht für Missverständnisse zu sorgen. Wenn ich

in einem Video über ein politisches Thema einen Spruch mache, könnte der falsch aufgefasst und fehlinterpretiert werden, als eine politische Haltung, die ich vielleicht gar nicht habe. Auch mit Gestik und Mimik muss man da immer sehr aufpassen.

Was kann sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen von Streamern abgucken?

Ein Netz-Prinzip, das ich auch immer wieder praktiziere: Trial and Error. Den Mut zu haben, Dinge auszuprobieren –und dann auch den Mut, zu sagen: Funktioniert nicht, wir probieren was anderes. Da könnte man ein bisschen waghalsiger sein. Das bedeutet nicht, nachlässiger mit Rundfunkbeiträgen umzugehen – sondern einfach mehr Freude am Entwickeln neuer Formate. Das hat auch YouTube stark gemacht: Dass Leute einfach angefangen haben, vor der Kamera zu zocken und dabei über ihre Wochenendeinkäufe zu reden. Dann haben sie das hochgeladen, das hatte Erfolg und dann haben sie weitergemacht. Ich glaube, diese spielerische und leidenschaftliche Herangehensweise und der Mut zum Scheitern könnten sehr fruchtbar sein für die Produktion von Inhalten. Bei Funk kann man gut sehen, dass das bei den Öffentlich-Rechtlichen funktioniert. Das würde es sicher auch im linearen Fernsehen.

Auf Social Media geht der Trend zu immer kürzeren Short Videos. Wie denkst du darüber? Zugegebenermaßen tue ich mich damit noch

schwer. Ich habe bisher kein einziges Short veröffentlicht. Wenn es um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine geht – wie soll ich in einer Minute erklären, was da die Hintergründe sind? Oder das Thema Holocaust in 60 Sekunden – selbst wenn man da nur einen Aspekt herausgreift: Man wird dem nicht gerecht. Ich sehe eine bedenkliche Tendenz, auch im Journalismus, die Dinge immer mehr zu verknappen, um die Leute ja nicht zu überfordern. Snackable Content zu erstellen, um mitschwimmen zu können im Reichweiten-Strom. Das kann funktionieren, aber es funktioniert nicht immer.

Ein Argument, Short Videos zu machen, ist oft die Gen Z – die hat ja angeblich nur noch eine superkurze Aufmerksamkeitsspanne von all dem Scrollen durch TikTok.

Damit unterschätzt man diese Generation extrem. Was sicherlich stimmt: dass man Leute nicht mehr erreicht, wenn man die Plattform ignoriert, auf der sie unterwegs sind – und das teilweise ausschließlich. Aber ich erlebe jeden Tag, dass sich auch 13-Jährige bei YouTube 20-Minuten-Videos angucken, weil sie einfach etwas wissen möchten über ein Thema. Klar: Es geht niemand auf Instagram oder TikTok, um sich da ein langes Video anzugucken, sondern um schnell durch den Feed zu scrollen. Das hat aber nichts mit der Sehgewohnheit der Menschen zu tun, sondern mit dem Aufbau der Plattform.

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Fotos: PR, Dennis Weissmantel / ZDF Mirko Drotschmannt ist auf YouTube als „MrWissen2go“ und im TV als Moderator von „Terra X“ bekannt

Bewegtbild-Experte Magnus Gebauer vom Medien-Netzwerk Bayern über Veränderungen im Streaming-Markt

Früher war Pay-TV etwas Elitäres, heute sind bezahlte Streamingdienste fast so selbstverständlich wie Strom aus der Steckdose. Was machen Netflix, Amazon, Disney und Co. heute besser als Premiere damals in den 90er-Jahren?

Man kann Premiere gar nicht direkt mit den heutigen Streaminganbietern vergleichen, weil sich die Infrastruktur zur Distribution komplett verändert hat. Zum einen hat man für Premiere früher noch eine eigene Hardware gebraucht, um das Programm überhaupt zu empfangen und zu entschlüsseln. Das war deutlich aufwändiger als heute. Zum anderen hat sich mit der SubscriptionEconomy vieles gewandelt. Es gibt Dienstleister für die Distribution und für die Abrechnung. Dadurch ist die Nutzung viel simpler als es in der Premiere-Zeit noch war. Gerade diese Einfachheit ist es, die Streaming so beliebt macht.

Welche verschiedenen Geschäftsmodelle gibt es heute bei den StreamingAnbietern?

Grundsätzlich kann man

zwischen drei Monetarisierungsmodellen unterscheiden: Es gibt die klassischen Abo-VoDAngebote wie Netflix. Dann haben wir Transaktionsmodelle, bei denen ich mir einen Film oder eine Serie einzeln kaufe oder leihe wie damals eine DVD. Und ich habe Advertising-supported Video-on-Demand, wo ich das Ganze über Werbung refinanziere. Mittlerweile gibt es auch immer mehr Mischformen, die ein bisschen Werbung haben. Dadurch wird der Abo-Preis etwas günstiger.

Welche Bedeutung hat Streaming-Werbung für die werbetreibende Industrie?

Das ist als Werbeumfeld super interessant, weil die klassische TV-Nutzung immer weiter abnimmt. Daher sucht die Werbeindustrie Mittel und Wege, die Menschen zu erreichen. Gerade die Jüngeren sind eher im StreamingUmfeld unterwegs. Und mit den FAST-Kanälen, also werbefinanzierten, linear gestreamten Spar-

Magnus Gebauer ist Experte für Medientrends im Bewegtbild beim MedienNetzwerk Bayern. Zuvor arbeitet der studierte Wirtschaftswissenschaftler bei Mediaplus

ten-Kanälen, gibt es inzwischen Angebote, die eine relativ große ThemenBandbreite abdecken.

Verschiedenen Studien zufolge ist die Zahlungsbereitschaft für Inhalte im Jahr 2023 gering. Wie halten die Anbieter ihre Kunden trotzdem bei der Stange?

Das geht hauptsächlich über die Inhalte. Nur wer die Inhalte hat, die die Leute sehen wollen, hält die Kundschaft auch in Zeiten, in denen es finanziell knapper ist. Aber wenn ich keine guten Inhalte habe, die interessant sind, dann ist es fast egal, ob die Zeiten gut oder schlecht sind. Dann werde ich mein Publikum nicht halten können. Natürlich experimentieren die Anbieter immer wieder auch mit innovativen Ideen und Angeboten, um das Publikum zu halten – man denke nur an Netflix. Interaktivität spielt hier eine wichtige Rolle, sei es durch „Choose Your Own Adventure“-Ansätze, wie in der Romantik-Komödie „Choose Love“ oder durch Gaming. Mit Netflix Games versucht man seit einiger Zeit schon, das Portfolio erfolgreich in Richtung Gaming zu erweitern und wie es aussieht, werden die Games durch die neue ControllerApp schon bald auf dem großen Screen nutzbar sein. Mit Blick auf Familien spielen die Angebote für Kinder auch eine sehr wichtige Rolle, da spreche

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„Wehe, die Lieblingssendung ist nicht mehr verfügbar!“
»Wenn ich keine guten Inhalte habe, ist es fast egal, ob die Zeiten gut oder schlecht sind«

ich aus eigener Erfahrung. Wehe, die Lieblingssendung ist plötzlich nicht mehr verfügbar!

Wie speziell ist das Modell Prime Video, das auch Marketing-Instrument für das Gesamtprodukt Amazon Prime ist?

Disney betreibt das schon viel länger als Amazon. Die nutzen ihre Bewegtbildinhalte zu Marketingzwecken, um ihre Freizeitparks zu bewerben oder Merchandise zu verkaufen. Wenn man Disney und Amazon mit den reinen Streamingdiensten vergleicht, haben die einen großen Wettbewerbsvorteil, weil sie die Monetarisierung viel breiter spielen können und Einnahmen aus unterschiedlichen Kanälen generieren.

Für wie viele Streaminganbieter ist Platz am Markt?

Ich gehe davon aus, dass sich der Markt weiter konsolidieren wird. Das heißt aber nicht, dass nicht auch neue Player am Markt erfolgreich sein können. Etwa der neue Sport-Anbieter Dyn, der ein ganz neues Konzept hat, das den Markt verändern könnte, wenn das Angebot angenommen wird. Man kann gar nicht sagen, dass der Markt jetzt gesättigt ist und die jetzigen Akteure bestehen bleiben. Da kommt es sicherlich auch noch zu Verschiebungen, bei denen alte Anbieter verschwinden und neue dazukommen. Letzten

Endes hängt es davon ab, ob die Angebote gesehen und bezahlt werden – ob nun über Werbung oder Abos.

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Eine für alles

Bei RTL+ können Userinnen nicht nur fernsehen, sondern auch lesen, hören, blättern. Drei Fragen zur eierlegenden Wollmilch-App an Henning Nieslony, Streaming-Chef von RTL

TV, Film, Musik, Podcast, Hörbuch, Radio und Magazine von G+J – Bertelsmann und RTL treiben den Trend zur umfassenden App auf die Spitze. Warum eigentlich?

In allen entwickelten Streamingmärkten finden wir Bundles. Kund:innen wünschen sich ein breites Inhalteangebot, möglichst einfach und relevant aufbereitet, zu einem guten Preis. Wir wissen aus Studien und eigenen Befragungen und Tests, dass eine App als Content-Begleiter durch den Tag für viele Menschen in diesem Markt einen starken Mehrwert bietet. Verbunden über Feeds, Recos und Themenwelten können so beispielsweise tagsüber Audio- und MagazinInhalte und vorzugsweise abends Video-Inhalte noch einfacher aufgefunden werden. Zudem sehen wir, dass die monatlichen Budgets für digitale Bezahlinhalte von Kund:innen aktiv gemanagt

werden. Hier bieten wir mit der Multimedia-App einen starken Preisvorteil, der die Nachfrage ebenfalls ankurbelt.

Gehen die einzelnen Marken in einem solchen Konvolut nicht unter?

Wir haben die Markenarchitektur von RTL Deutschland vor knapp zwei Jahren harmonisiert. Damit wollten wir es unserem Publikum leichter machen, sich zu orientieren. In diesem Zuge wurde unser Streamingdienst TVNow in RTL+ umbenannt. Eine Marke mit dieser Strahlkraft und Bekanntheit zu haben, ist in einem fragmentierten Markt ein Geschenk, von dem auch alle anderen Marken profitieren, die auf RTL+ gut sichtbar vertreten sind. So geben wir unseren Format-, Produkt-, und Sendermarken, aber auch den Inhalten unserer Partner eine starke Bühne, um Kund:innen anzuziehen und zu begeistern.

Was ist die größte Gefahr bei der Entwicklung einer solchen Alles-App? Wir sprechen von einem Katalog mit über 55.000 Programmstunden an Video- und TV-Entertainment, über 120 Millionen Musiktiteln, mehr als 100.000 Hörbüchern und Hörspielen, mehreren tausend Podcast-Formaten sowie den Digitalausgaben von aktuell sieben Gruner + Jahr-Magazinen. Die Komplexität ist gigantisch für alle beteiligten Teams, die Anforderungen unserer Abonnent:innen sind sehr hoch, gleichzeitig gibt es wenig Vorlagen. Die App ist jetzt im Markt. Das liegt daran, dass wir nie an einem Weg festgehalten, sondern ihn immer angepasst haben – so wie mit dem Launch der RTL+ Musik-App im letzten Jahr. Auch dadurch haben wir viele Learnings generiert, die uns beim Launch der Multimedia-App sehr geholfen haben. Jetzt gilt es, das Produkt täglich weiterzuentwickeln.

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Fotos: PR, Chriz Merkl Björn Czieslik Henning Nieslony ist Chief Streaming Officer bei RTL Deutschland

Sechs Branchenprofis antworten – von Sport-Streaming bis Marktforschung

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Haruka Gruber

Dazn

Der klassische Werbespot wird in Zukunft sogar noch relevanter sein, denn durch die Öffnung der Streamingdienste für Advertisement steigt die Nachfrage nach Bewegtbild-Inventar.

Bei Dazn sind mehr als 70 Prozent der Zuschauenden unter 50 Jahre alt, die meiste Zeit schauen sie am Big Screen. Bewegtbildwerbung zeigt dort nachweislich Wirkung und hat keinen negativen Einfluss auf Zufriedenheit und Engagement der Abonnenten, solange der Anteil zwischen Werbung und Programm ausbalanciert bleibt.

Klassische Werbespots könnten allerdings sogar noch wirkungsvoller sein, wenn die technischen Möglichkeiten, die speziell Streamer schon jetzt in Sa-

chen Kreativität, Storytelling und Targeting bieten, besser genutzt werden würden.

Damit meine ich zum Beispiel, dass ein hoher Unterhaltungswert eines Werbespots Mehrwert bietet. Selbst 60-Sekünder können eine ViewThrough-Rate von mehr als 95 Prozent haben. Dank programmatischer Ausspielung, zum Beispiel vor einem Spiel, in der Pause und nach dem Spiel, kann dem einzelnen User über Werbespots auch eine in sich fortlaufende Geschichte erzählt werden. Und durch Device Targeting lässt sich die Gestaltung zielgenau anpassen: Auf CTV funk-

tionieren epische Motive sehr gut, auf Mobile passen eher auf Small Screen optimierte Edits. Ich erhoffe mir von den Werbetreibenden mehr Mut in diese Richtungen –denn der Erfolg ist bei uns messbar.

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Waipu.tv

Bewegtbild wird auch weiterhin das zentrale Format der werblichen Botschaften bleiben. Aber schon heute zeigt sich ein radikaler digitaler Wandel in puncto Kreation, zielgenauer Aussteuerung und Leistungsmessung der Werbespots.

Beispielsweise werden immer mehr Elemente wie QR-Codes im Spot eingesetzt, um interaktiv in den Marken-Dialog eintauchen zu können. Der Konsument wird damit noch stärker in die Produktwelt hineingezogen. Diese Interaktivität wird künftig viel mehr Facetten im Werbespot ermöglichen.

Außerdem kann ein Werbespot nicht nur in seiner

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Wie sieht für dich der Werbespot der Zukunft aus?
Bettina Bellmer ist COO der Exaring AG, dem Entwickler von Waipu.tv Haruka Gruber ist Senior Vice President Media bei Dazn
»Es gibt immer mehr QR-Codes in Spots. Diese Interaktivität wird künftig mehr Facetten ermöglichen«
Fotos: PR, Leon Becker-Detert

Gestaltung, sondern auch in seiner Aussteuerung sehr viel feiner an die unterschiedlichen Zielgruppen adressiert werden. Die Zukunft des Werbespots wird deutlicher durch eine ROIPerspektive, Daten und Technologien getrieben. Erfolgskritisch sind aber auch, wie bisher, eine hochwertige kreative Umsetzung, die Idee und das Storytelling. Also: Werbung wird noch effizienter für den Werbungtreibenden, aber auch ansprechender und relevanter für den Konsumenten. 40

„One size fits all“, wie es jahrelang in der Werbung umgesetzt wurde, wird in absehbarer Zeit nicht

41

Max Lederer

Jung von Matt

tual Production Studio“. Die Darsteller:innen sind digitale Stand-ins – alle Zuschauenden bekommen den Spot mit ihren Lieblings-Influencer:innen individuell ausgespielt.

Es folgt der Höhepunkt: ein Spiel, bei dem Zuschauende und Stadionbesucher:innen mit ihren mobilen Extended-Reality-Headsets live gegeneinander antreten. Die 100 besten Spieler:innen gewinnen Crypto-Tokens, die im Marken-Metaverse gegen virtuelle Produkte eingetauscht werden können.

mehr funktionieren – vor allem nicht für jüngere Zielgruppen. Menschen finden sich immer stärker in Subkulturen oder Passion-Umfeldern zusammen – Gaming, Hip-Hop oder Sport. Diese popkulturellen Umfelder müssen Marken für sich nutzen, um relevant zu werden und zu bleiben. Wenn sie den jeweiligen Communities mehr bieten als reine Produktinfos, und authentisches Engagement zeigen, werden sie mit Loyalität belohnt. Essenziell dafür ist ein echtes Verständnis der Codes, der Sprache und der Erwartungen der Zielgruppe und die entsprechende Übersetzung in die Markenkommunikation. Für die Zukunft heißt das: Werbespots werden durch smarte, orchestrierte Umsetzungen abgelöst, die auf Passion-Umfelder einzahlen und sich nach den Kanälen und ihren Hauptakteur*innen richten. Angefangen bei Konzeption und Storytelling, bis hin zur Produktion. Kurz: Der Werbespot ist tot. Lang leben Community, Kultur und Authentizität.

Superbowl 2028: Die Sportartikel-Marke „DMNNCE“ und der Softdrink Hersteller „SLAY“ haben die gesamte Halftime-Show für ihre lang erwartete Mixed-RealityKollaboration „HAIPEFEST“ gebucht. Die ersten 90 Sekunden Airtime wurden einer NGO geschenkt, die von den Brand-Communities im Vorfeld gewählt wurde. Es folgt ein dreiminütiger Tearjerker, dessen Skript von der generativen AI GPT-420 aus den Neuralink-Aufzeichnungen der Träume von 50 Millionen Menschen erstellt wurde. Die Produktion erfolgte CO2-neutral in einem „Vir-

Als Finale folgt ein Konzert von „ACAB-Rocky“, das live im Computerspiel „Otherland“ übertragen wird, wo auch der Drop der Capsule Collection der Marken-Kollaboration stattfindet. Sie ist binnen weniger Minuten ausverkauft.

BU weiß Sedicia con rem ventest prem quam fuga. Iquo offic temporia vel modisOdi idi atiunt dis volupta vid quae la con

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Max Lederer ist Chief Innovation Officer bei Jung von Matt Yvonne Lukas ist Managing Director bei OMG Fuse

Maximilian Klopsch ist Geschäftsführer der Seven.One Media & Seven. One AdFactory

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Dörthe Jans

YouGov

Personalisierte Werbung ist längst im Standardrepertoire von Werbungtreibenden angekommen. Mit den neuesten KI-Entwicklungen scheinen die Möglichkeiten schier unendlich. Doch ist personalisierte Werbung wirklich, was Verbraucherinnen und Verbraucher wollen? Unsere Daten aus YouGovProfiles verraten: Hier scheiden sich die Geister! Zum einen stimmen 45 Prozent der Deutschen zu,

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Maximilian Klopsch

Seven.One

Die Zukunft der Werbung ist Entertainment. Stellen Sie sich einen Werbespot vor, der Ihre Bedürfnisse erkennt, bevor Sie es tun. Oder eine echte Emotion auslöst. Das ist die Werbung der Zukunft. Schon heute denken wir Markenkommunikation neu und arbeiten mit unseren Kunden partnerschaftlich zusammen. Herausforderungen wie AdFraud, KI oder fragmentierende Zielgruppen verstehen wir als Chancen.

Wie eine partnerschaftliche Zusammenarbeit aussieht, die Bedürfnisse erkennt und Emotionen

bei den Zuschauenden weckt, zeigt unser neues Musik-Format „The Voice Rap by Cupra“. Hier ist die Automobilmarke Cupra nicht nur Sponsor und mit Spots im Programmumfeld zu sehen. Sie steht mit ihrer Musik-DNA auch fest hinter dem Format und erreicht ganz gezielt und glaubwürdig ihre Zielgruppe. Zudem bietet kuratierter Content im TV und Streaming einen qualitativ geschützten, thematisch passenden und garantiert hochwertigen Raum. So wird Markenkommunikation im Entertainment-Konsumverhalten noch harmonischer und bietet den Zuschauenden echte Mehrwerte. Denn das ist Content, der beim Publikum wirklich ankommt.

dass sie eher auf Werbeanzeigen reagieren, die auf sie zugeschnitten sind. Zum anderen sagen 41 Prozent, personalisierte Werbung mache ihnen Angst. 53 Prozent meinen, wenn Werbung zu persönlich wird, klicken sie nicht darauf.

Grundsätzlich können Verbraucher Werbung einen Nutzen abgewinnen, immerhin geben 29 Prozent zu, dass Werbung ihnen dabei hilft, sich zu entscheiden, und 38 erwarten, dass Werbeanzeigen sie unterhalten. Besonders spannend ist auch, dass die Erwartung an unterhaltsame Werbung seit 2018 um zehn Prozent gesunken ist. Vielleicht muss es in Zukunft also nicht bei allem personalisiert sein, aber in jedem Fall gerne wieder kreativer und unterhaltsamer.

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Dörthe Jans ist Director Audience Data bei YouGov Fotos: PR, Leon Becker-Detert

Arnim Butzen ist

Senior Vice President TV & Entertainment bei der Deutschen Telekom und verantwortet dort den Internet-Fernseh-Riesen Magenta TV

ten alle am Abend vorher „TV Total“ geguckt.

Mit der Plattform Magenta TV will Telekoms TV-Chef Arnim Butzen auch „Tatort“-Fans fürs Streaming begeistern – und die Netze der Marke erlebbar machen

Der Claim von Magenta TV ist, das Beste aus TV und Streaming zu verbinden. Was heißt das?

Für jeden etwas anderes – aber jeder kann sicher sein: Er wird es bei uns auf der Plattform finden. Wir versuchen, linear und VoD zusammenzuführen und eine Zielgruppe, die noch sehr stark im linearen TV verhaftet ist, mehr und mehr Richtung VoD zu bringen. Wir wollen sie zum Beispiel mit unserer Megathek und den darin enthaltenen ARDplus- und ZDFselect-Inhalten da abholen, wo sie sind – beim „Tatort“ oder bei „Bares für Rares“. Und ihnen

zeigen: Davon kann man in unserer Megathek so viele Folgen gucken, wie und wann man will, auch wenn sie in den Mediatheken der jeweiligen Sender nicht mehr abrufbar sind. Wir versuchen, in einer

immer komplexeren Content-Welt auch eine Art Guide zu sein.

Wie wichtig ist Magenta TV für den Gesamtkonzern Telekom?

Die Deutsche Telekom verkauft im Kern Breitband- und Mobilfunkprodukte, auf beiden Seiten des Atlantiks. Wir sind ein Netze-Unternehmen, das ist unsere DNA. Magenta TV macht diese Netze erlebbar. Wenn wir nach vorne schauen, Richtung Glasfaserausbau, ist das ein Use Case: Hochauflösendes Fernsehen in UHD. Zum einen ist es ein Ziel, mit Magenta TV profitabel zu sein. Zum anderen sind die Kunden, die Magenta TV nutzen, loyaler und zufriedener.

Wie schafft es ein Bewegtbild-Format heute, beim Zuschauer anzukommen – durch den Dschungel aus Empfehlungen, Social-MediaHypes und Algorithmen?

Ich bin aus tiefstem Herzen überzeugt, dass Qualität sich durchsetzt. Ungeachtet aller Hypes: Mögen die Leute das Produkt nicht, wird es niemand ansehen. Wenn es aber gut ist, wird man darüber sprechen und es wird sein Publikum finden. Wir können helfen, mit Platzierungen, mit Bewerben. Aber aus einem schlechten Produkt macht man damit keinen Erfolg.

Sie werden alle Spiele der Fußball-EM 2024 zeigen, ein Kooperationsprojekt mit RTL. Ist Fußball das letzte Lagerfeuer der Screen-Gesellschaft?

Die letzten großen Lagerfeuer sind eventbezogene Inhalte. Oft Sport-Ereignisse, wie eben die EM im eigenen Land, die Basketball-WM, aber auch der Eurovision Song Contest. Was heute nur noch solche Events schaffen, war früher Alltag: Als ich zur Schule gegangen bin, hat-

Wie wird Magenta TV in zehn Jahren aussehen?

Wenn ich zehn Jahre zurückschaue: Da gab’s noch nicht mal Netflix in Deutschland. Die letzten zehn Jahre haben so viel Veränderung mit sich gebracht, so viele neue Geschäftsmodelle, dass ich mich überhaupt nicht traue zu sagen, wie das Jahr 2033 aussehen könnte. MagentaTV wird sicherlich in Zukunft weiter linear und non-linear zusammenbringen und alle relevanten Content-Player an Bord haben.

Es wird also noch lineare Inhalte geben?

Auch Fußball ist linear. Sportübertragungen wird es immer geben. Es wird immer etwas wie die „Tagesschau“ geben, Nachrichten werden eine lineare Zukunft haben. Ob es fiktionale Inhalte noch in linearer Form gibt? Da bin ich auch gespannt.

Wird TV noch im Namen von MagentaTV vorkommen?

Wir haben da viel überlegt – aber „Bewegtbild“ ist und bleibt ein eher sperriger Begriff. Ganz pragmatisch: Solange uns nichts Besseres einfällt, bleibt TV.

Anne-Nikolin Hagemann

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»Wir versuchen, in einer immer komplexeren ContentWelt Guide zu sein«

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Wie aufdringlich muss Product Placement sein, Kerstin Bensch?

Es kommt auf das richtige Maß an. Gutes Product Placement ist authentischer Teil der Storyline. Nativ, und dennoch aufmerksamkeitsstark. Der perfekte Fit zwischen Marke und Content ist entscheidend. Im Ergebnis entstehen so besondere, emotionale, merkbare Marken- und Produktsichtbarkeiten, die berühren, sich verbreiten und verkaufen.

Ein paar Beispiele gefällig? Schauspielerin Hannah Herzsprung joggt im Film „Wolke unterm Dach“ mit den Schuhen der Laufmarke On. Die Protagonist*innen des Films rund um Frederik Lau sind die Sneaker-Family schlechthin, sie tragen On-Modelle im Alltag und beim Sport.

TV-Moderator Thore Schölermann überrascht im niederländischen

Kerstin Bensch ist Co-Gründerin von Particibrand, einer Agentur für Product Placement und Branded Content

Freizeitpark Efteling Talente und überbringt die freudige Botschaft, dass sie bei „The Voice Kids“ dabei sind, während die Attraktionen des Parks emotional in Szene gesetzt sind.

Eine Gruppe junger Erwachsener nutzt in der Joyn-Serie „Camps for Future“ neue Handy-Funktionen, um die Kommunikation untereinander zu verbessern und ihren Kampf gegen den Klimawandel zu optimieren. Motorola stellt hierfür Smartphones zur Verfügung.

Drei exemplarische Cases für Kino, TV und Streamer, die wir zusammen mit Produzenten, Sendern, Streamern, Vermarktern und Kunden umgesetzt haben. Was sie gemeinsam haben: Die Placements sind fixer Bestandteil des zielgruppenaffinen Contents, die Produkte sind passend eingesetzt und bieten damit die Möglichkeit, beim Zuschauer positive Assoziationen zu knüpfen und im Gedächtnis zu bleiben. Wäre eine Produktplatzierung zu aufdringlich, würde der gewünschte Effekt ins Gegenteil umschlagen.

Product Placements gelten als die Königsdisziplin im Marketing. Wir wissen doch alle:

Konsument*innen sind von Werbung zunehmend genervt. Wir brauchen bessere Werbung, die Geschichten erzählt. Relevante Geschichten. Product Placement kann hierbei einen signifikanten Beitrag leisten.

46 Macht KI Werbung wirksamer, Sabine Lipken?

Auf jeden Fall! Aber nur, wenn sie intelligent von Menschen genutzt und gesteuert wird. KI erscheint als ein großes Versprechen für die Zukunft. Dabei unterstützt sie schon heute unser Daily Business. Seit drei Jahren nutzen wir die KI-getriebene Planungsplattform Maximize für unsere Mediaplanung. Mediaplaner:innen können damit auf Basis von Einzelpersonen, nicht mehr auf Basis von Zielgruppensegmenten, planen. Die KI macht diese Optimierung erst möglich, sodass wir für mehrere

Zielgruppen gleichzeitig die effektivsten Media Touchpoints identifizieren und in einem einzigen Plan aussteuern können. So minimieren wir Überschneidungen zwischen den Zielgruppen und steigern die Effizienz unserer Mediaplanung.

„Human can beat the machine“ lautet dabei ein Grundsatz unseres Planungsansatzes. Denn trotz einer unfassbaren Datenfülle gibt es grundlegende Informationen, die nur der Mensch im Blick haben kann: Tonalität der Kommunikation, individuelle Anforderungen und Wünsche des Kunden, Stimmung der Konsument:innen, Events und vieles mehr. Es braucht den Menschen, der diese Infos und Einschätzungen in die Empfehlungen zur Mediaplanung einbindet.

Gleichzeitig setzen wir auch in der Kreation auf KI. Gerade haben wir von Wavemaker global eine Kooperation mit der KIKünstlerin Kris Kashtanova öffentlich gemacht. Aus der Zusammenarbeit ist bisher eine Serie aus 60 von einer KI gestalteten Bildern entstanden, in deren Mittelpunkt das zentrale Element unseres Logos – der Orange Dot –steht.

Zur Erstellung von Werbemitteln kann Künstliche Intelligenz sicher eine wirkungsvolle Unterstützung sein, hier gibt es allerdings noch einige rechtliche Hausaufgaben zu erledigen. Die Möglichkeiten und Potenziale zum wirksamen Einsatz im Bereich Media und Werbung sind vielfältig und erfolgversprechend – den entscheidenden Faktor bildet aber (noch) der Mensch.

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Sabine Lipken ist Chief Solution Officer bei Wavemaker Germany

So grün kann gelb sein

Wir nutzen konsequent CO2-neutralen Strom. Unvermeidbare Emissionen gleichen wir über Klimaschutzprojekte aus.

Aufgrund unserer Bemühungen für mehr Nachhaltigkeit gehören wir zu den Finalisten des Deutschen Nachhaltigkeitspreises 2024. Das spornt uns weiter an.

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Der Mond ist aufgegangen

Nein, hier leuchtet kein Supermond der Extraklasse über Las Vegas. Es ist The Sphere, eine 111 Meter hohe und 157 Meter breite Leuchtkugel und Eventhalle, die mal glitzert und glänzt, mal einen Basketball oder gleich die ganze Erdkugel nachstellt. Für den gewaltigen Wow-Effekt sorgen 1,2 Millionen LEDs auf 54.000 Quadratmetern Außenfläche. The Sphere eröffnet im Herbst 2023 – U2 spielt Konzerte.

Foto: Picture-Alliance

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Münchner

Fenster: »Wir wachsen hier noch«

Wer es schafft, sich unterwegs vom eigenen kleinen Bildschirm loszueisen, begegnet gleich dem nächsten: Digital out of Home boomt, verdrängt Plakatwände und Litfaßsäulen. Den großen Außenwerbern beschert das Mehr an Bewegtbild wachsende Umsätze, den Menschen noch mehr Screentime.

Auch in Bussen und Bahnen: „Wir wachsen hier noch“, sagt Niederlassungsleiter Klaus Wieking vom Münchner Fenster, einem Ableger des Berliner Fensters, das Fahrgastfernsehen anbietet. Größter Konkurrent um die Aufmerksamkeit der Menschen außer Haus ist das Smartphone, da soll das Programm sitzen: In München laufen in Bussen, Trams und U-Bahnen Nachrichten der „Süddeutschen Zeitung“ und

Links der nächste Halt, rechts der Klassiker: Fahrgastfernsehen in der Münchner U-Bahn

Fenster mit 3.200 Monitoren 2,3 Millionen Kontakte pro Tag, in München sind es mit 3.000 Screens insgesamt 1,2 Millionen.

des BR, in der Berliner Metro „Welt“ und „B.Z.“, der „Kicker“ bringt Fußballnews. Die hauseigene Redaktion produziert ein Nachhaltigkeits- und ein Kinomagazin. Dazu kommen Event-Tipps, Service-Hinweise, das Wetter. „Wir verstehen uns als Programmmacher eines Massenmediums“, so Wieking. Die meisten Werbekunden stammen aus der Region, wie der FC Bayern.

Alte Tram- und U-BahnWagen würden nach und nach gegen neue mit Fahrgast-TV ausgetauscht. Heute erreiche das Berliner

49 Framen: »Werbung muss zum Kontext passen«

Das Startup Framen aus Frankfurt am Main, 2018 gegründet, versucht es mit Bildschirmen an Tankstellen, in Wartezimmern von Arztpraxen, über Pissoirs. Es laufen News aus „Bild“ und „Welt“ von Mehrheitseigner Axel Springer. Ein Fitnessstudio kann vor Ort den aktuellen Kursplan schalten. Danach sieht das Publikum auf

dem Laufband etwa einen Werbespot des Lieferdienstes Flaschenpost, der starke Männer und Frauen zum Kistenschleppen sucht. Wenn es regnet, flimmert im Hotel oder im Coworking-Space ein Taxi-Rabattcode über den Monitor. „Wir können die Leute nicht zwingen, zuzuschauen. Also müssen Inhalte und Werbung zum Kontext passen“, meint Framen-Mitgründerin und CMO Magdalena Pusch. Die Screen-Betreiber legen fest, was sie nicht wollen –Rewe keine Aldi-Reklame, das Wohlfühl-Café keine politischen News. An der ausgespielten Werbung verdienen sie mit. 60.000 Screens in 22 Ländern und 200 Millionen erreichte Menschen pro Monat sind Framen noch nicht genug. Das Startup will größer werden, sehr viel größer. Müssen wir künftig auch im Kreißsaal oder beim Bestatter mit Bildschirm-Werbung rechnen? Magdalena Pusch schlägt Spots für Versicherungen vor: „Im Krankenhaus gibt es auch Menschen, die inspiriert werden können.“

Elisabeth Neuhaus

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Fotos:
Guck und weg: Das Startup Framen bespielt auch Screens in Hotels PR
TALK ABOUT IT! Stell uns deine Frage unter betterm.mcdonalds.de
MÜLL ODER WERTSTOFF? LET’S
©2023 McDonald’s

In der Zukunft wird Digital Out of Home die Welt der Werbung neu definieren. Die Möglichkeiten der digitalen Außenwerbung werden durch KI und immersive Technologien erweitert. DOOH-Screens werden zu interaktiven Portalen in verschiedene Welten. Dank Fortschritten in Augmented Reality und Virtual Reality werden Kampagnen in der Lage sein, virtuelle Erfahrungen zu schaffen, die die Grenzen zwischen der physischen und digitalen Welt verschwimmen lassen. Verbraucher können direkt in die Werbebotschaften eintauchen. Sie können beispielsweise Kleidungsstücke virtuell anprobieren oder mit ihren Lieblingsprominenten auf Plakaten interagieren.

Echtzeit-Abstimmungen und Social-Media-Einbindungen ermöglichen es den Menschen, aktiv am Werbeerlebnis teilzunehmen. Ein Spaziergang durch die Stadt wird zu einem Abenteuer, bei dem Passanten mit Werbeinhalten in Wechselwirkung treten können, die in 3D über ihre Smartphones oder AR-Brillen präsentiert werden. Unternehmen, die diese Chancen nutzen, werden nicht nur ihre Botschaften effektiver vermitteln, sondern auch in der Lage sein, sich auf kreative und inspirierende Weise in die Herzen und Köpfe der Menschen einzuprägen.

Künstliche Intelligenz wird die Medien und Kommunikationslandschaft revolutionieren. Mediaplanungs-KIs werden mit Millionen von Datensätzen angelernt worden sein. Sie wissen, welche Medienkombination bei welchen Mediaplanungszielen und Zielgruppen am effektivsten und effizientesten eingesetzt werden können.

Bei aller KampagnenOptimierung darf nicht die Marke vergessen werden. Die zunehmende Digitalisierung wird zur weiteren Reichweitenfragmentierung führen. Umso wichtiger ist für Marken die Präsenz im öffentlichen Raum. Denn nur dort wird Kommunikation als wahrhaftig und echt wahrgenommen. Programmatisches Digital und klassisches Out of Home werden 2033 die urbanen Leuchttürme für Marken sein.

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Wie sieht die Zukunft der Außenwerbung aus, Kai-Marcus Thäsler?

Die Gattung Out of Home wächst. Seit Jahren kontinuierlich, auf inzwischen 8,3 Prozent Mediamarkt-Anteil in Deutschland – weit mehr als im Rest der Welt. Treiber sind eine zunehmend mobile, dynamische Gesellschaft und die wachsende Digitalisierung des öffentlichen Raums. Sie sorgt dafür, dass Bewegtbild-Werbebudgets aus Online und linearem Fernsehen, die in den letzten Jahren an Marktrelevanz verloren haben, auf die Screens im Straßenraum, auf Parkplätzen, in Malls, Bahnhöfen und Flughäfen und an vielen anderen Touchpoints umgeschichtet werden. Datengetriebene Kampagnen werden passend zu Bewegungsmustern und Mindsets mobiler Zielgruppen automatisiert und (fast) in Echtzeit ausgespielt. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort und mit Inhalten, die für die Menschen dann von Interesse sind, wenn

sie die Werbebotschaft sehen.

Als Bestandteil Screenübergreifender crossmedialer Kampagnen liefert Außenwerbung Visibilität und Reichweite und sorgt für den Call to Action, also die Zuwendung zu den Individualmedien oder für den Drive to Store, also den unmittelbaren Gang zum beworbenen Produkt am nächstgelegenen Point of Sale. Grundlage sind Geointelligenz und datengetriebenes Marketing, das DSGVOkonform Konsumentendaten, Mobilfunkdaten, Informationen aus Apps und Daten, die Werbungtreibende beisteuern (wie Kassenvorgänge und Käuferinformationen) mit Kampagnen-spezifischen Umweltdaten zu Wetter, Verkehr, Events und vielem anderen kombiniert. Botschaften werden so nur dann und dort ausgespielt, wenn und wo sie für den Rezipienten relevant sind.

Zehn Prozent Marktanteil von OOH in den nächsten Jahren sind also nicht unrealistisch. Auch, weil für viele Werbungtreibende Nachhaltigkeit immer wichtiger wird: OOH ist laut der Green GRP-Studie von Mediaplus und Climate Partner das Medium mit dem kleinsten CO2-Fußabruck pro 1.000 Kontakte. Auch, weil zur Übermittlung der Botschaften nur ein Plakat oder ein Screen nötig ist. OOH braucht ansonsten keine stromfressenden Empfangsgeräte – nur unsere Augen.

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Wie sieht die Außenwerbung der Zukunft aus, Andreas Prasse?
Kai-Marcus Thäsler ist Chef des Fachverbands Außenwerbung FAW Andreas Prasse ist Geschäftsführer des Außenwerbers Wall in Berlin

52 Schirme statt Stellwände

Wer ein Messegelände betritt, tritt ein in eine eigene Welt: riesige Hallen, lange Wege, immer neue Themenwelten. Verlaufen gehört beinahe zum Konzept. Herumirren mit Handzetteln, Verzweifeln vor Schautafeln, Stoffbeutel voller Flyer-Ausbeute der Aussteller – alles bald Vergangenheit?

Die Messe Stuttgart geht zumindest einen großen Schritt in diese Richtung: Nach und nach wird dort auf Digital Signage umgestellt – die Schilder werden digital. 216 unterschiedliche Screens und und ein LEDBildschirmwürfel in fünf Metern Höhe sind bereits installiert, ein Screen an der Außenfassade und digitalisierte Hallenpläne an den Eingängen sollen folgen. Neben Text und Grafik sind so auch

Videos, Feeds, Touch-Inhalte, Animationen und Websites einblend- und vom Messepublikum abrufbar. „Ein komplett neues Erlebnis für unsere Besucher und innovative Werbemöglichkeiten“, so Messe-Sprecherin Stephanie Kromer. Gekostet hat das bislang rund 400.000 Euro – eine Investition, die auch für einen Anstieg der Werbeeinnahmen sorgen soll.

Die größte Herausforderung bei der Umrüstung liegt übrigens gar nicht im Digitalen, sondern ganz handfest im Baubereich: Die Screens sollen sich harmonisch in die 120.000 Quadratmeter Hallenarchitektur integrieren, erklärt Stephanie Kromer. „Die baulichen Anforderungen an Leitungswege, Stromversorgung und Brandschutz sind auch nicht zu unterschätzen.“

Kromer. „Dabei wird sich aber der analoge Anteil Schritt für Schritt reduzieren.“ Anne-Nikolin Hagemann

53 Timing zum Trinken

Wegweiser: Die Messe Stuttgart arbeitet daran, dass sich bald weniger Leute verlaufen

„Time best shared. Time best used.“ Die Inhalte der von OMD, Adylic und Areasolutions umgesetzten Kampagne werden in Echtzeit nicht nur an die Uhrzeit, sondern auch an Wochenendbeginn und Nähe zum Point-of-Taste (also Bars und Clubs) angepasst. Zu sehen sind sie auf einer breiten Palette von Screens, an Bahnhöfen und Straßen, in Innenstädten und SzeneKneipen. Gelegenheiten zum Anstoßen gibt es immer und überall, so die Botschaft.

Auch der Erfolg der Kampagne könnte die Gläser klirren lassen: Die Markenbekanntheit von Martini steigt um 10 Prozent. Und: Fast die Hälfte der Martini-Trinker wollen die alkoholfreie Variante nun zumindest mal probieren.

Anne-Nikolin Hagemann

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Selbst wenn die Bildschirme alle Hürden der Bau-Bürokratie genommen haben: Messeinformationen aus Papier wird es auch in Stuttgart „noch sehr lange“ geben, sagt

Aperitif ohne Alkohol – für Martini ist das im Sommer 2022 Alleinstellungsmerkmal unter den Mitbewerbern. Eine Chance, neue Gläser zu füllen und die Marke auch Abstinenzlern schmackhaft zu machen. Den öffentlichen Raum der digitalen Außenwerbung hat Martini dabei tagsüber für sich: Während für alkoholische Getränke dort erst ab 18 Uhr geworben wird, dürfen Martinis Non-Alc-Varianten schon vorher über die Screens flimmern. In den Abendstunden, pünktlich zur Ausgehzeit, switcht die Werbung dann um aufs Alkoholische. Dazu passt der Markenslogan:

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Fotos: PR

Porsche-Chefdesigner Michael Mauer über Screens im Auto

Machen mehr Bildschirme das Fahren sicherer, Michael Mauer?

Eine erstklassige User Experience vorausgesetzt, sind Bildschirme auch im Auto eine sichere Sache. Voice Control, also Bedienung per Sprachbefehl, wird dies noch sicherer machen. Denn nicht jeder kommt mit Touchscreens beim Fahren gut zurecht. Der Wunsch vieler Kunden nach einer Wiederkehr der guten, alten

Knöpfe bleibt deshalb nicht ungehört. Wir Designer sind uns sicher: Manche Funktionen werden in Zukunft in einigen Modellen auch wieder analog zu bedienen sein.

Analoge Armaturenbretter waren haptisch und optisch unterscheidbar, im besten Fall sinnlich –wie können Marken sich unterscheiden, wenn überall Bildschirme dominieren?

Dominant ist ja nicht unbedingt der Bildschirm an sich, sondern der dargestellte Inhalt mit dazugehöriger User Experience. Diese ist bestenfalls durch die Markenidentität geprägt und geht mit ihrer physischen Umgebung eine Verbindung ein. So sollten etwa bei einem Sportwagen die Anzeigen nur wesentliche, das Fahren betreffende Inhalte ablenkungsfrei wiedergeben. Außerdem sollten

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54 »Viele Kunden wünschen sich Knöpfe zurück«
Gute Aussichten? Der Porsche Taycan mit dreiteiligem CockpitScreen Fotos: Porsche

alle Schnittstellen bei hohen Geschwindigkeiten und Kräften sicher zu erreichen sein. Die Auswahl von Entertainmentinhalten und Apps wäre in diesem Fall reduziert. Allein daraus entstünde eine starke Differenzierung zu einer beispielsweise komfortorientierten Limousine. Haptische Qualitäten bleiben ja an vielen anderen Stellen erhalten. Man denke hier an das Design von Lenkrädern,

Arm- und Handauflagen oder die Oberflächengestaltung im Cockpit. Es besteht also nach wie vor noch viel Raum für Sinnlichkeit, Markenidentität und Differenzierung.

Ist der dreiteilige Bildschirm für Fahrer, Mittelkonsole und Beifahrer die Zukunft? Diese Bildschirm-Anordnung ist bereits Gegenwart. In Märkten wie China und USA werden

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viele Fahrzeuge ab Premium-Segment schon heute so ausgeliefert. Wir rechnen mit Innovationen, die künftig entweder zu einer Evolution im ScreenLayout oder radikal neuen Ansätzen führen. Shy-Tech, wortwörtlich übersetzt „schüchterne“ Technik, findet bereits Eingang in die Design-Vorentwicklung. Diese bleibt dem Auge zunächst verborgen und wird durch Sensoren und KI gesteu-

ert. Schaltflächen kommen erst zum Vorschein, wenn man sich mit der Hand nähert – und verschwinden im Anschluss wieder. Aber auch eine –teilweise – Rückbesinnung zu haptischen Komponenten, wie dem klassischen Dreh-Drücksteller, ist nicht ausgeschlossen. Am Ende kommt es darauf an, was zu der Marke und zu ihrer Positionierung passt. Und was die Kunden sich wünschen. Peter Turi

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Michael Mauer ist Chefdesigner bei Porsche und Volkswagen
»Es gibt nach wie vor viel Raum für Sinnlichkeit, Markenidentität und Differenzierung«

Nico Hofmann, Jahrgang 1959, volontiert beim „Mannheimer Morgen“, besucht die Hochschule für Fernsehen und Film München und macht ab Mitte der 80er Karriere als Regisseur, Autor und Produzent. Filme wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ sind Quotenbringer. Aktuelle TV-Erfolge sind die Serien „Ku’damm“ und „Charité“, Kino-Hits sind „Der Medicus“ und „Ich bin dann mal weg“. 2015 bis 2023 ist Hofmann CEO der Ufa-Gruppe

Filmproduzent Nico Hofmann über neue Bildschirme, neue Business-Modelle

und die neue Ungeduld des Publikums

Wie entscheidend sind heute die ersten fünf Filmminuten?

Mittlerweile sind’s eher die ersten drei Minuten, die alles entscheidend sind. Sowohl im Fernse-

hen als auch – inzwischen noch stärker – im Streaming. Wenn Zuschauerinnen und Zuschauer sich von einem Film nicht angesprochen fühlen in Tonalität, Stimmung oder Inhalt, schalten sie immer schneller gnadenlos weg. Früher sahen wir beim Quoten-Verlauf die heftigsten Reaktionen nach 15 Minuten, heute nach maximal fünf. Und die USStreaming-Anbieter sagen uns, dass selbst bei großen Serien die Entscheidung auszusteigen, schon nach drei oder vier Minuten in der ersten Folge fällt.

Woran liegt diese Ungeduld?

Alles hat sich in den letzten Jahren wahnsinnig beschleunigt. Die neuen technischen Möglichkeiten, die Überfülle an Content im Digitalen hat die

Menschen hektischer und ungeduldiger gemacht. Sie tun sich schwer, sich auf einen Stoff einzulassen. Diese Kurzatmigkeit und Ungeduld setzen uns Produzenten ziemlich unter Druck.

Unter den Druck, noch kurzatmiger zu schneiden?

Für mich ist es eine innere Überzeugung, da nicht mitzugehen, sondern Qualität zu liefern, auf die man sich einlassen muss. Geduld entsteht da, wo Menschen das Gefühl haben, das Thema ist genau richtig für mich. Dann nehmen sie sich die Zeit, es anzuschauen. Wir müssen also ein sehr spezifisches Interesse treffen und bedienen.

Wohin geht die Branche? Nach meiner Erfahrung

Die Ufa wird 1917 als Universum Film AG gegründet, sie produziert Filme und betreibt Kinos. Die Nazis machen die Ufa zum Propaganda-Instrument, nach dem Krieg liegt sie darnieder. Bertelsmann übernimmt 1964, stößt die Kinos ab. Heute ist die Ufa die größte deutsche Produktionsfirma. Neben Kino- und TV-Filmen produziert sie Soaps wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ und Casting-Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder Streaming-Formate wie „Sam, ein Sachse“ für Disney+ oder „Helgoland 513“ für Sky

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»Das Golden Age des Streaming ist vielleicht schon vorbei«

in den letzten 20, 30 Jahren verlaufen die großen Entwicklungen in Zyklen, Pendel schlagen auch mal zurück. Der Boom beim Streaming kam ja mit großen Serien und der Überzeugung, dass Serien im Streaming der neue Roman sind. Genauso wie bei Hörbüchern bringen Konsumenten da extrem viel Geduld mit. Oder das Kino: Der Tod durch Streaming, den so viele dem Kino vorhergesagt haben, ist nicht eingetreten, es gibt einen gewissen Aufschwung nach der Pandemie. Streaming bleibt hochattraktiv, aber das Golden Age ist vielleicht vorbei, jetzt ist neben Serial auch das Einzelstück wieder gefragt.

Darf man Kinofilme auf dem Smartphone schauen?

Da blutet mir das Herz! Ich habe mal im Flieger auf dem Monitor meines Sitznachbarn „Der Medicus“ sehen müssen – da geht so viel verloren. Unsere Kinofilme wie „Der Medicus“ oder „Ich bin dann mal weg“ sind für die große Leinwand gemacht, nur dort entwickeln sie ihre einzigartige Magie. Kino ist Kino und funktioniert nur auf der großen Leinwand richtig. Unser „Fliegendes Klassenzimmer“ sollten die Kinder und Eltern im Kinosaal erleben, als Gemeinschaftserlebnis.

Was sagt der Kaufmann zum Siegeszug der kleinen Bildschirme?

Das ist natürlich auch eine Chance. Erstmal ist jeder Screen wie für uns gemacht. Die Einnahmen aus Bord-TV von Lufthansa oder Bahn sind genauso willkommen wie die von

YouTube und anderen Kanälen. Wir beschäftigen uns bei der Ufa auch damit, welche passenden Angebote wir für Kanäle wie YouTube oder TikTok machen können. Wir wollen verstehen, wie die jüngere Generation mit digitalem Content umgeht und wie wir sie in ihrer Ungeduld abholen können.

Wie kann das konkret aussehen?

Ich kann mir gut vorstellen, dass wir und auch unsere Konkurrenten überlegen, aus den großen Marken, die im linearen TV vielgesehen sind, eine digitale Form zu machen, die im Gestus, in der Haltung und in der Emotion völlig eigenständig sind. Wir sind mit unserer Marke GZSZ auch digital sehr aktiv. YouTube ist definitiv spannend. TikTok ist für Teaser geeignet. An TikTok allein glaube ich nicht, da wäre das Narrative kaum möglich.

Gibt es für solche Umsetzungen schon Geschäftsmodelle?

Die wird es geben. Als Produzent oder Produzentin muss man wirklich alle Technologien und alle Verbreitungswege im Kopf haben. Die Digitalisierung ist allgegenwärtig und wir überlegen uns mittlerweile sehr genau, welches Produkt wohin passt. Unsere Inhalte müssen auf den Kanal fokussiert sein, auf dem wir die Nutzer erreichen wollen.

Was bedeutet das Überangebot an Streaming-Inhalten für die Kreativen und die Produzenten? Während der CoronaJahre 2020 bis 2022 wurde auf Teufel komm raus produziert. Das Angebot

erarbeiten müssen. Wenn man es ganz konsequent durchspielt, kann KI Wesen kreieren, die aussehen wie echte Menschen, und wahrscheinlich in Zukunft sogar komplette Szenarien mit diesen Wesen.

war am Ende so groß wie die Ernüchterung, das Gesamtangebot war für normalsterbliche Zuschauer weder überschaubar noch konsumierbar. Mit dem Ablaufen der Pandemie sind die Zeitbudgets fürs Fernsehen wieder gesunken, wir haben eine Rückbesinnung auf Budget, Größe, Zuschauer, Konkurrenzdruck, Erwartungen und vor allem Rentabilität. Positiv gesprochen erleben wir ein Gesundschrumpfen, eine Reinigung – neutral ausgedrückt gibt es eine harte Konsolidierung am Markt.

Kann KI helfen, Filme billiger zu machen?

Die KI kann im Filmbereich eine große Rolle spielen, nicht umsonst streiken in Hollywood die Schauspielerinnen und Schauspieler und die Drehbuchautoren und Drehbuchautorinnen. Wir haben über Fremantle und bei Bertelsmann sehr interessante Beispiele zu KI angeschaut und analysiert. KI kann in Zukunft eine Rolle auf jeder Ebene unserer Industrie spielen. Man muss sich das vorstellen: KI kann quasi Drehbücher, Texte, Storylines, Geschichten erfinden oder weiterentwickeln. KI kann komplette Bilderwelten wiedergeben, die wir im Moment sehr teuer digital

Für mich klingt das ziemlich dystopisch. Man muss diese Technologien sehr genau daraufhin analysieren, welche Möglichkeiten, aber auch Gefahren in ihnen stecken. Es geht auch um moralische Standards, wenn wir entscheiden, in welchen Bereichen wir KI einsetzen wollen und wo nicht. Die Streikenden in Hollywood gehen auf die Straße, weil sie Angst haben, dass sie ihr ursprünglichstes Urheberrecht, nämlich ihre eigene Schreibkunst und ihr eigenes Gesicht, ihr eigenes Wesen verlieren, weil es quasi beliebig ausnutzbar ist. Ich habe neulich einen Vertrag mit einem US-Streaming-Anbieter gesehen. Da stand drin: Wir geben alle Rechte ab innerhalb des Universums, egal was da kommt an Medienkanälen. Das ist sicher nicht fair.

Werden Schauspieler durch die KI ersetzt? Ich hoffe nicht. KI kann großen Einfluss entfalten in der Stoff-Entwicklung, im bildnerischen Bereich und ganz sicher in der Bildgestaltung. Aber es wird niemals Urheberschaft von menschlichen Wesen als Schauspieler und Drehbuchautoren ersetzen. Das menschliche Wesen ist in seinen Schattierungen dermaßen komplex, dass ich es auch ehrlich und leibhaftig auf der Leinwand sehen will.

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Foto: Holger Talinski
»Der Tod durch Streaming, den so viele dem Kino vorhergesagt haben, ist nicht eingetreten. Es gibt einen gewissen Aufschwung«

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»Kino ist ein Ort der Begegnung«

Angela Dorn, Die Grünen

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Was kann Kino besser als Netflix?

Darauf antworten

zwei Frauen und drei Männer – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven

Der Filmstar Jean-Paul Belmondo hat einmal gesagt: Fernsehen ist wie ein Van Gogh auf einer Briefmarke. Darin hat er viel über die Stärken von Kino verraten. Das gilt auch im Vergleich mit Netflix. Riesige Leinwand, dunkler Saal, dröhnender Surround-Sound, keinerlei Ablenkungen – Kino ist Event, bietet ein emotionales Erlebnis, bei dem Netflix nicht mithalten kann. Auch die Werbekunden wissen das. Nirgendwo sonst erreichen sie ihre Zielgruppen so unmittelbar wie über einen Spot auf der Leinwand.

Und doch ist es gut, dass es Streamingdienste gibt. Studien zeigen: Wer viel Netflix guckt, geht auch überdurchschnittlich oft ins Kino. Große Streamer wie Netflix oder Amazon Prime nutzen das Kino zunehmend, um ihre Angebote zu bewerben.

Zwei weitere Beispiele: Audi fährt seit 2022 „Always on“ im Kino. Der Autobauer ist das ganze Jahr über mit wechselnden Motiven auf den Leinwänden in Premium- und Luxuskinos präsent. Lego hat 2022 seinen 90. Geburtstag gefeiert: Via App konnten Kinobesucher:innen mit ihrem Smartphone auf der Leinwand gemeinsam eine Geburtstagstorte aus Lego bauen. Branded Entertainment mit Spaßfaktor.

Übrigens wissen auch die Produzenten in Hollywood, dass ihnen ohne das Kino ein wichtiger Baustein in der Verwertungskette fehlen würde. Auch für sie heißt es: Cinema first!

Klar, Streaming ist bequem, in Schlappen und Jogginghose daheim auf der Couch. Aber wenn wir uns aufraffen und ins Kino bewegen, erwartet uns vor der Leinwand ein Gemeinschaftserlebnis, mit dem kein noch so aufgemotzter Fernseher mithalten kann: Man erlebt zusammen die großen Gefühle, lacht miteinander, Tränen fließen, man

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»Kino ist Event. Auch Werbekunden wissen das«
Angela Dorn ist grüne Ministerin für Kunst und Wissenschaft in Hessen

hält den Atem an und, ja, ärgert sich auch mal über den käsigen Duft der Nachos vom Nachbarn. Kino ist mehr als Filmeschauen. Es ist ein Ort der Begegnung – mit Freund*innen, manchmal mit Filmemacher*innen und mit der eigenen Fantasie. Oft macht sich das Publikum einfach selbst zum Teil eines Gesamtkunstwerks und geht etwa in pinken Klamotten in „Barbie“, um anschließend zu diskutieren, ob das nun feministisches Kino ist, ein Werbefilm für das Produkt eines Spielwarenkonzerns oder gar beides. Und auch jenseits der Multiplex-Kinos sorgen leise und schrille, schräge und berührende Filme für Gesprächsstoff: Kino bleibt im Kopf. Das unterstützen wir in Hessen – zum Beispiel mit Förderungen für künstlerischen Wagemut, junge Talente, Vielfalt, soziale und ökologische Nachhaltigkeit und transparente Strukturen. Wir sehen uns im vollen Kinosaal!

wie in „Oppenheimer“. Aber wenn ich so drüber nachdenke, sehe ich da oben, in Übergröße, am liebsten etwas scheinbar Einfaches: das menschliche Gesicht in Nahaufnahme. Ingrid Bergmans zarte Träne, als sie in „Casablanca“ begreift, dass sie sich von Humphrey Bogart trennen muss. Robert De Niro, wie er am Ende von „Once Upon a Time in America“ in ein opiumseliges Grinsen ausbricht. Tony Leungs sehnsuchtsvoller Blick auf Maggie Cheung in Wong Kar-Wais „In the Mood for Love“. Und es müssen gar keine Klassiker sein: Robert Downey Jr. als „Iron Man“ hat auch seine „Große-Augen-Momente“. Ingmar Bergman hat das Close-up als Königsdisziplin der Filmkunst beschrieben – als geheimnisvolle, unerklärliche Verbindung zu einer anderen Seele, vermittelt durch den Blick eines Schauspielers. Etwas diesseitiger würde ich hinzufügen: Es gibt eine Erotik des Close-ups – schließlich erscheint uns der Mensch auf der Leinwand Wimper für Wimper und Pore für Pore so nah wie eine geliebte Person, in der Umarmung,

im Bett. Mobile Screens verzwergen nicht nur die Schauspieler, sondern auch die Gefühle. Und per Beamer im Wohnzimmer ... naja, die Wand könnte halt mal wieder gestrichen werden.

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Sabine Horst, epd

Eine durchschnittliche Kinoleinwand misst sieben auf 15 Meter, das sind 105 Quadratmeter Fläche oder sieben Autostellplätze.

Damit lässt sich was anfangen. Man kann darauf Dinosaurier projizieren, eine Raumschiffflotte auf dem Weg nach Alpha Centauri, eine Atomexplosion

Sabine Horst ist Leitende Redakteurin von epd Film

Fred Kogel, Leonine

In unserer digitalisierten Welt haben Streamingdienste eine große Bedeutung. Dennoch bleibt das Kinoerlebnis einzigartig. Es gibt diesen besonderen

Moment der Vorfreude, wenn die Beleuchtung im Saal erlischt und das Logo des Filmstudios auf der Leinwand erscheint. Die kolossale Sound- und Bild-Qualität schafft ein immersives Erlebnis, das „larger than life“ ist. Für die Dauer des Films tauchen wir in eine andere Welt ein, es gibt keine Ablenkung, keinen Second Screen, der Alltag ist weit weg. Während Streaming Flexibilität bietet, bleibt das Kino ein Ort der Gemeinschaft, des Rituals und der Emotionen. Kino muss vom Filmangebot und von der Qualität des Umfelds her ein Erlebnis sein. Dann schließen Kino und Streaming einander nicht aus, sondern ergänzen sich perfekt darin, dem Publikum die Inhalte so anzubieten, wie es gerade am besten zur persönlichen Situation passt.

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»Es gibt eine Erotik des Close-ups«
„Kino und Streaming ergänzen sich perfekt«
Fred Kogel ist CEO von Leonine Studios

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»Screeni versus Lichtspiel«

Charly Hübner Schauspieler, Regisseur

Was Kino besser kann als Streaming? Wollte ich ganz streng sein, würde ich sagen, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Okay: In beiden Fällen sehen wir miteinander verknüpfte Bewegtbilder, die im besten Fall meine komplette Aufmerksamkeit gewinnen und mich von meinem Leben im Hier und Jetzt fernhalten, weil mich Thema und Art und Weise der Erzählung neugierig machen und ich etwas erfahre, lerne oder vorgeführt bekomme, was jenseits meines Alltags existiert. In beiden Fällen wird Musik eingesetzt, um mir Dringlichkeit oder Schönheit einer Bewegtbildsequenz noch intensiver zu vermitteln. Insofern liegt es nahe, sie gegeneinander zu stellen. Aber für mich ist das eine Infotainment.

Das andere ist Leben. Bildschirme sind Einrichtungsgegenstände, aus denen heraus mir fiktionale und dokumentarische Geschichten vermittelt werden, die ich parallel zu meinem Leben in meinen vier Wänden aufmerksam verfolgen kann. Ich schaue in einen Bildschirm, der in der Regel nicht größer ist als meine Wände. Er buhlt um meine Aufmerksamkeit. Bei großartigen Serien wie „Borgen“, „Homeland“ oder tollen, verrückten Fußballspielen gelingt es dem Bildschirm, nennen wir ihn Screeni, dass ich mich ganz seinem Angebot widme und mein Leben den vorgeführten Spannungsbögen komplett unterordne. Es erscheint mir dann wie ein irre aufregender Rätselspaß: Wie geht es weiter? Wie geht es aus? Gewinnt das Gute oder das Böse? Ich klebe Fingernägel-kauend vor Screeni und hoffe auf Auflösung des großen Rätsels.

Als ich als Kind zum ersten Mal erleben musste, dass Winnetou im dritten Teil des Epos erschossen wird und somit mein Held ablebte, habe ich wie ein Hundewelpe gejault. Aber als Kind war

Charly Hübner ist als Schauspieler auf Bühnen, Bildschirm und Leinwand erfolgreich und gibt 2023 mit dem Kinofilm „Sophia, der Tod und ich“ sein Regiedebüt

für mich Screeni, damals noch Röhri, eben auch ein Wunder, etwas nicht zu Verstehendes, Unfassbares, etwas, das an sich ein Rätsel war. Machte man das Ding aus, war es grau, einfach ein hässliches Möbel. Machte man es an, umspülte es mich mit Welt.

Heute erlebe ich diese Wundergefühle in den besten Fällen im Kino, weil da die Bewegtbilder zu mir kommen, mich umspülen und mir nicht nur Spannungsbögen oder Rätsel vorführen. Ich erlebe stattdessen alles in viel größerem Ausmaß. Im wahrsten Sinne des Wortes: Die Nahaufnahme eines Menschen ist je nach Leinwand ein bis zehn Meter hoch. Ich kann mich im Kino – ohne die Fingernägel kaputt zu kauen – dem Sein eines Menschen, dem Atmen einer Person, der Tiefe einer Landschaft komplett aus-

liefern. Denn es kommt zu mir, es kommt über mich, das leichtfließende Lichtspiel. Ich bin Teil der Erzählung, weil ich mittendrin bin, weil ich von ihr mitgetragen werde und wie auf einer Reise neue Welten kennenlerne. Ich bin nicht nur am Verstand gepackt und an meinem Spannungsmuskel – ich werde ganz verführt. Bei den tollen, superschlauen, ausgebufften, wahnwitzigen, zarten, epischen, irre lustigen, wendungsreichen, meditativen, wilden, stillen Meisterwerken im Kino erlebe ich das so.

Um die eingangs gestellte Frage final zu beantworten, würde ich ihr den Wettbewerb nehmen und sagen: Wenn du bereit bist, dein Leben ganz zu vergessen, dein Sein zu erweitern und eine Ganz-Körper-Seelen-Kur brauchst, dann musst du ins Lichtspiel! Wenn du jedoch nur kurz nach Ablenkung gierst, widme dich vorübergehend deinem Screeni. Er ist ja immer für dich da. Interkontinentalreise (Lichtspiel) versus Wochenendausflug (Screeni): So erlebe ich diese beiden Aufmerksamkeitssucher.

Ich hätte auch schreiben können: Der Filmmitschnitt eines MotörheadKonzertes ist nicht so geil wie das Konzert selbst. Den Mitschnitt gucke ich mir vom Sofa aus an. Beim Konzert ist es ohrenbetäubend laut, ich sehe nur die Hälfte der Musiker, weil mich irgendwer hochgehoben hat und mich nun Hunderte Fanhände hin und herschieben, mich fallen lassen, wieder aufheben, schubsen. Du kommst gar nicht hinterher, was da alles mit dir angestellt wird. n

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Darum übernehmen wir weltweit Verantwortung und arbeiten als ein globales Team gemeinsam an unserer Vision: Leading Sustainable Transportation. Es sind die Menschen, die bei uns den Unterschied machen und den Erfolg vorantreiben. Gemeinsam wollen wir einen nachhaltigeren Transport erreichen, unseren CO₂-Fußabdruck verringern, die Sicherheit auf und neben den Straßen erhöhen und intelligentere Technologien sowie Finanzierungslösungen entwickeln. Wir arbeiten für alle, die die Welt bewegen – das ist unser gemeinsamer Antrieb bei Daimler Truck.

Finde heraus, wie man Teil unseres Teams wird Folge uns auf Instagram @daimlertruckcareer
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Uyen Ninh im Videofragebogen unter turi2.de/koepfe

Uyen Ninh wird 1995 in Vietnam geboren. Nach der Schule geht sie vom Land für ein Marketing-Studium nach Hanoi, wo sie 2016 einen Deutschen kennenlernt. 2019 zieht sie zu ihrem „German Boyfriend“, der auf ihren Kanälen bis heute gesichtslos ist, nach Mannheim. Erst probiert Ninh sich auf Facebook aus, bis Ende 2020 eines ihrer TikTok-Videos viral geht – Thema: Kippfenster. Was „typisch deutsch“ ist, thematisiert sie in ihren Videos immer wieder – auf Englisch, wie auch in diesem Interview. Auf TikTok folgen ihr 1,1 Millionen, auf YouTube 1,2 Millionen und auf Instagram 1,4 Millionen Menschen. 2023 macht Ninh in Worms ihren Master in Global Trade Management

»Eigentlich ist es ein einsamer Job«

Uyen Ninh kommt aus Vietnam nach Deutschland und gewinnt mit Videos, in denen sie lustige Beobachtungen über die Menschen hier teilt, bei TikTok, YouTube und Instagram jeweils ein Millionenpublikum. Auf der Bundesgartenschau in Mannheim spricht sie über Stereotype und die Schattenseiten des Lebens am Bildschirm

Elisabeth Neuhaus (Text) und Holger Talinski (Fotos)

»Mein Erfolg bedeutet auch Stress: Nach jedem Video, das gut läuft, stehe ich unter dem Druck, ein noch besseres zu machen«

Uyen, was erfährt man über Deutsche, wenn man über die Bundesgartenschau schlendert?

Dass sie die Natur und ursprüngliche Dinge lieben, insbesondere alte Leute. Darf ich das sagen? Ich sehe hier kaum Jüngere.

Klar. Aber du hast mit Ende 20 eine Dauerkarte! Sehr deutsch. Hätte ich was zu entscheiden, würde ich sagen: Glückwunsch, Einbürgerung abgeschlossen. Wirtschaftlich denken die Deutschen ja sehr effizient. Ich dachte, ich besuche die Buga zweimal, das war’s. Mein Freund, ein Deutscher, war strategischer: „Ich gehe mindestens sechsmal, die Dauerkarte lohnt sich ab fünf Besuchen.“ Da war der Deal klar, auch für mich.

Wenn du nur ein TikTokVideo über Deutschland drehen könntest – was würdest du zeigen? Ein Sparschwein?

Brot. Ich finde es faszinierend, wie viele Brotsorten es hier gibt und wie die Deutschen jeden Tag zu jeder Mahlzeit Brot essen können, ohne, dass es ihnen zum Hals raushängt. Das ist echt mindblowing.

Worum würde es in einem Video über Vietnam gehen?

Den Verkehr. Ausländer, besonders Menschen aus westlichen Ländern, verstehen unser chaotisches Verkehrssystem nicht ansatzweise. Wir haben Gehwege, auf denen stehen aber Roller und Verkaufsstände. Deshalb sind alle auf zwei Rädern unterwegs. Es ist erstaunlich, dass man überlebt, wenn man die Straße überquert.

Was ist die richtige Bezeichnung für das, was du machst: Comedian, Kulturbotschafterin, Social-Media-Pro?

Ich würde gerne Comedian genannt werden. Ich bin nicht sicher, ob ich schon auf diesem Level bin, aber da will ich hin.

Woher hast du deinen Humor?

Ich schätze, mein Humor war schon immer da, er kommt aber erst zum Vorschein, seit ich in Deutschland bin.

Wird in deiner Familie viel gelacht?

Ja, wir lachen zusammen, ich würde das gerne noch öfter tun, aber ich bin zufrieden mit dem, was wir haben. Witze machen wir allerdings nicht so oft.

Schwer vorstellbar, wenn man deine Arbeit kennt. Wie war deine Kindheit? Warst du der Familien-Clown?

Meine Familie war arm. Reicher als die meisten anderen Familien im Dorf, für vietnamesische Verhältnisse aber doch arm. Ich bin mit wenigen materiellen Dingen aufgewachsen, ohne Spielzeug. Meine Eltern haben viel gearbeitet, um die Familie zu ernähren. Ich habe die meiste Zeit versucht, ein ruhiges und gehorsames Kind zu sein, sodass sich meine Eltern keine Sorgen um mich machen mussten.

Wie war es, neben drei älteren Schwestern aufzuwachsen?

Meine Eltern haben sie im Alter von zwölf Jahren zu meinen Großeltern in die Stadt geschickt, damit sie später mehr Möglichkeiten haben. Ich bin also

quasi allein aufgewachsen und habe viel mit mir selbst und in meinem Kopf gespielt.

Versteht deine Familie, womit du hier dein Geld verdienst?

Meine Schwestern schon, sie sprechen Englisch. Meine Eltern haben keinen Schimmer. Ich habe ihnen gesagt, dass ich Videos mache. YouTube kennen sie, aber sie können sich trotzdem wenig darunter vorstellen. Als vietnamesisches Kind ist es dein größtes Ziel, deine Eltern stolz zu machen. Wenn sie verstehen würden, was ich mache, könnten sie, denke ich, stolz sein. Aber das tun sie leider nicht.

Dass du davon leben kannst und Millionen

Fans hast, ist aber doch etwas, auf das man auch stolz sein kann, ohne das Internet zu verstehen, oder?

Ja, aber eine Million ist eine sehr große Zahl. Zu groß, um sie zu verstehen.

Was ist deine früheste Bildschirm-Erinnerung?

Das muss unser Fernseher gewesen sein. Unser Dorf hatte bis 1995, meinem Geburtsjahr, keinen Strom. In den frühen 2000ern bekamen wir dann unseren ersten Fernseher. Es gab drei Sender.

Eine andere Welt. Ja, verrückt. Wir waren damals die ersten im Dorf mit Fernseher. Wenn abends ein Film lief, stellte mein Vater den Fernseher im Hof auf, und alle kamen und setzten sich davor, um zuzuschauen.

Was lief?

Vor allem ausländische

Filme, aus China oder Korea, oder vietnamesische Nachrichten.

Was hast du am liebsten geguckt?

Als ich ein Teenager war, gab es einen Sender, auf dem 24/7 Musikvideos liefen. Das habe ich mir den ganzen Tag angeschaut.

Wie bist du sonst mit Medien aufgewachsen?

Mein erstes Handy hatte ich mit 18, als ich für die Uni nach Hanoi gezogen bin. Und ich hatte Facebook. Das ist in Vietnam übrigens heute noch ein großes Ding.

Wo gibt’s die besseren Witze – in Vietnam oder Deutschland?

Ich lache definitiv mehr mit meinen deutschen als mit meinen vietnamesischen Freunden. Oft heißt es ja, die Deutschen hätten keinen Sinn für Humor, sie seien trocken und steif. Aber das stimmt nicht. Ja, ihr Humor ist speziell und gerade anfangs schwer zu verstehen. Aber sie sind wirklich lustig.

Es gibt viele andere Creator, die über Deutschland witzeln, „Alman“ Phil Laude oder Ex-Basketballprofi Liam Carpenter. Warum kommen die Leute zu dir? Ich versuche, auch Dinge über mich und mein Privatleben zu teilen. Die Leute sollen mir nicht nur folgen, weil ich das x-te lustige Mädchen bin, das Witze über den Alltag in Deutschland reißt. Mein Alleinstellungsmerkmal ist, Uyen Ninh zu sein. Auch deshalb mache ich gerade mehr auf YouTube. Du kannst da mehr von deiner Persönlichkeit zeigen, mehr Mensch sein.

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Die Beziehung zu den Zuschauern und Abonnenten ist dort enger, weniger oberflächlich. Es ist eine gute Plattform, um eine Community aufzubauen.

Pfand, Toast Hawaii, schlechtes Wetter: Gehen einem, wenn man sich mit den Eigenheiten von Nationen beschäftigt, nicht irgendwann die Stereotype aus?

Diese Frage habe ich mir auch lange gestellt, weil ich Dinge nicht gerne wiederhole. Sicher werden die Stereotype eines Tages auserzählt sein, da ich mich aber dazu entschieden habe, auch ganz allgemein über mein Leben hier zu sprechen, mache ich mir keine Sorgen. Das wird so schnell nicht langweilig.

Du bezeichnest dich als schüchtern. Was machst du da ausgerechnet auf Social Media?

Social Media ist nicht das wahre Leben. Ja, du teilst dein Leben mit Millionen Menschen, aber die kriegst du nie zu Gesicht. Ich bin keine Sängerin, die physisch vor Zehntausenden performt. Ich mache Videos und poste sie. Eigentlich ist es ein einsamer Job. Daher macht es mir nichts aus.

Wie gehst du mit deinem Erfolg um?

Ich weiß ihn zu schätzen und bin jeden Tag dankbar dafür. Ich weiß, dass ich sehr privilegiert bin.

Gleichzeitig habe ich

Stress: Jetzt, wo so viele Leute auf neuen Content von mir warten, möchte ich jeden Tag gute Inhalte abliefern. Nach jedem Video, das gut läuft, stehe ich unter dem Druck, ein noch besseres zu machen.

Aktuell habe ich keinen freien Tag. Wenn ich eine gute Idee habe, setze ich sie um, egal an welchem Wochentag.

Einige deiner Videos sind gesponsert, von Congstar, Fritt-Kaustreifen oder einer Sprachlern-App: Wie viel springen bei den Deals für dich raus?

Ich kann sehr gut von dem leben, was ich mit meinem Content verdiene. Vorher hatte ich immer meinen Freund als doppelten Boden. Ich musste mir keine Sorgen ums Geld machen. Es war ja immer Essen auf dem Tisch. Also habe ich einfach gemacht.

Was muss eine Firma tun, um auf YouTube, Instagram, TikTok bei dir als Konsumentin anzukommen?

Als Comedian will ich von Marken vor allem unterhalten werden. Ich möchte echten Inhalt von echten Menschen sehen, die mich direkt ansprechen, als hätten sie mich am Telefon. Natürlich sollte es immer kreativ sein.

Was geht gar nicht?

Ich möchte das Produkt nicht direkt ins Gesicht gedrückt bekommen, nach dem Motto: „Schau dir diese coole Handcreme an!“ Außerdem möchte ich keine Zeit verschwenden, indem ich etwas anschaue, das mir keinen Nutzen, keinen Mehrwert bringt.

Was ist dein Tipp: Wie geht ein Video viral?

Die Leute müssen sich damit identifizieren können. In viralen Videos steckt oft etwas Unerwartetes. Bei Kurzvideos, etwa auf TikTok, ist außerdem die Idee

alles. Da ist es egal, aus welchem Winkel du filmst, wie du aussiehst oder was du anhast. Du musst die Leute dazu bringen, zu lachen oder etwas zu lernen. Dann hast du mit einem Video Erfolg.

Wie baut man eine Community auf?

Ich versuche, mich zu öffnen, über meine Gefühle zu sprechen und mich auch mal verletzlich zu zeigen. Wenn die Leute dich verstehen, können sie eine persönliche Verbindung zu dir aufbauen.

Wie pflegt man eine Community?

Ich versuche, so oft wie möglich Kommentare und Direktnachrichten zu beantworten. In letzter Zeit ist das aber nicht mehr so einfach. Wenn ich ein Video auf YouTube, TikTok und Instagram poste, habe ich abends 2.000 Kommentare.

Wie viel in deinen Videos ist echt? Wie viel inszeniert?

Etwa 50 Prozent sind Inspiration aus dem echten Leben. Die restlichen 50 Prozent sind Schauspiel, Überdrehung, Inszenierung.

Was guckst du, wenn du gerade kein Creator, sondern Nutzer bist? Wem folgst du?

Ich versuche, vor allem Leuten zu folgen, deren Content ich als Inspiration für meine Arbeit nutzen kann. Ich will nicht zu viel Zeit mit Scrollen in meinen Feeds verbringen. Denn Social Media ist auch mein Guilty Pleasure. Ich folge einigen hübschen Influencern. Ich liebe es, ihnen beim Schminken zuzuschauen.

Was wischst du lieber weg?

Ich bin kein großer Fan von Pranks. Und allem, was mit Tanzen zu tun hat.

In deinen Videos machst du dich auch über das schlechte Internet in Deutschland lustig. Hängen die Menschen in Vietnam mehr am Handy als hier?

Das Internet ist dort definitiv besser als hier. Du hast überall Empfang, auf einem Berg oder mitten im Dschungel. Außerdem ist es super günstig. Meine Freunde in Vietnam lieben ihre Handys, sie lieben Social Media, mehr als die Deutschen. Sie posten viel, zeigen ihre Gesichter und ihr Leben. Keiner meiner deutschen Freunde verrät online seinen echten Namen, sie posten nur selten Fotos von sich.

Noch vor 60 Jahren saßen die Menschen wenige Stunden am Tag vorm Schwarz-Weiß-Fernseher. Heute legen viele das Smartphone gar nicht mehr aus der Hand und schauen viele, viele Stunden auf den Bildschirm. Wie findest du diese Entwicklung?

Traurig. Ich bin ja selbst ein Opfer dieser Entwicklung, ich bin tatsächlich süchtig nach meinem Handy. Bei meinem Freund ist das anders, er geht in seiner Freizeit raus, kümmert sich um den Garten. Ich dagegen hänge gefühlt die ganze Zeit am Handy und habe manchmal das Gefühl, dass ich dadurch einen großen Teil meines Lebens verpasse.

Trotzdem machst du deinen Job gerne. Wie passt das zusammen?

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Die Sucht hat nichts mit meinem Job zu tun. Um Ideen für meine Channels zu kriegen, muss ich durch Social Media scrollen. Privat scrolle ich aber auch, um mich sinnlos zu unterhalten. Und das ist nicht gut.

Der Stromverbrauch ist riesig, wenn Menschen den halben Tag Videos auf Handys schauen. Macht dir der Klimawandel Sorgen?

Man muss sich die Welt heute doch nur einmal ansehen: Vietnam hat eine sehr lange Küstenlinie. Da sehen wir die Auswirkun-

»Bei Kurzvideos ist die Idee alles. Da ist es egal, aus welchem Winkel du filmst, wie du aussiehst oder was du anhast. Du musst die Leute dazu bringen, zu lachen oder etwas zu lernen«

gen der Erderwärmung schon sehr deutlich. Sogar in Deutschland ist es sehr heiß. Wie wird das erst in zehn Jahren sein? Ich finde das beängstigend und versuche, nicht zu viel daran zu denken. Auch deshalb scrolle ich so viel.

Du nutzt dein Handy auch, um vor schlechten Nachrichten zu fliehen? Definitiv. Das Smartphone ist toll, um deinen Verstand komplett abzuschalten.

Ein großes Thema in deinen Videos ist Essen. Du erzählst, wie du als

Jugendliche mit deinem Körpergewicht gehadert und teils gehungert hast, um einem Schönheitsideal zu entsprechen. Warum ging es dir so? Das Schönheitsideal in Vietnam ist, möglichst dünn und möglichst weiß zu sein, ein möglichst schmales Gesicht zu haben. Alle meine Freunde sehen so „perfekt“ aus. Ich wollte das auch. Aber ich bin für vietnamesische Verhältnisse eher breit. Das ist einfach meine Statur. Eine Zeit lang war ich untergewichtig. Seit ich hier bin, habe ich aber mehr als zehn Kilo zuge-

nommen. Im Spiegel erkenne ich mich manchmal nicht wieder, dann muss ich mir sagen: „So sieht ein gesunder Körper aus.“ Fakt ist: Ich bin jetzt viel glücklicher als je zuvor. Instagram und Co liefern ein völlig falsches Idealbild.

Was ist dein Mittel gegen zu viel Instagram? Ich habe eine Zeitbeschränkung auf meinem Telefon, um die zu entsperren, brauche ich einen Code, den nur mein Freund hat. 30 Minuten kann ich pro Tag auf jeder Plattform verbringen.

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Wenn ich mehr Zeit brauche, auch zum Arbeiten, muss ich meinen Freund um den Code bitten. Das muss ich aber gut begründen, fast schon einen Business-Plan abliefern. Und es funktioniert natürlich nur, wenn er in der Nähe ist. Ist er mal nicht da, habe ich wieder freie Hand. Ich kann mich selbst nicht gut kontrollieren, also brauche ich jemanden, der das für mich übernimmt.

Was ist das Schönste daran, bei Millionen Leuten täglich über den Bildschirm zu flimmern? Es hat mein Selbstwertgefühl gestärkt. Wenn Fremde im Internet mir sagen, dass ich gute Arbeit leiste, kreativ bin und ihre Tage besser mache, macht mich das glücklich. Wenn du auf die richtigen Menschen triffst, ist das Internet ein sehr schöner Ort.

Was ist das Nervigste daran, bei Millionen Leuten täglich über den Bildschirm zu flimmern?

Du verlierst einen Teil deiner Privatsphäre. Ich versuche, sie so weit es geht zu schützen, aber das ist nicht immer einfach. Wenn ein Teil deines Lebens im Internet stattfindet, machst du dich außerdem angreifbar.

Wie gehst du mit Kritik um, wie mit Hass?

Konstruktive Kritik höre ich gerne. Wer mir Hassbotschaften sendet, den blockiere ich. Ich habe eine sehr, sehr lange Blocklist.

Wenn du heute nochmal von vorne anfangen könntest auf Social Media – was würdest du anders machen?

Ich würde meinen vollen Namen nicht noch einmal nutzen und mich „Uyen in Germany” oder so nennen. Naja, dafür ist es zu spät. Davon abgesehen, würde ich nichts ändern.

Was hast du in den letzten knapp drei Jahren über dich gelernt?

Dass ich eine kreative Person bin. Vorher dachte ich, ich sei eher durchschnittlich. Aber anscheinend mache ich meinen ContentJob ja ganz gut. Ich denke, ich komme überraschend gut mit den sozialen Medien, dem Ruhm und den Struggles zurecht. Ich bin nicht verrückt geworden!

Mein Leben ist immer noch ziemlich gleich geblieben. Es hat mich nicht so sehr verändert. Darauf bin ich stolz.

Was über Social Media? Social Media ist ein wun-

Hohe Luft: Elisabeth Neuhaus und Uyen Ninh in der Seilbahn über Mannheim. Eurozeichen zieren die Sitzbank – genau wie Ninhs Social-Karriere

derbarer Ort, der mir geholfen hat, meinen Geist zu öffnen und meine Sichtweisen zu ändern. Gleichzeitig kann er auch sehr beängstigend sein. Wer sich nicht gut kontrolliert, so wie ich, kann sich darin verlieren. Junge Menschen sollten nicht zu viel Zeit in sozialen Medien verbringen. Ich bin dankbar, dass ich erst mit 25 Jahren richtig angefangen habe.

Was über das Leben?

Mein Blick auf das Leben

hat sich in den letzten drei Jahren komplett geändert. Ich habe gelernt, dass es um mehr geht als heiraten, Geld verdienen, einen guten Job finden und sich dafür abrackern. Ich habe gelernt, das Leben zu genießen, und dass du als Frau mehr machen kannst, als in der Küche zu stehen und einen langweiligen Job zu machen. Und: Es gibt gar nicht so wenige nette Leute da draußen.

Seit ein paar Wochen hast du den Master in Wirtschaftswissenschaften in der Tasche. Was kommt als nächstes?

Einen Büro-Job habe ich schon in Vietnam zwei Jahre nach dem Studium gemacht. Ich war kein Fan! Jetzt hoffe ich, dass meine Internet-Karriere gut läuft. Mein Traum ist, das bis zur Rente zu machen. (Sie wendet sich an Manager Oğuz Yılmaz)

Oğuz, kann ich in fünf Jahren in Rente gehen?

Oğuz: Schwer vorherzusagen, aber ich würde es dir gönnen.

Uyen: Ah! Wenn Kurzvideos in fünf Jahren noch trenden, werde ich definitiv dabei bleiben. Ich liebe meinen Job.

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»Es gibt ein Zeitlimit auf meinem Telefon. 30 Minuten kann ich pro Tag auf jeder Plattform verbringen. Den Code für mehr Zeit hat mein Freund. Ich kann mich selbst nicht gut kontrollieren«

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Shona Fraser ist Geschäftsführerin der Reality- und EntertainmentProduktionsfirma Good Times

7 Antworten von Tessniem Kadiri

Meine beste Zeit am Bildschirm verbringe ich mit ... Podcasts, Reality TV, ReactionVideos und den Videos auf meiner For-You-Page.

Meine tägliche Screentime... zu viel. Aber ich arbeite ja auf TikTok und Co.

Die größte Verschwendung von Bildschirm-Zeit: Jeder Account, der behauptet, dich in wenigen Wochen reich machen zu wollen. Run!

Meine drei Lieblings-Apps: Instagram, TikTok und Spotify.

Das fesselte mich als Kind an den Bildschirm: „Wissen macht Ah!“ und das Sonntagsmärchen auf Kika.

Gut, dass es noch kein Smartphone gab, als... meine Eltern Kinder waren. So können sie mir Geschichten über ihre Kindheit erzählen, die zu gut klingen, um wahr zu sein – ganz so brav waren sie bestimmt nicht.

Diese Person dürfte mich jederzeit per Videocall anklingeln: Jede:r! Ich finde Videocalls toll, weil man sehen kann, wie jemand reagiert. Beim Telefonieren kann ich oft nicht einschätzen, wie die andere Person findet, was ich labere.

Das würde ich auf den größten Werbescreen der Welt schreiben: Seid lieb zueinander!

7 Antworten von Shona Fraser

Meine beste Zeit am Bildschirm verbringe ich mit ... Ich liebe Content und schaue überall: Realityshows am Handy, Serien am Laptop und große Events auf dem Big Screen zu Hause. I’m obsessed – neue Geschichten überall und jederzeit. Wenn ich nicht meine Lieblingsshows gucke, schau ich Fotos an. Ich liebe auch die Widget-Vorschläge, die vergessene Fotoschätze wieder in Erinnerung bringen. Ich reise recht viel und dank Handy habe ich immer ein riesiges Fotoalbum dabei!

Meine tägliche Screentime ... verrate ich nicht.

Die größte Verschwendung von Bildschirm-Zeit ... ... gibt es für mich nicht.

Meine drei Lieblings-Apps: The Economist, weil ich die Artikel lesen oder hören kann. Ich bin Insta- und

WhatsApp addicted. Und Wetter-Apps: Als Engländerin liebe ich es, über das Wetter zu sprechen und zu nörgeln. Im Sommer fiebere ich der Sonne entgegen und im Winter dem Schnee.

Das fesselte mich als Kind an den Bildschirm: „Dr. Who“ – solange ich nicht hinter dem Sofa versteckt war.

Gut, dass es noch kein Smartphone gab, als ... es hieß „meet me at the left lion“ – DER Treffpunkt für feiernde Jugendliche in Nottingham. Ohne Smartphones blieb uns nichts anders übrig, als zu warten. Ich bin bekennender „time bender“, daher mussten meine Freundinnen dort leider oft länger stehen.

Diese Person dürfte mich jederzeit per Videocall anklingeln:

Die spannendste Neuentdeckung in Sachen Bildschirm: Die Apple-TV-Serie „The Morning Show“. Sehr interessant und unterhaltsam! Mich als junge Frau im Medien-Business hat die Serie zum Nachdenken angeregt. Die dritte Staffel ist gerade online gegangen.

Das kann man besser woanders als auf dem Bildschirm erleben: Sport – obwohl viele meiner Freundinnen während der Pandemie zu Fans von YouTube-Tutorials von Pamela Reif und Co. geworden sind, weiß ich mittlerweile: Sport mache ich lieber in einem Studio mit Real-Life-Trainerin, die mich mit ihrer Strenge motiviert.

Hmmm ... da gibt es so so viele. Ich liebe es, neue Menschen kennenzulernen.

Das würde ich auf den größten Werbescreen der Welt schreiben: An idea a day keeps the doctor away.

Die spannendste Neuentdeckung in Sachen Bildschirm: Ich habe am Wochenende mit dem Coding angefangen – besonders einfach für die Technik-Unaffinen, wenn man dank KI recht schnell Fortschritte macht. Ich habe mit meiner Tochter ein erstes Spiel mit einer bösen Fee programmiert.

Das kann man besser woanders als auf dem Bildschirm erleben ... Live-Musik, zu der man tanzen muss.

124 · turi2 edition #22 · Screen
Tessniem Kadiri ist Reporterin und Moderatorin, u.a. beim TikTok-Kanal nicetoknow des WDR Fotos: Noura@nourarchiv, PR

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Elle Langer berät mit ihrer Agentur Pimento Formate Unternehmen bei der Umsetzung von AR-Projekten, produziert diese selbst und veranstaltet Workshops zu Extended Reality, kurz XR, darunter fallen AR, VR und alle Mischformen

Elle Langer erweitert die Realität: Als Spezialistin für Augmented und Virtual Reality will sie Medien und Marken von den Grenzen des Screens befreien

Interview: Anne-Nikolin Hagemann

Schon Ende der 80er haben manche geglaubt, dass wir uns im Jahr 2000 nur noch in virtuellen Realitäten bewegen. Diese Idee ist sogar noch viel älter. Ivan Sutherland formulierte eine interessante Vision darüber: 1968 entwickelte er mit Kollegen den ersten Datenhelm, der 3D-Grafiken abbildete. Das Gestell war so groß und schwer, dass es an der Decke befestigt werden musste. Anfang der 90er wurde der Begriff „Metaverse“ durch den Roman „Snow Crash“ von Nils Stephenson populär. In dieser Zeit entstand das Internet. Doch es gab schon Pioniere, die virtuelle 3D-Welten und Produkte für VR entwickelten, wie der Informatiker

Jaron Lanier. Die Anwendungen waren noch nicht

so ausgereift. Aber sich in künstlichen 3D-Welten zu bewegen, war durchaus vorstellbar.

Es ist 2023 und noch sieht es nicht danach aus, als ob wir demnächst alle ins Metaverse ziehen. Warum?

Ich weiß nicht, ob wir ins Metaverse ziehen müssen. Es macht riesigen Spaß, AR und VR zu erleben und zu nutzen. Die Frage müsste eher lauten, warum wir damit noch nicht den Massenmarkt erreicht haben. Das hat mehrere Gründe: Für mich ist Metaverse erst mal ein Buzzword, es ist abstrakt, jeder versteht etwas anderes darunter. Eine interaktive, künstliche Welt, in die man eintauchen kann.

Bei dem Thema wird die Technologie zu sehr be-

tont, der Nutzen zu wenig. Diejenigen, die schon ARund VR-Produkte entwickeln, stellen das Erlebnis in den Vordergrund, das dann natürlich technologisch umgesetzt werden muss. Dafür braucht es Fachwissen und Erfahrung, deshalb trauen sich viele Unternehmen nicht an AR und VR ran. Ein wichtiger Punkt ist auch die Wirtschaftlichkeit. Je mehr AR- und VR-Angebote es gibt, desto normaler wird es sein, sie zu nutzen. Dann ist auch das Metaverse normal.

Wie bringst du Leuten VR oder AR nahe?

Für VR lade ich sie für eine halbe Stunde zu einem Besuch auf der ISS und zu einem Weltraumspaziergang ein. Es ist beeindruckend, wenn man mit den

Astronauten im Weltall ist und auf unseren Planeten schaut. Und genau darum geht es bei VR und AR: etwas zu erleben, das man normalerweise nicht erleben kann, Unsichtbares sichtbar machen. Kein anderes Medium schafft es, mit dem eigenen Körper gefühlt selbst im Medium zu sein. Es ist eine körperliche Medienerfahrung. Das sollte man mitdenken, wenn man AR- und VR-Experiences entwickelt.

Bei AR und VR denke ich an Games oder Porno. In welchen Wirtschaftszweigen ist das heute schon etabliert?

Die Automobil- oder Maschinenbau-Industrie war unter den ersten, die in VR-Anwendungen investiert haben, zum Beispiel für das Marketing oder

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»Es ist eine körperliche Medienerfahrung«

die Konstruktion von neuen Modellen. Ingenieure und Designer können von überall in Echtzeit an einem 3D-Modell in Originalgröße arbeiten. Das spart Reisekosten, Probleme können schneller verstanden und gelöst werden. Auch in der Medizin werden AR und VR seit Längerem eingesetzt, Ärzte nutzen beides für Trainings oder zur Zusammenarbeit und zur Visualisierung von hochkomplexen Operationen. Ich kenne Mediziner, die spezielle Anwendungen entwickeln lassen oder sie sogar selbst programmieren.

Wie wird digital erweiterte Realität in der Unternehmenskommunikation eingesetzt?

Dafür gibt es schon einige Möglichkeiten. Für Messen oder Events werden AR- und VR-Erlebnisse produziert, die ein Produkt oder Unternehmen vorstellen. Außerdem gibt es bei Social-MediaPlattformen die Möglichkeit, eine Marke durch AR-Filter oder AR-Lenses erlebbar zu machen. Es braucht nicht immer eine eigene App. Wir produzieren zum Beispiel AR-Stories für Kunden zur CSR- und Umweltkommunikation, die ohne App funktionieren. Auch im Marketing werden AR und VR vielseitig eingesetzt: Fashionbrands ermöglichen es, ihre Produkte virtuell Probe zu tragen; Automarken, sich ein Auto virtuell ins Wohnzimmer zu stellen. So etwas wird es künftig häufiger geben.

Apple will 2024 seine lang erwartete VisionPro-Brille herausbringen. Wird das einen Ka-

talysator-Effekt für die Branche haben?

Es gibt ja den Glaubenssatz: Wenn Apple etwas Neues auf den Markt bringt, wird das der Game Changer. Es wird auch erwartet, dass der XR-Markt mit der Brille einen Durchbruch erlebt. Klar, es gibt viele Fans, die sich eine Vision Pro kaufen und ausprobieren werden. Apple ruft für die Vision Pro allerdings um die 3.500 Dollar auf. Das können sich nicht alle leisten. Ich bin etwas zurückhaltend, weil es schon viele gute VR- und AR-Brillen auf dem Markt gibt.

Was ist dein Hauptargument dafür, im XRMarkt aktiv zu werden?

Dass der Markt noch jung ist und weltweit einer der am stärksten wachsenden Märkte. Wer jetzt ein richtig tolles AR- oder VR-Produkt auf den Markt bringt, hat noch die Möglichkeit, sich frühzeitig zu positionieren und den Markt aufzubauen. Wir öffnen den realen Raum als Medienraum, sind nicht mehr beschränkt auf die Grenzen der Screens, sondern tragen die Monitore mit uns und können die ganze Welt mit Geschichten füllen und sie überall im realen oder virtuellen Raum erleben. Dieser Medienmarkt ist unendlich.

Was sind gute Beispiele für den Medienmarkt?

Ein beeindruckendes Beispiel für mich kommt von Kollegen aus Mexiko, die Werbeplakate für eine Biermarke mit AR zum Leben erweckt haben: Das Plakat ist ein Bildmarker, wird mit dem Handy gescannt, im Display startet dann eine 3D-Animation

aus dem Plakat heraus. Es gibt Luxus-Modemarken, die Fashion für Avatare auf 3D-Events designen oder designen lassen. Gut finde ich auch alle AR-Anwendungen, die es vereinfachen, Kaufentscheidungen zu treffen – weil das unnötige Bestellungen und Retouren reduziert. Ein Sportschuhhersteller zum Beispiel bietet die Möglichkeit, Schuhe per AR-App zu Hause anzuprobieren, um die Optik zu testen. Mit der AR-App eines schwedischen Möbelhauses lassen sich Möbel ins Zimmer stellen.

An Screen-Kontaktlinsen wird schon geforscht, wie geht es weiter?

Wir sind auf dem Weg, durch hochtechnologische Gadgets immer hybrider zu werden. Mit den ARBrillen von Apple, Pico, Snapchats Spectacles, der Nreal oder anderen haben wir schon XR-Geräte, die aussehen wie normale Sonnen- oder Skibrillen. Auch Hersteller wie Ray Ban sind bei der Entwicklung im XR-Bereich dabei. Ich kann mir vorstellen, dass wir in zehn Jahren smarte Datenbrillen haben, die uns neue Informations- und Medienerlebnisse ermöglichen.

In Richtung Kontaktlinse wird auch viel geforscht. Hier hat man die Herausforderung, dass dafür

Hochleistungstechnologie auf mikroskopisch kleine Chips gebracht werden muss, die dann aufs Auge gesetzt werden. Es gibt auch viele medizinische Fragen. Große Unternehmen forschen daran, solche Geräte mit dem Gehirn oder anderen Nervenzellen zu verbinden. Das kann Menschen mit Behinderung helfen, aber auch missbraucht werden. Noch ist das ScienceFiction.

Mikrochips, die sich mit dem Gehirn verbinden – klingt für mich nach Dystopie. Macht dir die Entwicklung manchmal selbst Angst? Nein. Ich bin fasziniert davon, mich über solche Zukunftsszenarien zu unterhalten, weil so neue Ideen entstehen, die auch kritisch diskutiert werden. Vor Kurzem habe ich mich mit einem Startup-Gründer über die Mode der Zukunft unterhalten. Er meinte: Vielleicht laufen wir alle mit grauen Kleidern durch die Gegend und jeder entscheidet für sich, wer welche Kleidung durch eine AR-Brille an ihm sieht. Gleichzeitig wirft das große ethische Fragen auf: Wen grenzen wir damit aus? Welche Daten werden verwendet? Ist das den Energieverbrauch wert? Und: Wünschen wir uns so eine Zukunft überhaupt? Es wird immer verschiedene Gruppen mit verschiedenen Nutzungsbedürfnissen geben. Menschen, die die Möglichkeiten exzessiv nutzen. Menschen, die sie gelegentlich verwenden. Und Menschen, die damit gar nichts anfangen können. Jeder entscheidet individuell, wie seine Zukunft mit XR aussieht.

127 · turi2 edition #22 · Screen
»Um Leuten Virtual Reality nahezubringen, lade ich sie auf die ISS und zu einem Weltraumspaziergang ein«
Foto: Anna Fiolka

Du bist bekannt dafür, viel Zeit vor Bildschirmen zu verbringen. Auf wie viele Stunden täglich kommst du?

Ich habe mich schon als Kind zu allem hingezogen gefühlt, was auf Bildschirmen geschieht – egal ob Fernseher oder Kinoleinwand. Das ist noch immer so. Ich schätze, es sind zwischen acht und zwölf Stunden täglich. Das liegt daran, dass ich die meiste Zeit, in der ich zu Hause bin, vor irgendeinem Bildschirm verbringe. Zum Rechner kommt auch noch der Second Screen dazu, weil ich nebenbei oft noch Filme für „Schlefaz“ sichte. Ich habe mir schon, bevor es das offiziell gab, reale SplitScreen-Situationen aus zwei Monitoren gebaut, auf die ich abwechselnd geschaut habe. Jetzt leide ich ein bisschen darunter, dass meine Augen schlechter werden: Ich brauche eine Gleitsichtbrille, um zwischen den unterschiedlichen Bildschirmen und geschriebenem Text wechseln zu können.

Setzt du dir Grenzen?

Schön wär’s. Die einzige Zeit, in der die Bildschirme größtenteils aus sind, ist der Urlaub. Da versuche ich, nur sehr selten in Mails reinzuschauen. Ich bin auch recht froh, dass ich in einer Zeit aufgewachsen bin, in der es noch nicht überall Bildschirme und Unterhaltungsangebote gab. Denn ich glaube, ich bin kreativ geworden, weil mir langweilig war. Wenn ich heute Kind wäre, bei all den Streamingdiensten, wäre das vielleicht anders. In meiner Kindheit hatten wir zwar einen Fernseher, aber da lief ja fast nichts.

Wann schaltest du heute das lineare TV ein?

Selten. Es bringt ja leider immer weniger Bedeutsames, bei dem es sich lohnt, zeitgleich mit dabei zu sein. Ich schalte meist nur noch ein, wenn ich mit einem zweiten Medium verbunden bin, sei es Social Media oder reale Freunde, mit denen man sich gemeinsam zum Beispiel ein Fußballspiel ansieht, wenn WM ist. Ansonsten habe ich früh angefangen, alles, was mich interessiert, aufzuzeichnen, sodass ich schon sehr lange gezielt gucke, was mich interessiert. Für die „Mattscheibe“ wurde damals alles für mich aufgezeichnet. Da musste ich mir sowieso alles angucken: je schlimmer, desto öfter. Auch das Zappen habe ich schon vor Jahrzehnten aufgegeben, weil ich Sendungen, die mich interessieren, von Anfang bis Ende sehen will.

Wann ist Bildschirmzeit für dich verschwendete Lebenszeit?

Wenn ich mich langweile und ärgere. Aber auch diese Zeit muss nicht zwangsläufig verschwendet sein, denn manchmal kann ich sie noch beruflich nutzbar machen.

Was ärgert dich?

Wenn ich das Gefühl habe, verarscht zu werden. Die „Mattscheibe“ ist ja – damals noch im Radio – aus dem Gefühl heraus entstanden: „Für wie blöd haltet ihr uns eigentlich?“ Damals hatten wir keine Wahl. Heute gibt es durch die Streamer eher ein Überangebot. Bei den vielen tollen Serien habe ich jetzt eher die Angst, eine nicht so gute zu erwischen und damit die karge

Oliver Kalkofe wird 1994 mit „Kalkofes Mattscheibe“ bekannt, in der er das deutsche TV parodiert. Für „Schlefaz“ auf Tele 5 schaut er seit 2013 die schlechtesten Filme aller Zeiten. Mit Ex-Radio-Kollege Oliver Welke startet Kalkofe 2022 den Podcast „Kalk & Welk“

Entertainment-Urgestein Oliver Kalkofe gruselt sich vor Teenies, die Influencern nacheifern und wappnet sich gegen Anfeindungen von rechts

Interview: Markus Trantow

»TikTok ist für mich wie eimerweise Popcornfressen«

Freizeit zu vergeuden. Deswegen recherchiere ich vorab meist lange und mache mir Gedanken darüber, ob ich die wirklich anfange. Denn oft dauert es drei Folgen, bis so eine Serie mich packt. Und wenn das nach der vierten noch immer nicht der Fall ist, ist das verschwendete Lebenszeit.

Sind die Streamingdienste noch die Spitze der Kreativität? Waren sie es jemals?

Für kurze Zeit waren sie allen weit voraus. Aber leider sind sie es nicht mehr. Ich habe es im Radio erlebt, im Fernsehen und jetzt sehe ich es beim Streaming wieder: Wenn ein Sender kreativ war, etwas wirklich Neues erschaffen hat, cool war, hat das immer sein Publikum gefunden. Dann kommen die Konzerne dazu, kaufen die Sender und es geht ausschließlich ums Geldverdienen. Sender wie Radio FFN oder Tele 5 haben immer Geld verdient – mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger. Aber wenn ein großes Imperium dazustößt, ist es nie genug. Also machst du weniger Inhalt, entlässt Leute und verlässt dich nicht mehr auf Kreativität, sondern auf Marktforschung. Das erleben wir jetzt bei den Streamern. Wenn ich früher bei Netflix etwas geguckt habe, dann war das ein Gütesiegel, heute sind drei Viertel der von Netflix in Auftrag gegebenen Serien und Filme das, was früher in der Videothek ganz hinten stand: schöner Titel, schönes Bild – ansonsten eine Mogelpackung. So geht es aber allen Medien, die dem eigenen Mut und der eigenen Kreativität nicht mehr vertrauen.

Wenn du heute neu starten könntest, würdest du Influencer werden? TikTok machen?

Ich hoffe, dass ich in keiner Version meiner Selbst Influencer oder TikToker wäre. Bei TikTok – nichts für ungut – gibt es viel Tolles und Kreatives, aber diese Kurzform war nie meins. Und auch die Geschwindigkeit, dieses Zack-Zack-hintereinanderWegkonsumieren nicht. Das ist für mich wie eimerweise Popcornfressen, irgendwann wird einem davon schlecht. Im Bauch und im Kopf. Und der klassische Influencer, der dazu da ist, uns im Sinne des Wortes zu beeinflussen, ist ja in erster Linie jemand, der seine eigene Existenz lobpreist und Werbung macht. Nicht, dass ich nicht für Produkte werben würde, von denen ich überzeugt bin, aber einfach stumpf jeden Scheiß zu präsentieren und die Leute quasi anzulügen –ich würde mich vor mir selbst schämen. Auch in den 70er- und 80er-Jahren kannten wir Influencer: Die hießen Frau Sommer von Jakobs Kaffee, Herr Kaiser von der Hamburg Mannheimer ...

... mir fällt noch Klementine von Ariel ein. Die haben wir in der Werbung gesehen, aber wir wären nie auf die Idee gekommen, denen eine Postkarte zu schicken: „Klementine, ich finde dich so süß. Deine Latzhose ist so geil.“ Wenn die liefen, ging’s aufs Klo. Wir sind denen nicht freiwillig hinterhergelaufen. Dass es gelungen ist, junge Menschen so zu täuschen, dass sie Influencer, die ihnen nur Scheiße verkaufen, mögen und ihnen folgen, finde ich gruselig.

Wo würdest du dich als junger Kreativer heute stattdessen ausleben? Dass ich meine Ideen bei einer Plattform wie dem Radio umsetzen konnte, dass das ganz amtlich „Arbeit“ hieß und dass ich dafür Geld bekam – ich glaube, das gäbe es heute in der Form nicht mehr. Daher würde ich vermutlich auch das Internet nutzen und versuchen, mir dort eine kleine Fangemeinde aufzubauen, mit etwas, das mir wirklich Spaß macht. Ich habe immer versucht, nur Sachen zu machen, die mir Spaß machen. Oder von denen ich das zumindest dachte. Manchmal merkt man leider hinterher, dass man es besser nicht gemacht hätte, aber wenigstens die Hoffnung muss ehrlich da gewesen sein.

Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft polarisiert ist wie nie. Was bedeutet das für die Satire?

Es ist eine schwierige Zeit. Du kannst viel mehr falsch machen als früher. Selbst wenn du mit bestem Gewissen glaubst, alles korrekt gesagt und getan zu haben, verwenden heute viele Menschen ihre Zeit darauf, dir zu erklären, warum es in ihren Augen doch falsch war. Wenn sich früher jemand über dich geärgert hat, dann hat er das zu Hause vor dem Fernseher erstmal mit sich selbst ausgemacht. Bis der eine Postkarte geschrieben hat und die angekommen ist, war schon viel Dampf aus dem Kessel. Heute bekommst du innerhalb von Sekunden Feedback von allen Seiten, viele empören sich hauptberuflich über alles, und das kann sehr schnell Lawinen aus-

lösen, die man nicht mehr unter Kontrolle bekommt. Auch weil die Fronten sich immer mehr verhärten: Die linke Ecke ist beleidigt, wenn du nicht ausgewogen genug formulierst, die rechte Ecke ärgert sich, wenn du nur versuchst, ausgewogen zu sein. Dann heißt es: „Früher warst du lustig, heute bist du eine Systemhure.“ Da kann ich nur sagen: Nein, ich war schon immer so lustig oder unlustig und habe auch meine Haltung nicht verändert. Damals hast du vielleicht deine verdrehte Meinung auf mich projiziert oder warst noch nicht so radikal.

Denkst du den Shitstorm schon mit?

Ja, es geht fast nicht anders, als sich Gedanken darüber zu machen, ob du etwas so sagen kannst. Meine Erfahrung ist, dass die boshaften und beleidigenden Reaktionen eher aus einer politisch rechts gesinnten Ecke kommen. Von links gibt es auch Wut und Empörung, aber die drückt sich anders aus. Das meiste stammt aus der fast immer gleichen Pro-AfD-Anti-Links-GrünPro-Russland-ImpfgegnerAlle-Scheiße-Außer-IchBubble. Damit spiele ich aber auch gern. Wenn ich etwas besonders absurd oder lustig finde, mache ich Screenshots und kommentiere es.

129 · turi2 edition #22 · Screen Foto: Picture-Alliance
»Einfach stumpf jeden Scheiß zu präsentieren und die Leute anzulügen –ich würde mich vor mir selbst schämen«

Psychologin Julia Brailovskaia forscht zum Suchtpotential von Screens. Und wünscht sich Warnhinweise für Social Media – wie auf der Zigarettenpackung

Dr. Julia Brailovskaia  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Uni Bochum. Dort forscht sie zu Mediennutzung, Persönlichkeit und psychischer Gesundheit

Starten wir mit einem Gedankenexperiment: Was passiert mit mir, wenn ich zwei Wochen lang Smartphone, Laptop und Fernseher ausgeschaltet lasse?

Zunächst werden Sie ein wenig Entzugssymptome haben. Sie werden das Gefühl haben, nach Ihrem Smartphone greifen zu müssen, auch wenn es nicht in der Nähe ist. Sie werden Angst haben, etwas zu verpassen. Nach fünf, sechs Tagen wird es besser. Negative Gefühle wie Niedergeschlagenheit und Ängste werden sich verringern, Ihre Lebenszufriedenheit wird steigen. Sie werden vielleicht körperlich aktiver. Es wird Ihnen nach zwei Wochen auf jeden Fall besser gehen als vor diesem Experiment.

Klingt verlockend – und unrealistisch. Wir sind überall von Bildschirmen umgeben, arbeiten und unterhalten uns darüber, verbringen unsere Freizeit damit. Was macht das mit uns? Wir wissen aus Untersuchungen, dass es langfristig dazu beitragen kann, dass sich die Gesundheit verschlechtert. Depressions-, Angst- und StressSymptome verschlimmern sich, die Lebenszufriedenheit reduziert sich. In Bezug auf Social Media wissen wir auch, dass eine längerfristige Nutzung unter bestimmten Umständen sogar zu suizidalen Gedanken führen kann. Auch die körperliche Ge-

sundheit leidet: Mediennutzung bedeutet meist, dass ich mit gekrümmten Schultern auf mein Handy starre. Das beeinträchtigt unsere Haltung, führt zu Schmerzen im Nacken, im Rücken und den Augen.

Gibt es auch positive Folgen? Können wir etwas besser als die Menschen vor 60 Jahren?

Natürlich. Medien und insbesondere das Smartphone haben dazu beigetragen, dass wir vieles schneller und einfacher tun können. Wir können mit anderen Menschen irgendwo auf der Welt interagieren, schnell an Informationen kommen, uns inspirieren lassen, Rezepte suchen, navigieren, planen. Das beschleunigt unseren Alltag, erweitert unseren Horizont. Das Problem ist, dass die evolutionäre Entwicklung des Menschen – vor allem seines Gehirns – nicht so schnell voranschreitet wie die mediale Entwicklung. Wir hinken dem technischen Fortschritt ziemlich hinterher.

Was macht es gerade mit jungen Leuten, deren Bildschirmzeit ja im Schnitt noch höher als der Durchschnitt ist? Einerseits wissen wir, dass das Ganze Suchtpotenzial hat. Smartphone- oder Mediensucht ist noch keine anerkannte Diagnose, sondern ein Phänomen, das gerade intensiv untersucht wird. Deswegen sprechen wir von „suchtartiger“ Nut-

»Unter einer Stunde ist alles in Ordnung, über fünf Stunden ist ein No-Go«
130 · turi2 edition #22 · Screen
Foto: Holger Schillack

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zung. Die kann definitiv negative Folgen haben, vor allem für Jugendliche, die gerade ihre Persönlichkeit ausbilden. Auch wenn wir von der Suchthematik weggehen: Wenn sie dem nacheifern möchten, was sie in sozialen Medien sehen, kann sich das negativ auf ihre psychische Gesundheit, ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstwahrnehmung auswirken.

Warum hat das Smartphone so großes Suchtpotenzial?

Einerseits ist da die emotionale Seite: Instagram, TikTok und andere soziale Netzwerke sind darauf ausgelegt, dass wir positive Rückmeldung bekommen, Zugehörigkeit erleben und dabei positive Emotionen empfinden. Und der Mensch ist ein soziales Wesen. Er möchte von anderen sozial unterstützt werden durch Likes, Shares, Kommentare. Soziale Medien bedienen also evolutionäre Grundbedürfnisse. Das zweite wichtige Stichwort ist die operante Konditionierung: Wir bekommen immer wieder kleine Belohnungen beim Scrollen und Posten. Also scrollen und posten wir immer mehr.

Haben Sie ein Beispiel für eine operante Konditionierung?

Da sind einerseits die Likes und Kommentare, die ich bekomme, wenn ich ein Foto hochlade. Die bestärken mich. Also poste ich noch ein weiteres Bild und noch eines, um noch mehr Belohnungen zu bekommen. Wenn ich nicht poste, bekomme ich nichts. Zusätzlich kommt jedes Mal, wenn

etwas Neues passiert, ein „Pling!“ oder ein Lichtsignal auf meinen Bildschirm, das zusätzlich verstärkend ist und meine Aufmerksamkeit lenkt, ich muss da hingucken. Deshalb fällt es mir auch leichter, meine NavigatorApp zu deinstallieren als TikTok.

Welche Verantwortung ergibt sich daraus für die Macherinnen der Netzwerke?

Ganz simpel: Wenn ich weiß, dass etwas Menschen schaden kann, sollte ich es nicht mehr tun. Die Betreiber kennen die Erkenntnisse und Mechanismen rund ums Suchtpotenzial so gut wie wir – sie nutzen sie aber in die andere Richtung: um die User am Ball zu halten. Die Tabakindustrie würde auch nicht aufhören, Zigaretten zu verkaufen – deshalb sind vor ein paar Jahren Warnhinweise auf Verpackungen eingeführt worden. So etwas bräuchte es auch für soziale Medien.

Wie könnte ein soziales Netzwerk aussehen, das gesünder für die Psyche wäre?

Daran forschen wir noch. Es müsste eine Plattform sein, die einem die Zeit der Nutzung vor Augen führt und nicht mit Tönen, Blinken und ständigen Benachrichtigungen arbeitet. Es bleibt aber dabei: Das beste soziale Netzwerk ist das OfflineNetzwerk.

Auf welche Warnzeichen sollte ich achten, wenn ich mich frage, ob ich schon süchtig nach dem Smartphone bin?

Wenn ich es nicht weglegen kann, weil es mir

sonst nicht gut geht. Wenn ich merke, dass ich doch danach greife, obwohl ich eigentlich meine Nutzung reduzieren möchte. Wenn ich immer bei schlechter Laune zum Smartphone greife, um meine Emotionen zu regulieren. Wenn ich es immer mehr nutzen muss, um die gleichen positiven Emotionen zu empfinden. Und vor allem, wenn die Nutzung mit meinem echten Leben kollidiert, wenn sich daraus Konflikte in der Familie, der Arbeit oder mit Freunden ergeben.

Wie viel Bildschirmzeit ist unbedenklich?

Grundsätzlich kann man sagen: Unter einer Stunde ist alles in Ordnung, über fünf Stunden ist ein NoGo. Alles dazwischen ist so ein wenig Blackbox. Entscheidender als die Frage nach der Quantität ist die nach der Qualität: Was mache ich am Bildschirm?

Wenn ich eine lange Autofahrt habe und mein Handy als Navi benutze, sind vier Stunden okay. Nicht aber, wenn ich diese vier Stunden mit Scrollen bei TikTok verbracht habe.

Wie kann ich eine gesündere Screen-Umgebung für mich schaffen?

Zum einen muss ich klar festlegen, dass ich Zeit ohne Medien habe, zum Beispiel ab 20 Uhr keine technischen Geräte mehr nutze. Dafür gibt es auch spezielle Dosen, in die man die Geräte legen und definieren kann, wie lange man keinen Zugriff darauf hat. Aus der Forschung wissen wir, dass es sehr gut funktioniert, in der medienfreien Zeit Sport zu treiben, zum Beispiel eine Runde laufen zu gehen. Auch Achtsamkeitsübungen helfen wunderbar. Aber auch Offline-Interaktionen, sich mit Leuten in der realen Umgebung treffen, mit denen ich sonst vielleicht nur auf WhatsApp geschrieben hätte. Am besten ist es, wenn man die Reduktion der Nutzungszeit in der Gruppe beschließt, also sich mit Freunden zum Beispiel auf Smartphone-freie Zeiten einigt oder bestimmte Apps gemeinsam deinstalliert. Dann fühlt man sich damit nicht mehr als das schwarze Schaf, sondern wieder als Teil der Herde.

Was ist Ihr bestes Argument, sofort das Smartphone wegzulegen?

Dass es zufriedener und gesünder machen würde, ist doch schon ein sehr gutes Argument. Wem das noch nicht reicht: Wir alle kennen diese Situation vor Sehenswürdigkeiten, auf Konzerten oder Veranstaltungen, die alle nur noch durch die Handy-Kamera betrachten, aber nicht wirklich sehen. Das Leben findet nicht auf dem Smartphone statt. Und wenn ich es aus der Hand lege, werde ich das auch bemerken.

132 · turi2 edition #22 · Screen
»Ich muss hingucken, wenn das Smartphone pingt und leuchtet. Deshalb fällt es mir leichter, die NaviApp zu deinstallieren als TikTok«

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LINDENSTRASSE

Sie gilt als Institution im deutschen Fernsehen. Fast 35 Jahre und 1.758 Folgen lang bespielt die „Lindenstraße“ mit Mutter Beimer das Feld der öffentlich-rechtlichen Vorabend-Unterhaltung. Andere Heile-Welt-Serien wie „Der Landarzt“, „Forsthaus Falkenau“ oder „Unser Charly“ überlebt die WDR-Produktion zwar. Doch 2020 ist Schluss. Zwei Jahre später wird auch die Außenkulisse der „Lindenstraße“ mitsamt Restaurant Akropolis, Supermarkt und Wohnhäusern in Köln-Bocklemünd abgerissen.

Vom Bildschirm verschwunden

Mutter Beimer, „Arabella“ und ein erfolgloser deutscher YouTube-Konkurrent sind Geschichte, aber nicht vergessen

ZIGARETTEN

Im Alltag und auf unseren Screens lichtet sich der blaue Dunst seit Jahrzehnten. Der Marlboro-Cowboy ist mit dem Ende der ZigarettenWerbung in den Sonnenuntergang geritten. Selbst der letzte TalkshowQuarzer Helmut Schmidt verdichtet mittlerweile die Wolken im Himmel. In Filmen und Serien bleibt Tabak noch Protagonist, hat aber seine Omnipräsenz längst eingebüßt. Oft glimmt die Kippe eher aus Verlegenheit und Einfallslosigkeit auf dem Screen, ästhetisch sieht’s meist trotzdem aus.

SNAKE

In den 90ern kann man die Pixel auf den Mini-Screens von Mobiltelefonen noch einzeln zählen. Snake wird zum Nonplusultra des Mobile Gaming und hat Suchtpotenzial. Bis heute ist wohl kein Spiel so sehr mit einem Hersteller verbunden wie die gefräßige Schlange mit Nokia. Moderne Variationen des Reptils, etwa von Google oder Spotify, kriechen auch heute noch über Computerund Smartphone-Bildschirme. Die popkulturelle Relevanz alter Tage haben aber Candy Crush, TikTok und Co geschluckt: Die Schlange ist irgendwann satt, der Feed endet nie.

Fotos: Picture Alliance

PROGRAMMANSAGEN

PERISCOPE

Ein Periskop hilft beim Rausgucken aus U-Boot oder Bunker. Da passt es, dass mit Twitter 2015 ausgerechnet das Social-Media-Schlachtfeld die App Periscope kauft. Damit sind Live-Videoübertragungen auf der Plattform möglich. Sechs Jahre, einen Hype und einige CopyrightProbleme später ist die Anwendung schon wieder Geschichte. Genau wie die andere große Broadcasting-App Meerkat.

TRASH AM NACHMITTAG

Tägliches Talken ist in den 90ern das Erfolgsrezept privater und öffentlichrechtlicher TV-Nachmittage. Bei RTL startet „Hans Meiser“ 1992 die Welle, „Arabella“, „Bärbel Schäfer“, „Sonja“, „Andreas Türck“, „Fliege“ und viele andere folgen. Bei bis zu sechs Stunden pro Tag ist Übersättigung vorprogrammiert, die Formate enden nach und nach. Wenn Hosts ihre Namen heute an Shows verleihen, geht es meist nicht ums Fremdgehen. Läuft es schlecht, ist das Diskursniveau aber nicht weit von den Daily Talks entfernt.

Der schnöde Mammon besiegelt das Ende der Programmansagen in Fernsehen und Radio. Die Privaten wittern vor rund drei Jahrzehnten mehr Werbeminuten, ARD und ZDF ziehen nach. Dabei liefert die Einordnung des Programms nicht nur Infos, sondern auch Motivation zum Weitergucken. Heute bleibt noch „Schlefaz“ mit Oliver Kalkofe auf Tele 5 – als eine Art Gaga-DeluxeVersion der Programmansage.

SEVENLOAD

Im wilden Westen des Videostreamings der 2000er versuchen einige Anbieter, Shootingstar YouTube Konkurrenz zu machen. Mit dabei ist Sevenload, 2006 gegründet und 2010 von Burdas DLD Ventures übernommen. Das Startup setzt auf Partnerschaften mit TV- und Musikfirmen sowie User-Generated-Content. Doch Googles Videoplattform lässt der kleinen Konkurrenz keine Chance. Selbst international überleben andere Videoportale wie Vimeo bis heute nur in der Nische.

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»Der Spieltrieb wird nie komplett unterdrückt. Er ist immer da«

Ralf Wirsing führt das Europageschäft von Ubisoft, einem der wichtigsten Spiele-Konzerne der Welt. Er hält Gamer für soziale Wesen. Und die Chipstüte für ein Klischee

Von Elisabeth Neuhaus (Text) und Selina Pfrüner (Fotos)

Ralf Wirsing

Jahrgang 1969, studiert Psychologie mit Schwerpunkt Medienwirkungsforschung. 1997 steigt er bei Ubisoft ins Produktmanagement ein. Später bringt er als Producer u.a. „Die Siedler“ auf Nintendo DS heraus, leitet die Blue-Byte-Studios und das DACH-Geschäft von Ubisoft. Seit 2022 ist er Europachef. Wirsing engagiert sich im Branchenverband Game, ist verheiratet und hat drei Söhne

Ralf Wirsing, 1995 durfte ich eine Runde Tetris am klobigen PC meines Vaters spielen – auf Windows 3.1. Das ist meine erste Gaming-Erinnerung. Was ist Ihre?

Meine erste Spielerfahrung war auf einem Gerät der Firma Quelle, Marke Universum. Die hatten in den 70ern eine Konsole, auf der zehn Spiele vorinstalliert waren, die das klassische Pong imitiert haben. Das ist das Spiel mit den zwei Strichen und dem Ball. Diese Konsole habe ich mal wiedergesehen – im ComputerspieleMuseum in Berlin.

1997 sind Sie zu Ubisoft gekommen. Da waren Computer und Grafikkarten noch richtig teuer und kompliziert. PC und Gaming waren was für Nerds. Waren Sie einer? Während meiner Studienzeit habe ich sehr leidenschaftlich und intensiv gespielt. Damals sind gerade die ersten MultiplayerGames aufgekommen, wo man über ein Modem mit jemandem in einer anderen Stadt spielen konnte. Wir haben den Universitätsserver benutzen müssen, um uns miteinander zu verbinden. Verabredet haben wir uns per Festnetztelefon.

Wie viel Zeit zum Zocken nehmen Sie sich heute, 30 Jahre danach? Ich spiele noch. Aber nicht mehr stundenlang. Ein paar nette Games habe ich

auf meinem Smartphone. Ich sammle damit zum Beispiel Pokémon, gerne auch mit meinen Kindern. Das ist immer eine schöne Gelegenheit, um sich auszutauschen: Man läuft herum und kann nebenbei über andere wichtige Sachen reden. An der Konsole bin ich meist eher passiv, dann spielt mein jüngster Sohn, der 14 ist, und fragt mich um Rat.

Sie sind der Spiele-Experte für Ihre Söhne?

Schon. Sie sind mächtig stolz darauf, dass der Papa in der Spieleindustrie arbeitet. Meine Söhne sind 18, 16 und 14. Das ist natürlich ein perfektes Alter für mich, um direktes Feedback von der Zielgruppe zu bekommen. Die drei sagen ganz ungeschminkt: „Das Spiel ist gut“ oder „Das macht ihr doof“. Durch meine Jungs versuche ich auch zu verstehen, wie die heutige Generation tickt und über welche Kanäle wir sie erreichen können. Das ist ganz anders als bei uns früher.

Wie war es denn früher?

Als ich angefangen habe, konnte man nur auf PC oder Konsole spielen. Heute haben wir Smartphones, iPads, Smart TVs. Damals waren Singleplayer-Spiele mit einer fest generierten Welt der Standard. Die Spiele gab es in Kartonboxen, zwölf auf 25 Zentimeter, im Regal bei Mediamarkt oder Kar-

stadt. Wenn so eine Box verkauft wurde, war das Produkt weg, wir konnten es nicht mehr updaten. Der Box lag eine Postkarte bei, und wer schon eine EMail-Adresse hatte, konnte sich bei uns registrieren. Ansonsten hatten wir keinerlei Möglichkeit, uns mit den Spielenden auszutauschen. Heute rede ich nicht mehr von einem nach fünf oder zehn Stunden abgeschlossenen Spiel. Ich habe ein Spielerlebnis, das im besten Fall mehrere Wochen, Monate oder sogar Jahre läuft.

Früher musste man gut sein oder Glück haben, um bei einem Spiel zu gewinnen. Heute reicht es, Geld reinzubuttern. Stimmt’s?

Jugendliche Communities bevorzugen, gegeneinander zu kämpfen, sich zu messen, statt das mit Geld zu machen. In vielen Spielen steht der kompetitive Charakter im Vordergrund, das sieht man auch an der Beliebtheit von E-Sport. Das von Ihnen beschriebene Modell gibt es sicher, viele In-GameKäufe drehen sich aber um kosmetische Dinge: Man bezahlt, um das flammende Schwert zu haben, das in Regenbogenfarben leuchtet. Das kann man machen, wenn man darauf Wert legt, es hat aber keinen Einfluss auf das Spielergebnis. Wir sehen durchaus einen Trend zur Individualisierung. Der beste Vergleich ist für mich persönlich die Autoindustrie, entweder ich fahre den Standard-Golf oder ich mache Breitreifen mit extra Felgen drauf. So ist das in Spielen auch.

Findet in Ubisoft-Spielen Werbung statt? Bei der

Konkurrenz von Electronic Arts wirbt L’Oréal im Spiel „Sims“ auf Plakaten an der virtuellen Straße für einen Mascara, den es im Laden zu kaufen gibt. Es muss genau zum Setting passen. Im Fußballstadion oder beim Autorennen gibt es zum Beispiel in der Realität Bandenwerbung. So fühlt sich eine Vermarktung in solch einem Spiele-Genre natürlich an und stört nicht. Es finden auch Kooperationen ganz anderer Art statt. Bei einem Rennspiel wie zum Beispiel unserem „The Crew Motorfest“ gibt es Marken-Zusammenarbeiten mit Autobauern, damit authentische Automarken im Spiel stattfinden. Das wollen die Fans auch –den „echten“ Nissan GT-R fahren. Bei „Riders Republic“, einem Fun-Sport-Videospiel, gab es mal eine Kooperation mit Prada. Da konnte man in game Outfits des Labels freischalten. Aktuell ist eine Armbanduhr auf dem Markt, die Gamer auch in unserem Spiel „Far Cry 6 “ tragen können.

Wie erreichen Sie Ihre Zielgruppen?

Vor allem, indem wir die wichtigen Social-Media-Kanäle mit Content bespielen: Twitch und YouTube, in den letzten Monaten immer stärker auch TikTok. Für uns sind diese Plattformen wirklich substanziell geworden über die Jahre. Natürlich auch, indem wir mit den Menschen, die auf diesen Kanälen aktiv sind, in Austausch treten. Content Provider sind wichtige Markenbotschafter für uns. Je nach Art des Spiels oder Spielgenres setzen

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»Ich sammle Pokémon, auch mit meinen Kindern. Eine schöne Gelegenheit, um nebenbei über andere wichtige Sachen zu reden«

wir aber auch noch auf klassische Medien oder nutzen PR-Kanäle. Der Mix macht’s.

Warum gucken Menschen anderen so gerne beim Spielen zu, auf Twitch zum Beispiel?

Bei mir spiegelt es meine Unzulänglichkeit im Umgang mit einer Konsole. Es ist angenehmer, zuzuschauen, weil sich die andere Person intensiver mit dem Spiel beschäftigt hat. Ich kann jederzeit reingehen, kann mich mit der Community austauschen, obwohl ich überhaupt keinen Plan von dem Spiel habe. Und dann sind natürlich einige der Let’s Player auch einfach gute Entertainer und man hat die Möglichkeit, Tipps und Tricks zu bekommen oder sich vorab zu informieren, ob das Spiel für einen selbst interessant ist.

Sogenannte Let’s Plays, bei denen Streamer vor

Ubisoft 1986 gegründet, ist ein französischer Videospielkonzern mit 20.000 Beschäftigten. Im Portfolio des Publishers stehen Titel wie „Assassin’s Creed“ und „Far Cry“. Mit seinen Blue-Byte-Studios in Düsseldorf, Mainz und Berlin entwickelt Ubisoft auch in Deutschland Spiele und zählt hierzulande zu den größten Games-Arbeitgebern. 2022/23 setzte der Konzern 1,8 Milliarden Euro um – ein Post-CoronaMinus von 14,6 Prozent. An Ubisoft ist der TechRiese Tencent beteiligt

Publikum online spielen, laufen manchmal Tage am Stück. Erklären Sie mir bitte mal den Zauber des Zockens. Das Schöne ist: Sie können in neue Welten eintauchen. Sie können in den Weltraum fliegen, in böse Dungeons gehen, gegen einen Drachen oder andere Monster kämpfen. Sie können Rennfahrer werden, Tennisprofi und Weltmeister. Eine klare Abgrenzung, etwa zum Film, ist die Interaktivität. Im Kino sitze ich passiv, im Spiel kann ich aktiv mitgestalten und kommunizieren. Das gibt ganz neue Freiheiten. Wichtig ist auch die soziale Komponente. Bei fast jedem modernen Spiel ist irgendeine Art von Kommunikationskanal dabei. Ich habe also Freunde oder zumin-

dest eine Community von Gleichgesinnten, mit der ich nicht nur Abenteuer bestehe oder Aufgaben löse, sondern bei denen ich auch sagen kann: „Heute war blöd in der Schule.“

Sind Videospiele die neuen Fußballvereine?

Dass einige Vereine Nachwuchsprobleme haben, kann durchaus daran liegen, dass sich vor allem junge Menschen mehr und mehr online treffen. Das ist schon eine neue Art des neuen Vereinslebens, definitiv. Games sind aus diesem Nerd-Bereich, in dem sie Ende der 90er sicher noch waren, zum Kulturgut geworden. Sie sind Lifestyle, Popund Jugendkultur. Das Bild des Chips essenden, übergewichtigen und lichtscheuen männlichen

Spielers ist definitiv überholt – und war auch damals bereits zu sehr Klischee.

Mit Ubisoft Film & Television haben Sie eine eigene Produktionstochter, 2016 kam „Assassin’s Creed“ als Film heraus. „Rabbids Invasion“ war ein TV-Serien-Ableger aus einem Ihrer SpieleUniversen. Ein Freizeitpark in Malaysia ist geplant. Arbeiten Sie nach dem Vorbild von Disney? Wie Disney mit seinen Marken umgeht, ist definitiv sehr inspirierend. Wir versuchen unsere Marken so zu diversifizieren, dass wir damit auch Zielgruppen ansprechen, die wir über das klassische Gaming sonst nicht direkt erreichen. Es gibt Hörbücher, Serien, Fashion und andere Produkte, die auf Spielmarken basieren, Live-Erlebnisse wie Ausstellungen oder Konzerte.

Sind Sie traurig, dass die Leute jetzt wieder mehr rausgehen und weniger Zeit zum Spielen haben? Nein. Ich glaube, dass wir als Industrie während Corona wirklich einen Pionierdienst geleistet haben. Über unsere Spielinhalte konnten wir den einen oder anderen ein bisschen auffangen, der ansonsten isoliert zu Hause gesessen hätte. Jetzt bin ich froh, dass wir wieder eine gute Balance zwischen Entertainment in der virtuellen und in der echten Welt finden können. Corona

war doch für uns alle ein einschneidendes Erlebnis, das keiner nochmal braucht.

Mit 500 Millionen Euro Verlust lief 2022/23 für Ubisoft nicht mehr so berauschend. Warum?

Die Entwicklung von Spielen dauert lange. Von den Herausforderungen und Einschränkungen durch Corona war auch die Produktionsseite betroffen. Letztlich haben wir weniger Produkte herausgebracht, als ursprünglich geplant. Für das laufende Geschäftsjahr sind wir aber gut aufgestellt.

In einem berühmten Video von 2018 kündigt der Blizzard-Chef „Diablo Immortal“ als reines Handy-Spiel an und wird ausgebuht. Seine Reaktion: „Do you guys not have phones?“ Wie viel Generationenkonflikt steckt in klassischem versus Mobile Gaming? Ich sehe das heute als friedliches Miteinander. Genau wie Games komplett in der Gesellschaft angekommen sind, gibt es auch keinen Kampf zwischen den Konsolen und den Smartphones. Man erreicht damit zum Teil unterschiedliche Zielgruppen. Mit der Einführung des Smartphones haben wir unseren Markt und unsere Industrie sehr viel breiter aufstellen können. Fast jeder hat heute irgendein kleines Spiel auf dem Telefon und mit immer leistungsfähigeren

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»Ich kann in der Community auch mal sagen: Heute war blöd in der Schule«
Ralf Wirsing im Videofragebogen unter turi2.de/koepfe
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Smartphones werden auch die Spiele wieder komplexer. Die Welten verschwimmen, es gibt kurzweilige Casual Games sowohl auf dem PC als auch auf dem Smartphone und inzwischen ebenso umfangreiche HD-Spielewelten auf dem Handy.

Warum wurde der Mann ausgebuht – Nostalgie?

Die Situation selbst kann ich nicht begründen. Es gibt einfach unterschiedliche Zielgruppen, auch eine, für die Nostalgie total wichtig ist. Die finden sie überall. Es gibt auch den Porsche-Fan, der den 911er Porsche von 1968 zu Hause hat und den viel schöner findet als alle neuen Modelle. Andere sagen, es ist technisch viel mehr möglich. Man muss aber alle Zielgruppen bedenken, auch global. Wenn man sich nur auf eine versteifen würde, würde man nicht wachsen. Gerade im asiatischen Raum sind Mobile Games sehr wichtig und stark.

Knapp zehn Milliarden

Euro hat die Computerund Videospiele-Industrie 2022 in Deutschland umgesetzt. Die meisten

Kassenschlager kommen aber anderswo her. Warum sind wir keine große Gaming-Nation?

Mit Blick auf die Begeisterung für Games sind wir bereits eine große Gaming-Nation. Immerhin ist Deutschland der größte Markt in Europa und weltweit die Nummer fünf. Mit der Gamescom findet hierzulande das weltgrößte Games-Event statt. In der Spieleentwicklung hinken wir allerdings hinterher. Unsere Branche hatte in Deutschland lange mit einigen Klischees zu kämpfen. Das alte Nerd-Klischee war etwa im englischsprachigen Raum nie ein Problem. Da war Gaming seit Beginn der Computerspieleindustrie immer Kulturgut. Man ist da drüben ganz selbstverständlich und relativ früh mit der Politik in Kontakt getreten, um zu diskutieren, wie man die Industrie sinnvoll unterstützen kann. Das geht über Förderungen, über Ausbildung. Deswegen haben die USA, Kanada, aber auch Teile von Europa einen Vorsprung, den wir im deutschsprachigen Raum langsam versuchen

aufzuholen. Mit der Einführung der Games-Förderung hat sich da ja auch schon viel in die richtige Richtung bewegt.

Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2024 sind weniger Mittel für die Spiele-Förderung vorgesehen, 48,7 statt 70 Millionen. Was bedeutet das für die Branche?

Das ist eine bittere Pille, nicht nur, aber insbesondere für kleine Teams und Entwicklerstudios. Mit der Förderung schaffen sie normalerweise die Grundlage, an etwas zu arbeiten, das einmal kommerziell erfolgreich werden soll. Für ein Unternehmen mit wenigen Leuten ist eine Summe im mittleren sechsstelligen oder kleinen siebenstelligen Bereich häufig die entscheidende Investition, um ihr Projekt überhaupt realisieren zu können. Das fehlt jetzt.

Warum braucht die Branche überhaupt Steuergelder?

Es ist vor allem eine Förderung zur Fachkräftesicherung, zum Aufbau von Know-how und um Kompetenzen in digitalen

Unter Sternen: Ralf Wirsing mit Elisabeth Neuhaus in einer von vielen Chill-out-Ecken im Düsseldorfer Ubisoft-Büro

Schlüsseltechnologien aufzubauen. Ziel ist es, die Produktion im eigenen Land zu fördern. Studien aus anderen Ländern zeigen, dass für jeden geförderten Euro in der Gaming-Branche im Schnitt rund 1,80 Euro zusätzliche Steuereinnahmen erzielt werden. Das ist also nicht irgendein Loch, in dem das Geld versinkt. Hinzu kommen noch die Technologie-Effekte, die in andere Industrien ausstrahlen. Einige Anwendungen aus der Games-Branche, wie der Animation, werden in der Architektur oder in der Medizin genutzt.

Während meiner UniZeit haben zig Studis zur Frage geforscht, ob Videospiele aggressiv machen. Ihre Antwort? Es gibt viele Momente und Situationen, die Menschen reizen können. Wenn ich als Person einen Misserfolg habe, ärgere ich mich darüber. Das kann beim Spielen sein, auch beim Brettspiel, genauso kann das während einer Autofahrt passieren. Wenn ich als Autofahrer im Stau stehe, ärgere ich mich darüber. Solche Reize sind

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»In der Spieleentwicklung hinkt Deutschland hinterher. Schuld ist das alte NerdKlischee«

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nicht spielspezifisch und auch nicht videospielspezifisch, also lautet meine Antwort: nein.

Die Debatte dreht sich vor allem um Ego-Shooter, sogenannte Killerspiele, etwa nach dem Amoklauf an der Columbine High School in den USA 1999 oder dem in Erfurt 2002. Nach dem Anschlag in München 2016 sagte die Polizei, der Täter habe „exzessiv“ Videospiele gespielt. Es erschien lange sehr einfach, einen direkten Zusammenhang zwischen Aggressivität im Spiel und Aggressivität im realen Leben herzustellen. Das ist natürlich so nicht richtig und viel zu einfach gedacht. Das Thema wurde in zahlreichen Studien untersucht. Games können zwar kurzfristig reizen, etwa, wenn ich in einem heiß umkämpften Fußballspiel kurz vor Schluss noch ein Tor kassiere und dann verliere. Eine mittel- oder langfristige Erhöhung des Aggressionspotenzials, das allein auf Games zurückgeht, gibt es nicht. Klar ist aber auch: Aufgrund der Verbreitung von Games ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein Täter

auch gespielt hat. Wir als Industrie sehen diese Art der Killerspiel-Debatte als überholt, aber nehmen unsere Verantwortung ernst und engagieren uns über Institutionen wie die USK, die in Deutschland für die Altersfreigabe zuständig ist, oder die Stiftung Digitale Spielkultur und ganz besonders für die Vermittlung von Medienkompetenz und Jugendschutz.

Seit wann dürfen Ihre Söhne zocken?

Sie wurden nicht im Kinderwagen mit dem iPad großgezogen. Aber es ist ein ganz natürlicher Gang, dass Kinder irgendwann Spiele, auch Videospiele, für sich entdecken. Bei uns wurde das zunächst mit ganz kleinen Schritten geduldet. Als Eltern sollte man sich immer fragen: Was spielt mein Kind?

Wie lange spielt es? Und: Ist genügend Ausgleich da? Ich finde es wichtig, dass sich Eltern dafür interessieren, was ihr Kind macht – auch im Internet.

Das Klima in Spieleschmieden ist als toxisch männlich verrufen. Ubisoft war mehrfach wegen Vorwürfen der sexuellen Belästigung in

den Schlagzeilen. Was tun Sie, damit sich Vorfälle wie diese nicht wiederholen?

Diese Thematik wurde in einem öffentlichen Post von unserem Unternehmen adressiert. Wir haben neutrale Instanzen eingerichtet, an die man sich wenden kann, wenn man sich falsch behandelt fühlt. Alle Mitarbeitenden müssen regelmäßig ein Anti-Harassment-Training durchlaufen. Dazu bieten wir externe Hilfe von spezialisierten Beratungsunternehmen an. Alle sind dazu angehalten, Fehlverhalten zu melden. Wir möchten ein sicheres und respektvolles Arbeitsumfeld bieten.

Entwirft künftig eine KI alle Spiele?

In der Spieleentwicklung ist KI per se nichts Neues. Wenn Sie sich durch eine virtuelle Welt bewegen, in der eine Figur von rechts nach links läuft, ihren Kopf dreht, Sie anspricht, danach weiterläuft und

Feuer macht, steht da ein KI-Modell hinter. Sie hilft, glaubwürdige Spielwelten zu schaffen. Dieser Bereich wird für uns immer substanziell sein. Auch nutzen unsere Teams KI seit Jahren bei der Erzeugung von Landschaften oder Wasseroberflächen. Bei den neuesten Entwicklungen und Möglichkeiten im Bereich KI zur Generierung von Content sind wir momentan noch in einer Test- und Lernphase. Es gibt viele noch zu klärende Rahmenbedingungen. Grundsätzlich möchten wir mit den Entwicklerteams erforschen, wie sich die Technik nutzen lässt, um ihre Arbeit zu bereichern. Wir bezweifeln, dass KI menschliche Kreativität eins zu eins abbilden kann. Wir sehen den Menschen dadurch nicht gefährdet.

Als Kind hat man es genossen, ewig zu spielen, heute kriegen dieselben Leute nach 20 Minuten Daddeln am Handy ein schlechtes Gewissen. Warum ist das so?

Oh, die älteren Gamer gibt es durchaus. Die Spieler von damals sind mit dem Medium erwachsen geworden. Aber es stimmt schon, als Erwachsene haben wir ein deutlich begrenzteres Zeitbudget. Wir müssen arbeiten, uns gegebenenfalls um die Familie kümmern. Im Alter verändern sich auch die Wertigkeiten, oder wir setzen andere Prioritäten, engagieren uns im Sportverein, verbringen Zeit im Garten, im Museum oder ziehen beim Golf die breiten Reifen auf. Ich glaube, der Spieltrieb wird nie komplett unterdrückt. Er ist immer da. Wir leben ihn nur anders aus.

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Twinkle, Twinkle, Little Spark: Für unser Foto döst Ralf Wirsing mit Kuscheltier aus dem „Rabbids“-Universum im Napping Room

In ist, wer drin ist

Im Verzeichnis der wichtigsten

Meinungsmacher*innen in Deutschland

turi2.de/koepfe

#22_Schlussbesprechung_turi2_Team

Anne-Nikolin, Elisabeth, Heike, Markus, Nancy, Tim, Uwe, Du

Anne Geschafft, ihr Lieben. Schlussbesprechung!

Nancy

Boah, kaum hat man seinen Laptop zugeklappt, bimmelt das Handy schon wieder.

Tim

Fühlen wir. Ich frage lieber nicht nach eurer Bildschirmzeit in den letzten paar Wochen…

Elisabeth

Nee, lass mal. Ich glaube, ich weiß jetzt, was Mama vor 25 Jahren mit „Zu viel Fernsehen macht viereckige Augen“ meinte.

Peter

Den Spruch kennen meine Kinder in der Variante: „Zu viel Handy macht einen Buckel“.

Tim

Es gibt viele schöne Dinge, die man ohne Bildschirm machen kann.

Markus

Zum Beispiel Podcast hören.

Nancy

Markus, du hörst wohl Podcasts auf der Schreibmaschine?

Heike

Mein Vorschlag: Wir gehen jetzt alle erstmal neue Energie sammeln für den Jahresendspurt!

Markus

Und für die Agenda 2024 – was wirklich wichtig wird. Was wird bei euch wichtig?

Peter

Weniger Bildschirmzeit, mehr analoges Leben und Arbeiten.

Uwe

Mein Lifestyle-Coach sagt, das Hier und Jetzt sei so wichtig. Also werde ich erstmal das Jahr 2023 anständig beenden.

Nancy

Ich will endlich mal die Rezepte nachkochen, die ich mir immer bei Insta abspeichere.

Anne

Mein Ziel: alle Umzugskisten bis 2024 ausgepackt haben.

Elisabeth

Ich hoffe ja darauf, dass mein Immunsystem mehr Kita-Keime abwehrt. Training ist alles…

Heike

Na dann: Alle mal raus an die frische Luft!

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Johanna Trantow spielte vor 22 Jahren nächtelang Counter Strike und befreite Geiseln aus den Fängen von Terroristen.

Anne-Nikolin Hagemann wollte nach ihrem ersten Kinobesuch 1996 einen Dalmatiner – oder lieber 101.

Elisabeth Neuhaus feiert die Rückkehr des Klapphandys.

Markus Trantow sieht Bewegtbild fast nur noch auf dem iPad – egal ob Netflix oder Live-TV.

Nancy Riegel wünscht sich den winzigen Bildschirm ihres rosafarbenen Tamagotchis zurück.

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