turi2 edition #17 Jobs - Arbeiten in der Kommunikation

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»Ich würde auch weitermachen, wenn ich im Lotto gewinnen würde« Mai Thi Nguyen-Kim, YouTuberin, Bestsellerautorin und TV-Moderatorin, hat einen Job im Chemiekonzern ausgeschlagen, um Wissenschaft vor die Kamera zu bringen

Wann haben Sie sich entschieden, dass Sie lieber vor der Kamera als im Labor stehen möchten? Ich erinnere mich zumindest noch genau, wie fassungslos ich auf mein Handy starrte, als Trumps Beraterin Kelly Ann Conway total selbstbewusst von „alternative facts“ sprach. Spätestens da wurde mir klar, dass Fakten und Wissenschaft auch in der Öffentlichkeit vertreten und verteidigt werden müssen. Aber dass ich irgendwann das Labor ganz verlassen würde, hätte ich lange nicht gedacht. Wie hat Ihr Umfeld auf die Entscheidung reagiert? Manche schockiert, manche überrascht – und manche waren auch überraschend wenig überrascht. Viele Freunde haben mich angefeuert und bestärkt, meine Eltern haben sich eher Sorgen gemacht. Hatten Sie Momente des Zweifels, ob dieser Schritt der richtige war? Es gab ein sehr attraktives Jobangebot als Laborleiterin in einem großen Chemieunternehmen, das

»Medien sind anfällig für Pseudoexperten, die Quatsch erzählen, aber vor der Kamera gut funktionieren«

ich nach langem Kopfzerbrechen absagte, um meinen Weg in der Wissenschaftskommunikation weiterzugehen. Das fühlte sich schon sehr mutig an. Ich weiß noch, wie ich zu meinem Mann sagte: „Würde ich Alkohol trinken, dann bräucht’ ich jetzt einen Schnaps.“ Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit am meisten, auf was könnten Sie verzichten? Mir gefällt alles an meiner Arbeit. Ich würde sie auch weitermachen, wenn ich im Lotto gewinnen würde und nie wieder arbeiten müsste. Nur würde ich mehr freinehmen. Wie reagieren Sie auf Anfeindungen im Netz? Gar nicht, weil sie mich zum Glück gar nicht mehr erreichen. Ich konzentriere mich lieber auf das gute Feedback, die ermutigenden Nachrichten von Menschen, die mir schreiben, dass ich sie zu einem Chemiestudium inspiriert hätte oder dass mein Video ihnen geholfen hat, ein Familienmitglied vom Impfen zu überzeugen. Das motiviert mich und mein Team ungemein. Verändert Ihre Arbeit die Welt? Ich trage meinen kleinen Teil dazu bei, dass Menschen Wissenschaft besser verstehen und einordnen können. Nur wer gut informiert ist, kann auch gute Entscheidungen treffen. Wie hat der Wissenschaftsjournalismus Sie verändert? Meine Arbeit besteht zum größten Teil aus Lernen. Aus recherchieren, lesen, mit Fachleuten sprechen. Mein Horizont ist heute so viel breiter als damals, als ich noch im Labor war und in meiner kleinen Chemiewelt lebte. Für mich ist das sehr „humbling“, wie man im Englischen sagen würde. Man merkt, wie kom-

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plex die Welt ist und wie wenig man selbst weiß. Haben Sie Vorbilder? Vorbilder vielleicht nicht, aber ich versuche, meine Arbeit als Wissenschaftsjournalistin immer so zu machen, dass auch mein Doktorvater stolz wäre. Ich möchte Wissenschaft so vermitteln, dass sich auch Fachleute gut vertreten fühlen. Was ist das Besondere am Wissenschaftsjournalismus? Zum einen das Dolmetschen: komplexe, wissenschaftliche Zusammenhänge verständlich übersetzen, ohne sie zu verzerren. Zum anderen wird das Einordnen wichtiger. Medien sind anfällig für Pseudo-Experten, die Quatsch erzählen, aber vor der Kamera gut funktionieren. Wann ist ein Video oder eine Fernsehproduktion für Sie gelungen? Das klingt jetzt vielleicht zu banal – aber ich bin immer begeistert, wenn ein Beitrag inhaltlichen Mehrwert hat. Ich erlebe oft, wie – gerade im Bewegtbild – der Inhalt anderen Dingen wie Dramaturgie oder schönen Bildern untergeordnet wird. Was kann sich TV von YouTube abschauen? Und umgekehrt? Ich finde, sowohl inhaltlich als auch konzeptionell passieren im Netz und im Streaming-Bereich gerade viel mehr spannende Dinge als im Fernsehen. Das Fernsehen sollte sich mehr Innovation zutrauen. Welche Tipps geben Sie einem YouTube-Anfänger? Erstens: Qualität statt Quantität. Zweitens: Teures Equipment sparen und stattdessen die Energie in ein gutes Skript oder Konzept stecken. Drittens: Keine Trends kopieren. Finde deine eigene Nische. Carolin Sprick

Foto: ZDF/Maike Simon

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Was wollten Sie als Kind werden: Wissenschaftlerin, Fernsehstar oder etwas ganz anderes? Ich wollte tatsächlich lange Schriftstellerin werden. Zwar nicht von Sachbüchern, sondern von Romanen, aber über Umwege bin ich dem Wunsch ja echt nahe gekommen.


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