turi2 edition #13: Agenda 2021

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Not lehrt beten – warum | 15 profitieren die Kirchen nicht von der Corona-Krise, Ursula Ott?

Ursula Ott, Chefredakteurin „chrismon“

spektakulärer? Im „chrismon“-Dezemberheft konfrontieren wir den Leiter eines diakonischen Pflegeheims mit dem Vorwurf, die Kirchen hätten zu wenig gekämpft dafür, dass Töchter und Söhne ihre Eltern besuchen dürfen. Der Theologe widerspricht nicht. Natürlich ist im Frühjahr nicht alles richtig gelaufen. Aber die Kirchen haben gelernt. Sie kämpfen jetzt um Zutritt zu den Kranken, feiern Heiligabend im Autokino und singen „Stille Nacht“ an der Straßenecke. Überhaupt, sagt der Heimleiter zurecht: An wen richten wir unsere Vorwürfe? Kirche, das seien auch seine 2.800 Mitarbeiter*innen, die in der Not über sich hinausgewachsen seien. Altenpfleger*innen, die vorher nicht sonderlich gläubig waren, lasen Andachten des Pfarrers vor. Viele Menschen setzen sich jetzt in eine Kirche, um Danke zu sagen. Die Frage muss also lauten: Können Menschen in der Corona-Not von der Kirche profitieren, oder Halt in ihr finden? Wenn ich auf das „chrismon“Jahr 2020 blicke, lese ich von Seemannspastoren, die sich um gestrandete Matrosen kümmern. Von Knast-Seelsorgerinnen, die für Heiligabend einen zweiten Skype-Platz erkämpfen. Geschichten der Hoffnung, die sich auch in säkularen Medien gut „verkaufen“. Sie sind gefragter denn je. Denn es sind gute Nachrichten.

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Bringt die Pandemie die Wissenschaft oder Aluhüte zum Leuchten, Daniel Lingenhöhl?

Wissenschaftler*innen waren medial selten so gefragt wie in der CoronaPandemie. Der Bedarf nach fundierten Informationen zum Virus und seinen Folgen ist durch die Decke geschossen. Bei „Spektrum der Wissenschaft“ waren meist mehrere Kolleg*innen gleichzeitig damit beschäftigt – bis hin zu TV-Auftritten zur Primetime, was für uns in dieser Häufigkeit neu war. Die Krise wirkte wie ein Turbo für den Wissenschaftsjournalismus. Bis heute ist das Interesse an abgesicherten News zu Covid-19 ungebrochen, Wissenschaftler*innen kommunizieren ihre Ergebnisse zunehmend besser und direkter: Christian Drosten hat es mit seinem Podcast vorgemacht. Andere, wie die Virologinnen Isabella Eckerle oder Sandra Ciesek, sind ihm gefolgt und bereichern die öffentliche Debatte. Gleichzeitig erfährt das Publikum, dass sich die Wissenschaft alles andere als einig sein kann, dass Widerspruch sogar essentiell ist. Bekannte und neue Aluhüte versuchen, diese Differenzen im Sinne ihrer Verschwörungstheorien auszunutzen, sind damit bisher aber gescheitert: Die Mehrheit

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Fotos: PR (3), Thomas von Aagh

Profitieren? Was für ein hässliches Wort, gerichtet an ein Medium der evangelischen Kirche. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, übersetzt Martin Luther aus der Bibel (Matthäus 4,4). Das Brot allein bezahlen in diesen Tagen zum Glück Herr Altmeier, Herr Scholz, die Agentur für Arbeit und im schlimmsten Fall die gesetzliche Krankenkasse. Aber gerade in Notzeiten zeigt sich: Menschen brauchen nicht nur das Materielle. Sie brauchen Trost, Beistand, wollen sich bedanken, dass es ihnen gut geht. Dafür gibt es viele Optionen. Man kann im Pralinenladen Trost finden oder ein Dankbarkeitstagebuch bestellen. Man kann aber auch Beistand suchen bei der Telefonseelsorge, die so viele Anrufe bekommt wie nie zuvor. Man kann Trost suchen in einem Gottesdienst – alleine zwischen März und Juni schauten zehn Millionen den ZDFGottesdienst, anderthalb mal mehr als sonst. Könnten die K ­ irchen dann nicht lauter sein,

Daniel Lingenhöhl, Chefredakteur „Spektrum der Wissenschaft“

der Menschen hierzulande informiert sich sachgerecht; das Vertrauen in klassische Medien und den Wissenschaftsjournalismus ist laut Umfragen 2020 deutlich gestiegen. Dieser Trend wird sich 2021 fortsetzen, bis wir die Krise dank der Impfstoffe überwunden haben. Fragen zu Covid-19 werden allerdings bleiben: Wirken die Vakzine dauerhaft? Welche Langzeitfolgen müssen wir fürchten? Wie können wir neue Seuchen verhindern? Müssen wir unser Verhältnis zur Natur grundlegend überdenken? Auch wenn die Aluhüte 2020 überwiegend durchgeglüht sind: Ihre polarisierende Wirkung auf die Gesellschaft müssen wir 2021 weiter beobachten – und ihnen mit gutem Journalismus Fakten entgegensetzen.


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