»Jeder Mensch verträgt nur eine überschaubare Dosis an schlechten, bedrohlichen Nachrichten« mit den Argumenten des jeweils anderen auseinandersetzen zu wollen – und das kann ich oft nicht mehr erkennen. Sie haben in der „Zeit“ ein Ressort für Pro und Contra: die Streit-Seiten. Klappt es noch, Menschen mit widersprüchlichen Meinungen ins Gespräch zu bringen? Grundsätzlich klappt es sehr gut, die Paare zu finden. Trotzdem gelingt nicht jedes Gespräch, etwa weil es ein Ungleichgewicht zwischen den Kontrahenten gibt oder die Standpunkte nicht unterschiedlich genug sind. Ich stelle aber fest, dass die meisten Leserinnen und Leser sich über das Format freuen, weil sie immer wieder mit etwas Neuem konfrontiert werden. Die „Zeit“ gilt ja als diskussionsfreudiges Haus. Wie halten Sie diese Kultur während des Lockdowns mit den vielen Kolleg*innen im Home-Office am Laufen? Wir haben niemanden ins Home-Office geschickt, und wir haben auch niemanden aus dem HomeOffice zurückbeordert. Jeder arbeitet so, wie er es für richtig hält – natürlich immer in Absprache mit den Ressortleitern. Wir sind ja im Prinzip ein antiautoritärer Laden. Natürlich bleiben immer wieder Kolleginnen und Kollegen zu Hause, einfach weil wir sonst die Hygiene- und Abstandsregeln nicht ver-
nünftig einhalten könnten. Aber ich kenne hier in Hamburg niemanden, der aus Prinzip daheim bleibt. Und dafür bin ich unendlich dankbar. Es waren immer Menschen hier, auch zu den dramatischsten Zeiten. Und davon haben wir enorm profitiert: Eine bessere Schlagzeile, eine bessere Bild-Auswahl oder Aufmachung entstehen oft im kurzen Moment des Zurufs und des Austauschs. Das kriegt man digital auch hin, es ist aber schwieriger. Die Belegschaft der „Zeit“ war zu Beginn der Pandemie in Kurzarbeit. Sie selbst und Geschäftsführer Rainer Esser haben auf ein Viertel Ihres Gehalts verzichtet. Ist inzwischen wieder alles back to normal? Ja, wobei ich herausstellen möchte, dass weitere 35 Kolleginnen und Kollegen für zwei Monate freiwillig auf Teile des Gehalts verzichtet haben – aus Solidarität zum Rest der Mannschaft, der drei Monate in Kurzarbeit gehen sollte. Nach zwei Monaten haben wir die Kurzarbeit jedoch beendet, weil wir gesehen haben, dass wieder sehr viel mehr Arbeit da war. Inzwischen sehen wir, dass die Verkäufe so zugenommen haben, dass wir einen großen Teil unserer massiven Verluste bei den Anzeigen, Veranstaltungen und Reisen wettmachen können. Dafür können wir wirklich unserem Schöpfer danken.
2019 war ein Rekordjahr beim Umsatz, 2020 ist ein Rekordjahr bei der Auflage, also dem Teil, für den Sie verantwortlich sind. Das ist eine Teamleistung, dazu braucht es einen starken Verlag. Man kann ein noch so gutes Blatt machen, ohne einen vernünftigen Vertrieb bekommt man es nicht zu den Leuten. Der Auflagenzuwachs hat unsere kühnsten Erwartungen übertroffen. Keiner weiß, wie lange das anhält, und es bildet sich hier niemand etwas darauf ein – aber manchmal stehen wir selbst ungläubig vor diesen Zahlen. Geben Sie mal ein, zwei Beispiele? Wir hatten jetzt mehrere Wochen hintereinander Verkaufszahlen von etwa 550.000, was auf das Abo zurückzuführen ist, aber eben auch auf den Einzelverkauf, obwohl wir an den Bahnhöfen und Flughäfen natürlich viel weniger absetzen können. Zugleich steigen die Besuche und die Reichweiten von Zeit Online. All das freut uns, macht uns aber in keiner Weise übermütig. Was ist das Geheimnis dieses Erfolgs? Da gibt es sicher mehr als einen Grund. Was denken Sie denn? Ich denke, dass die „Zeit“ es besser als andere geschafft hat, eine Community aufzubauen, also
116 · turi2 edition #13 · Agenda 2021
Menschen an sich zu binden, die sich im Umfeld dieser Marke wohlfühlen und bereit sind, der „Zeit“ auf vielen Wegen zu folgen. Es kommt aber noch einiges dazu: Ich glaube, dass viele Leserinnen und Leser es wertschätzen, dass bei uns eine gewisse Pluralität der Meinungen sichtbar wird. Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein, vielleicht ist es das aber nicht mehr. Ich glaube auch, dass das Leseerlebnis der „Zeit“ trotz all dem Schlimmen und Negativen, über das wir berichten, etwas Aufbauendes, Erkenntnisreiches und sogar Tröstliches hat. Ich glaube, dass wir inzwischen besser lesbar sind, dass unser Angebot breiter geworden ist, weil wir nicht nur auf zwei oder drei Genres spezialisiert sind. Wie schaffen Sie es, eine Wochenzeitung zu machen, wenn sich die Weltlage oft innerhalb von Stunden verändert? Wir dürfen nicht zu sehr auf tagespolitische Aktualität setzen, das schadet uns im Moment eher. Ein Beispiel: Weil die Wahlen in den USA immer auf den Dienstag fallen, verzögern wir in dieser Nacht unseren Andruck so, dass wir das Ergebnis in der „Zeit“ noch mitnehmen können. Normalerweise sind das die Ausgaben, die sich am besten verkaufen. In diesem Jahr war es anders: Es war