turi2 edition #12 Vorbilder

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Ein Naturforscher als Social Listener, Thought Leader und Content Marketer: Alexander von Humboldt war seiner Zeit weit voraus. Und wäre heute ein idealer Talkshow-Gast, findet PR-Expertin Clarissa Haller

Kommunikator: Er ist der erste Wissenschaftler, der Einheimischen respektvoll gegenübertritt, sich intensiv mit ihnen austauscht, von ihnen lernt. Im Fachjargon würden wir sagen: Er versteht seine Zielgruppe, ist ein guter Social Listener. Darüber hinaus ist er Thought Leader und Content Marketer: Tag und Nacht wirbt er für seine Forschung, veröffentlicht unzählige Schriften und Publikationen. Und: Er nutzt die Macht der Bilder, um seine Erkenntnisse mit Illustrationen meisterlich in Szene zu setzen. Würde Alexander von Humboldt heute noch leben, wäre er mit seiner Weltanschauung sicherlich ein gefragter Talkshow-Gast. Die Welt braucht mehr Menschen mit einem Blick für die globalen Zusammenhänge, einer Leidenschaft für ihren Beruf und dem Mut, sich für die wichtigen Dinge einzusetzen: für benachteiligte Menschen, eine gerechte(re) Gesellschaft, eine intakte Natur. In einem Punkt allerdings könnte man meine Wahl von Alexander von Humboldt als Vorbild als nicht mehr zeitgemäß abtun: Von Humboldt war ein Mann, und er profitierte damit von einer Welt, deren Ordnung eine männliche war. Glücklicherweise ist unsere Gesellschaft heute vielfältiger – auch wenn wir immer noch Entwicklungsbedarf haben. Abschließend empfehle ich daher eine Frau: Die englische Schriftstellerin Andrea Wulf hat das preisgekrönte Buch „The Invention of Nature“ geschrieben, das eindrücklich vom Leben und Schaffen Alexander von Humboldts erzählt.

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Clarissa Haller leitet seit 2016 die Kommunikation der Siemens AG. Bevor sie in die PR wechselte, studierte sie Germanistik, Kunstgeschichte und Amerikanistik und arbeitete als Journalistin für Print und im Rundfunk

Fotos: PR (1), picture alliance (1)

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in Satz von Alexander von Humboldt, einem der größten Forscher der Menschheitsgeschichte, zeigt, wie er die Welt versteht: „Alles ist Wechselwirkung.“ Ein Gefüge ineinandergreifender und voneinander abhängiger Elemente: Sprache, Kultur, Ökonomie, Natur – alles hat seinen Platz, bedingt das jeweils andere. Ein großes Ganzes. Obwohl von Humboldts Satz zwei Jahrhunderte alt ist, erinnert mich das Jahr 2020 daran, dass seine Weltanschauung aktueller ist denn je: Unsere Gesundheit, das Wirtschaftssystem mit seinen sozialen Errungenschaften, der technologische Fortschritt, unsere Umwelt – alles scheint von der Entwicklung des jeweils anderen geprägt. Und wir müssen gar befürchten, dass unsere komplexe Welt dieser Tage aus den Fugen gerät. Alexander von Humboldts Weltanschauung, die die Zerbrechlichkeit der Welt erkennt, kann der Maßstab sein, an dem wir heute unser Denken und Handeln ausrichten. Er ist ein Forscher mit Blick fürs Ganze – die Neugier ist seine Motivation und Leidenschaft, Antrieb eines lebenslangen Schaffens. Innovationsgeist, Weltoffenheit, Hingabe: Das sind Tugenden, die wir anstreben sollten – als Unternehmen, Einzelpersonen und Gesellschaft. Solche Werte sind insbesondere dann gefragt, wenn Menschen sich – wie dies heute zunehmend der Fall erscheint – im Strudel verschiedener, einander widersprechender Wahrheiten überfordert fühlen. Noch relevanter finde ich aber die Vorbildfunktion, die von Humboldt beim Thema Natur einnimmt. Mit seiner Beschreibung der Natur als fein ineinander verwobenes Geflecht (das „Naturgemälde“) schafft er ein neues Verständnis von Flora und Fauna – und begründet eine neue Wissenschaftsrichtung. Auch politisch engagiert sich von Humboldt: Auf seinen Reisen entdeckt er die dunkle Seite des Kolonialismus, die Sklaverei, und setzt sich für deren Abschaffung ein. Er ist damit seiner Zeit voraus. Nicht nur mit seinem Humanismus. Sondern auch, weil er sich engagiert. Auch heute braucht es Menschen, die gesellschaftliche Missstände öffentlich anprangern. Nicht zuletzt – und das imponiert mir persönlich besonders – ist von Humboldt ein hervorragender


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