turi2 edition #12 Vorbilder

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Punk-Frontfrau Amanda Palmer ist im Herzen ein Hippie. Und weist Musikerin Judith Holofernes den Weg, als die sich im Popbusiness verläuft. Holofernes erzählt, wie aus Fan und Vorbild Freundinnen werden

Als Amanda ausstieg, war sie zerzaust, offensichtlich ausgelaugt und kleiner, als ich sie mir vorgestellt hatte. Wie oft hat jemand das Gleiche über mich gesagt, der mich nur aus dem Fernsehen kannte! Schon auf der Fahrt zur Wohnung redeten wir uns in Rage. Das erste Mal ahnte ich, was in meinem Fanherzen undenkbar war: dass Amanda vielleicht, wie ich, eine Freundin brauchte, die die gleiche, seltsame Lebensrealität teilte. Wir beschlossen, den Podcast sausen zu lassen, und gingen essen. Danach zogen wir in die Arbeitswohnung um, um weiter zu reden. Es wurde spät, ich übernachtete auf der Couch. Am Morgen befanden wir, dass der Podcast nachgeholt werden und ich Amanda dafür ein paar Tage auf Tour begleiten müsse. Wir verbrachten drei Tourtage in diversen Cafés, redeten von unseren parallelen Leben, vom Reisen mit Kindern, vom Draufgehen am Kommerz, von Kreativität und Elternschaft. Amanda coachte mich durch meinen Patreon-Start, las meine Texte, warnte vor Fallstricken. Ein paar Tage später kam eine Anfrage der „Vogue“ für ein gemeinsames Interview mit Fotoshooting. Ob ich im November nach London kommen könnte? Amanda und ich lachten laut und lange und beschlossen, einen dreitägigen Kurzbesuch daraus zu machen. Und so landete ich in Heathrow. Die kommenden Tage eröffneten wir ein Work Camp auf Amandas kleinem Schreibtisch. Sie telefonierte mit ihrem Management, ich finalisierte meinen Patreon-Aufschlag. Am dritten Abend veröffentlichte ich dann feierlich meine Seite – mit einem finalen Klick, geführt von ihrer Hand. Meine erste Unterstützerin hieß Amanda Palmer.

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Judith Holofernes ist Sängerin, Autorin und Podcasterin und wurde bekannt als Frontfrau der Band „Wir sind Helden“. Seit Ende 2019 finanziert sie ihre Kunst durch Crowdfunding. Holofernes ist Mutter von zwei Kindern

Fotos: picture alliance (2)

A

manda Palmer trat in mein Leben, als ich sie am meisten brauchte. Ich hatte mein erstes Soloalbum veröffentlicht und trotz aller Freude das Gefühl, ich sei freiwillig in einen offenen Käfig zurückgelaufen. Ich wollte immer noch Musik machen. Aber wollte ich noch Teil des Musikbusiness sein? Dann stieß ich auf Amandas Ted-Talk „The Art of Asking“, einen der meistgesehenen mit über zwölf Millionen Views. Amanda Palmer, Frontfrau des PunkDuos Dresden Dolls, hatte sich nach einem denkwürdigen Showdown vom konventionellen Musikgeschäft verabschiedet und das erfolgreichste Crowdfunding der Musikgeschichte gestartet: über eine Million Dollar für ihr Soloalbum. Jetzt hielt die offizielle Königin des Internets eine flammende Rede für ein neues, altes Kunstverständnis: Kunst als Gemeinschaftswerk, als magisches Ritual. Dieser streitbare Goth-Punk mit den aufgemalten Augenbrauen: ein Hippie! Eine Frau, die zu denken schien wie ich, die an denselben Dingen verzweifelt war. Und die, anders als ich, radikale Konsequenzen gezogen hatte. Dieses Gefühl wandelte sich zur Gewissheit, als ihr Buch „The Art of Asking“ erschien. Ich vergoss beim Lesen Tränen der Freude – und der Scham, dass ich so weit entfernt war von dem, was ich lange schon wusste. Es sollte sechs Jahre dauern, bis ich den Mut hatte, diese Einsicht umzusetzen. Während dieser Jahre entstand zwischen mir und Amanda eine zarte Internetfreundschaft, die begann, als ich einen enthusiastischen Text über ihr Buch für die „Neon“ schrieb. Amanda, inzwischen Mutter eines kleinen Sohnes, war zu einer neuen Form des Crowdfundings übergegangen – Fans unterstützten ihre Arbeit jetzt regelmäßig auf einer Plattform namens Patreon, ohne den Druck einer großen, gezielten Kampagne. Das war, wonach ich mich sehnte – ein unaufgeregtes, nachhaltiges Künstlerleben, in dem die Kunst an vorderster Stelle stehen darf. Als ich dann im August 2019 mitbekam, dass Amanda nach Berlin kommen würde, fasste ich mir ein Herz und fragte sie für meinen Podcast „Salon Holofernes“ an. Ich bot ihr an, in meiner Arbeitswohnung zu übernachten. Am Flughafen wartete ich wie ein nervöser Teenager.


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