turi2 edition #12 Vorbilder

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Selbst will Dr. Henning Beck kein Vorbild nennen. Dafür ist er zu sehr Wissenschaftler. Aber warum Menschen Vorbilder brauchen, kann er bestens erklären Von Heike Turi (Text) und Selina Pfrüner (Fotos)

Sie sind Neurowissenschaftler, Buchautor, Kolumnist. Sie haben promoviert, waren Deutscher Meister im Science Slam. Eine ungewöhnliche Karriere – hatten Sie dafür ein Vorbild? Nein, ich habe niemandem nachgeeifert. In der Wissenschaft geht es um Erkenntnisgewinn und Sachverstand, nicht um Personenkult. Ich habe zwar heute noch eine von mir selbst gemixte Videokassette mit den besten Natur- und Wissenschafts-Dokus im Regal stehen – mit tollen Köpfen von Heinz Sielmann bis Joachim Bublath – aber mich haben immer mehr die Inhalte interessiert als die Personen. Wie erklären Sie das Phänomen Vorbild? Wozu brauchen wir sie? Das Bedürfnis nach einem Vorbild ist ein grundlegendes psychologisches Phänomen. Menschen fühlen

sich unwohl, wenn sie im Nebel steuern oder ohne Landkarte die Welt durchwandern sollen. Sie suchen nach Fixpunkten, an denen sie sich orientieren können. Vorbilder sind so eine Art Referenzpunkt, ein Maßstab, neudeutsch Benchmark, mit dem ich mein eigenes Verhalten, meine Ziele und Handlungen abgleichen kann. Vorbilder geben Sicherheit und vereinfachen unser Leben. Gibt es eine neurowissenschaftliche Erklärung dafür? Das menschliche Gehirn ist daran interessiert, einen Plan davon zu haben, was passieren könnte. Unser Gehirn stellt permanent Hypothesen auf und gleicht unsere Handlungen und die Reaktionen der Umwelt mit diesen Hypothesen ab. Man nennt das Predictive Coding: Durch das Antizipieren, also das gedankliche

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Vorwegnehmen einer Situation, sind wir Menschen in der Lage, uns auch in einem völlig neuen Umfeld schnell zurechtzufinden. Wenn wir das Grundmuster unseres Denkens auf die Gesellschaft übertragen, dann übernehmen die Vorbilder die Funktion der Hypothese. Wir machen uns ihre Erkenntnis, ihr Verhalten oder ihre Geisteshaltung zu eigen und orientieren uns daran. Das erspart uns Zeit und gibt uns eine gewisse Form von Absicherung. Wie wichtig sind Vorbilder für die menschliche Entwicklung? Vorbilder sind ein extrem wichtiger Baustein für unser Werden. Kinder machen nach, was Erwachsene vormachen. Sie lernen durch Imitation, sie schauen sich von ihrer nächsten Umgebung Dinge ab. Stellen Sie sich vor, Sie wären ganz allein auf der Welt, ohne jegliche Richtschnur,


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