turi2 edition #12 Vorbilder

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Die Aktivistin Sônia Guajajara wehrt sich. Gegen die Zerstörung ihrer Heimat, des brasilianischen Regenwaldes, gegen Unterdrückung und Rassismus. Politikerin Jamila Schäfer zeigt das, wie ein Mensch Verletzlichkeit in politische Stärke verwandeln kann

die Stimme für ihre Communities erheben und gehört werden. Dabei hat sie sich von niemandem aufhalten lassen. Weder von Veranstalter*innen, noch von patriarchalen Strukturen innerhalb der indigenen Organisationen. Und so ist es insbesondere ihrer Beharrlichkeit zu verdanken, dass neben ihr mittlerweile viele andere indigene Frauen auf den Bühnen internationaler Konferenzen für die Interessen ihrer Communities einstehen. Diejenigen, die unter der gleichen Ungerechtigkeit leiden, dürfen sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Das ist ihre tiefe Überzeugung. Und deshalb will Sônia nicht nur indigene Interessen vereinen. Sie will, dass die Menschen begreifen, dass beim Schutz des Amazonas die Interessen der Indigenen und die Interessen der gesamten Menschheit eins sind. Denn mit dem Amazonas verlieren nicht nur die Indigenen ihr Zuhause. Die ganze Menschheit verliert ein überlebenswichtiges Ökosystem. Ihr Kampf fürs Überleben ist ein Kampf für unser aller Überleben auf diesem Planeten. Doch noch sehen zu wenige, dass Sônia und viele andere Indigene für uns alle an der Front stehen – gegen eine Wirtschaftsweise, die nicht nur sich selbst, sondern auch unseren Planeten langfristig zerstört. Sônia Guajajara gehört zu denjenigen, die von einem ausbeuterischen System am schlimmsten betroffen sind. Sie zeigt uns, wie aus dieser Verletzlichkeit politische Stärke werden kann. Sie beweist, dass Solidarität der Weg zu nachhaltiger Veränderung und politischem Erfolg ist. Das macht sie für mich zu einer großen Inspiration. Wir brauchen weniger Einzelkämpfer in der Politik – und mehr Frauen wie Sônia.

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Jamila Schäfer sitzt seit 2018 im Bundesvorstand der Grünen. Ihr Schwerpunkt: die Koordination grüner Politik im europäischen und internationalen Rahmen. Schäfer hat Soziologie und Philosophie studiert und war bis 2017 Bundessprecherin der Grünen Jugend

Fotos: PR (1), picture alliance (1)

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olitisiert, sagt Sônia Guajajara einmal, habe sie kein besonderes Erlebnis, keine spezifische Situation, sondern einfach nur ihr Sein. Ihre Existenz habe für sie schon immer bedeutet, kämpfen zu müssen. Als Indigene und als Frau. Deswegen beginnt sie eines Tages zu kämpfen. Gegen die Regenwald-Zerstörung, gegen die rassistische Entmenschlichung der indigenen Bevölkerung Brasiliens und gegen die Unterdrückung der Frau. Welche Alternative gibt es schon? Die Zerstörung des Amazonas-Regenwalds schreitet immer schneller voran. Die Nachfrage nach Soja für die billige Fleischerzeugung steigt weltweit. Die Erfüllung dieser Nachfrage bringt der brasilianischen Agrarindustrie viel Geld. Für die Profite muss der Regenwald den Anbauflächen weichen, wird verbrannt und abgeholzt. Die indigenen Bewohner*innnen, die dabei im Weg stehen, werden entrechtet, vertrieben oder gar getötet. Es ist noch nicht lange her, dass einer von Sônias engsten Mitstreiter*innen, der 26-jährige Paolo Guajajara, von Holzfällern erschossen wurde. Sônias politischer Antrieb ist für sie eine schlichte Notwendigkeit. Politik ist für sie eine Überlebensstrategie. Sônia Guajajara geht es bei dem, was sie tut, nicht um Eitelkeiten, sondern um einen Ausweg aus einer inakzeptablen Situation. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre politische Arbeit betrachtet, ist wahrscheinlich ein zentraler Grund für ihre Überzeugungskraft. Sie und die von ihr geführte Dachorganisation der indigenen Völker Brasiliens haben 305 verschiedene indigene Stämme dazu gebracht, sich im Kampf für den Schutz des Amazonas-Regenwalds zu vereinen, um für ihre Rechte einzustehen. Sie weiß, dass dies notwendig ist, damit die Interessen der Indigenen nicht länger ignoriert und gegeneinander ausgespielt werden können. Guajajara sagt, dass sie für den Kampf ums Gehörtwerden als Indigene und als Frau nicht nur aus ihrem Dorf in die Hauptstadt, sondern auch von der Küche in die Welt da draußen gezogen sei. Aber sie gibt sich nicht damit zufrieden, mit dieser einzelnen Erfolgsgeschichte feministisches Vorbild zu sein. Von Anfang an sorgt sie dafür, dass viele andere Indigene, insbesondere Frauen,


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