turi2 edition #12 Vorbilder

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Drehbuchautorin Shonda Rhimes erfindet „Grey‘s Anatomy“ und erschafft Serien-Heldinnen, die jenseits aller Stereotype leben. Chefredakteurin Bettina Billerbeck nimmt uns mit ins „Shondaland“, wo Diversität und Kreativität regieren

„Competitive women having a bit too much fun at work“ – so beschreibt die Superkreative selbst ihre Heldinnen. Die sind nicht zu 100 Prozent gute Menschen. Die Bösen sind nicht zu 100 Prozent böse – man schließt sie ins Herz, selbst die Killer und Verräter. Wenn Shonda Rhimes mit Kopfhörern auf den Ohren (sie braucht laute Musik, um sich zu konzentrieren) am Schreibtisch sitzt und ihre Charaktere entwickelt, stellt sie sich die Figuren nicht bildlich vor. Wer wie aussieht, wird erst bei der Besetzung entschieden – Rhimes legt Wert auf ein „colour blind casting“. So wird aus der resoluten Oberärztin, die blondgelockt und elfengleich hätte besetzt werden können, ein kleiner, runder, afroamerikanischer Wüterich. Ausnahmetalente, die keine klassischen Hollywood-Amazonen sind, werden – wie die asiatisch-kanadische Schauspielerin Sandra Oh – Dank Shonda zu Superstars mit mehreren Emmys. Diversität ist keine Mission im Shondaland, sie ist selbstverständlich. „Ich mag das Wort Diversity überhaupt nicht“, schreibt Rhimes in ihrem Buch „Year of Yes“, „es impliziert etwas Besonderes oder Seltenes – als wäre es etwas Ungewöhnliches, wenn man Geschichten von Frauen oder von People of Colour oder LGBTQ-Menschen erzählt. Ich habe ein anderes Wort dafür: Normalisierung. Ich normalisiere das Fernsehen. Ich will, dass es im Fernsehen so aussieht wie in der echten Welt.“ „Schreib-Nerd“ Shonda, bis heute keine Lautsprecherin der Branche, hat mit ihrer seltsamen Fantasie, mit Disziplin und Empathie die Fernsehlandschaft verändert und ein internationales Entertainment-Powerhouse geschaffen – das inspiriert mich immer wieder.

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Bettina Billerbeck ist Chefredakteurin von „Schöner Wohnen“, Serienund Streaming-Junkie und großer Fan abgründiger Familienromane – eines Tages möchte sie selbst einen schreiben, während ihr ein Neufundländer auf den Füßen liegt

Fotos: PR (1), picture alliance (1)

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ie Drehbuchautorin und TV-Produzentin Shonda Rhimes – nach eigenen Angaben ein schüchterner „Schreib-Nerd“ – hat sich vor ein paar Jahren den amerikanischen Donnerstagabend angeeignet. Die komplette Prime Time im TVSender ABC stammt aus ihrer Feder, drei Stunden Serie: „Grey’s Anatomy“, „Scandal“, „How to Get Away with Murder“. 2017 schließt Rhimes einen Exklusivdeal mit Netflix, heute ist die 50-Jährige eine der einflussreichsten und hoffentlich auch reichsten Frauen Hollywoods. Für mich ist sie Vorbild, weil sie die Kreativität neu definiert. Sie ist für sie kein verträumtes Vor-sich-hinSchreiben, während man sich eine Haarsträhne um den Finger wickelt und an Romantisches denkt. Kein Brainstorming unter den Lautesten wie in der Werbeagentur, in der Rhimes’ Karriere ihren Anfang nahm. ShondaKreativität besteht zur einen Hälfte aus Fleiß, Struktur und Organisation und zur anderen aus Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen – im ureigenen Sinne, bevor es den blöden Begriff „Storytelling“ überhaupt gab. Shonda erfindet schon als Kind Geschichten – am liebsten in der Vorratskammer ihres Elternhauses, in der sie stundenlang alleine spielt: himmelschreiende Dramen, die sich unter Tomatenmark-Tuben und Campbell-Suppendosen abspielen. Im „Shondaland“. Heute ist das der Name ihres Unternehmens, das die Welt erobert hat. „Grey’s Anatomy“ wird in 235 Ländern gesendet und in 69 Sprachen synchronisiert. Wie man es schafft, ein – vorwiegend weibliches – TV-Publikum von Italien bis Thailand mitzureißen? Indem man starke Frauen erfindet, die über viele Staffeln „mitwachsen“. Klar, die Geschichten aus dem Shondaland sind leichte Unterhaltung, haben aber durchaus mit Feminismus und Diversität zu tun. Rhimes hat ehrgeizige, leidenschaftliche, etwas merkwürdige weibliche Charaktere ins Abendprogramm gebracht – sogar ins Genre Krankenhausserie, hierzulande lange von schwarzwaldklinischer Spießigkeit geprägt. Eine Shonda-Heldin ist nicht die Krankenschwester, deren Erfolg darin besteht, den Chefarzt zu heiraten. Sie wird selbst Chefärztin (okay, vielleicht schläft sie zwischendurch mit dem Chef der Neurologie, aber nur aus Versehen...).


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