turi2 edition #12 Vorbilder

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Astrid Lindgren hat Held*innen erschaffen, wie wir sie heute brauchen. Obwohl ihr eigenes Leben keines wie aus dem Bilderbuch war. Für die Journalistin Anne-Nikolin Hagemann ist sie eine echte Mutmacherin

„Ich hielt mich nicht für berufen, den Bücherstapel noch höher anwachsen zu lassen“: Dieser Satz kommt von der Frau, deren Bücher heute eine Gesamtauflage von über 165 Millionen haben und in 106 Sprachen übersetzt sind. Muss ich mir einen Punkt aussuchen, in dem Astrid Lindgren kein Vorbild ist: Vielleicht hat sie es manchmal ein bisschen übertrieben mit der Bescheidenheit – wie so viele Frauen, wie auch ich zu oft. Beim Schreiben, sagte sie einmal, sei sie „für alle Sorgen unerreichbar“. Sie verliert ihren Mann an den Alkohol, ihren Sohn an den Krebs. Die Lust aufs Leben verliert sie nie. Bis ins hohe Alter telefoniert sie täglich mit ihren beiden Schwestern. Ihre Gespräche beginnen sie mit den Worten „der Tod, der Tod, der Tod“ – um dann über erfreulichere Dinge sprechen zu können. Auf meinem zweitliebsten Bild von Astrid Lindgren, nach dem mit dem Baum, ist sie 87 Jahre alt und zieht einem jungen Skinhead die Hosenträger lang. Sie soll ihn in einem Stockholmer Park getroffen und zu ihm gesagt haben: „Du musst mit den Skinheadereien aufhören.“ Man könne in Kinder nichts hineinprügeln, schrieb sie mal. Aber vieles aus ihnen herausstreicheln. Astrid Lindgren hat nicht nur mir klargemacht, dass man ängstlich und stark gleichzeitig sein kann. Heute gibt es so vieles, wovor man sich fürchten kann. Corona, Klimawandel. Nationalismus, Rassismus, Homophobie und Sexismus, die sich wieder ans Tageslicht trauen. Wie gut tut da eine, die die Angst herausstreichelt und flüstert: Es ist okay, nicht mehr weiter zu wissen. Such dir etwas, das Hoffnung macht. Eine Mutige, die auf die Liebe setzt.

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Anne-Nikolin Hagemann ist die stellvertretende Chefredakteurin der turi2 edition. Ihre Lieblingsgeschichte von Lindgren ist ein Märchen, das gleichzeitig traurig macht und tröstet: „Klingt meine Linde“

Fotos: Privat (1), Picture Alliance (4)

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it 67 klettert Astrid Lindgren auf einen Baum. Um die Wette mit einer Freundin, zu deren 80. Geburtstag. Aus der Krone herab ruft sie, es gebe schließlich „kein Gesetz, das alten Weibern verbietet, auf Bäume zu klettern“. Ich bin gerade 30 geworden. Wann bin ich zuletzt auf einen Baum geklettert? Wann habe ich zuletzt getan, wozu ich Lust hatte, ohne Angst vor dem Urteil anderer? Als Kind wollte ich sein wie Ronja Räubertochter. Heute wäre ich gerne wie Astrid Lindgren, zumindest ein bisschen. Als Autorin ist sie für mich Vorbild, weil ihre Figuren der Zeit voraus sind, so viel realistischer als damals üblich: mutige Mädchen, sensible Jungs. Erwachsene, die schwach sind, Fehler machen. Ihren kleinen Protagonist*innen traut sie die ganz großen Themen zu: schwierige Familienverhältnisse, Armut, Tod, Verlust, Mord. Aber immer ist da auch das Schöne. Hoffnung, Geborgenheit. Die Walderdbeeren und das duftende Heu von Bullerbü, Ronjas Mutter, die das Wolfslied singt, die Kirschblüten in den „Brüdern Löwenherz“. Dank Astrid Lindgren weiß ich: Wir brauchen das Schöne, weil die Welt manchmal schrecklich ist. Als Mensch ist sie für mich Vorbild, weil sie diesen Grundsatz auch gelebt hat. Astrid Lindgrens Leben beginnt wie im Bilderbuch. Auf einem Hof in Småland, mit drei Geschwistern und Eltern, die sich so sehr lieben, dass sie diese Liebesgeschichte später aufschreiben wird. Dann wird sie schwanger. Mit 18, von einem verheirateten Mann. 1926 ein Skandal. Sohn Lars verbringt seine ersten vier Jahre bei Pflegeeltern, Lindgren besucht ihn an den Wochenenden. Die Sehnsucht nach ihm, das schlechte Gewissen werden sie nie ganz loslassen. Und doch schafft sie es, dass Lars das Schöne im Gedächtnis bleibt. Er wird später über sie sagen: „Sie war nicht wie andere Mütter. Sie saß nicht neben dem Sandkasten auf einer Bank. Sie wollte selber spielen.“ Schriftstellerin wird sie durch eine Reihe von Zufällen. Als Tochter Karin krank im Bett liegt, erzählt Lindgren ihr von einem bärenstarken, frechen Mädchen mit roten Zöpfen. Drei Jahre später verstaucht sie selbst sich den Fuß und langweilt sich im Krankenbett. Und schreibt Pippi Langstrumpfs Geschichten auf.


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