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DAS SCHERING FORSCHUNGSMAGAZIN

HEFT 1/2005

WWW.LIVINGBRIDGES.COM

livingbridges Das Geheimnis der Regeneration Die Natur kennt Selbstheilung seit Jahrmillionen. Der Mensch beginnt ihre Möglichkeiten erst heute zu begreifen

VERHÜTUNG Expedition nach Terra incognita DISKUSSION

Regenerative Medizin – Segen oder Fluch? KREBS Im Zielkreuz der Forschung SEHNSUCHT Einfach mal durchbrennen


Innovationsträger mit acht Buchstaben? Postbote. Bringt die Technology Review.

Briefträger sind in mehr und mehr Häusern gern gesehene Menschen. »Na endlich«, freut sich der Innovations-Experte beim Empfang der Technology Review. Deutschlands neues Technologiemagazin berichtet heute über Märkte von morgen. Mit kompetenter Berichterstattung über zukunftsweisende Innovationen in Wirtschaft und Wissenschaft. Anspruchsvoll und lesbar. Probieren Sie doch Heft und Bote einfach aus. Im schnellen Schnupper-Abo gibt’s drei Ausgaben für zehn Euro:

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NEUES VERSTEHEN. TECHNOLOGY REVIEW.


Editorial

TITELBILD: NACH EINER ILLUSTRATION VON KIYOKAZU AGATA AND TOSHICO TSUCHIHASHI

W

as ein bisschen so aussieht wie Gespenster in bunten Kostümen, sind in Wirklichkeit Planarien. Den Sprung auf das Titelbild dieser Ausgabe haben die Plattwürmer geschafft, weil sie über eine einzigartige Eigenschaft verfügen: Werden sie zerteilt, können ihre zahllosen Stammzellen im Bindegewebe neue Nerven, Muskeln, Sinnesorgane oder andere Gewebe ausbilden. Wegen dieser Regenerationsfähigkeit spielt die Planarie in der Stammzellforschung eine zentrale Rolle. Weil in jedem kleinen Teil das Potenzial zu einem ganzen Wurm steckt, dient er Zellbiologen als Versuchstier, denn auch die regenerative Medizin will Organe und Gewebe des Menschen nachwachsen lassen. Die Forscher hoffen, mit Hilfe neuer Zellen Krankheiten wie Morbus Parkinson, Herzinsuffizienz oder Diabetes zu lindern. Regeneration – ein Themenkreis, mit dem sich auch Schering beschäftigt. Aus diesem Grund wurde in Kobe (Japan) ein Forschungszentrum für regenerative Medizin eingerichtet. Auch wenn dort die Zahl der Fragen die der gefundenen Antworten noch bei weitem übersteigt, ist man dennoch zuversichtlich, einer Sehnsucht des Menschen weitere Schritte näher zu kommen: durch Regeneration seine Lebensspanne und Vitalität weiter ausdehnen und verbessern zu können. Sehnsüchte – sie durchziehen die Geschichte der Menschheit, sind Traum und Ziel zugleich. Bei vielen Leistungen der Menschen waren und sind sie der Motor. Das gilt für die Eroberung des Nordpols durch Robert E. Peary ebenso wie für Goethes Dichtkunst. Aber auch auf einer bescheideneren Ebene kann Sehnsucht zu ganz erstaunlichen Ergebnissen führen – und sei es die Sehnsucht, auch im Alter noch für etwas Planarien sind perfekte Regenerationskünstler. gut zu sein. Und weil (Lebens-)Erfahrungen Nehmen Sie die Ausgabe mit in einen dunklen Raum. Sie werden sehen... überall auf der Welt gebraucht werden, entIn der Natur läuft die Regeneration allerdings anders ab: stand der Senior Experten Service. Er verWird ein Plattwurm zerteilt, entsteht aus jedem Teil eine neue Planarie mittelt – ebenso wie ähnliche Institutionen in anderen Ländern – Fachleute im Ruhestand in unterschiedlichste Projekte. Ob es darum geht, junge Chinesen das Brotbacken zu lehren oder einer Druckerei in Deutschland ein Marketing-Konzept zu erarbeiten – stets wird deren Know-how dringend benötigt. Von den Alten werden diese Einsätze oft als reiner Jungbrunnen empfunden, geradezu als Regeneration. Wie in den Vorjahren haben wir auch dieses Mal wieder versucht, die unterschiedlichen Aspekte eines Themas zu beleuchten und mit feuilletonistischen Beiträgen zu ergänzen. Aber ist uns dies auch gelungen? Die Juroren des Wettbewerbs „Best of Corporate Publishing“, die im vergangenen Jahr wieder die besten Kundenmagazine im deutschsprachigen Raum prämierten, haben livingbridges zwar erneut mit Gold im Bereich Gesundheit prämiert. Aber diese Auszeichnung reicht uns nicht: Wir möchten auch von Ihnen als Leser eine Antwort auf diese Frage bekommen. Und deshalb bitten wir Sie ganz herzlich, an unserer Leserbefragung Barbara Funk-Ott, Frank Richtersmeier teilzunehmen. Besten Dank.

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19 RALF BAUMEISTER

Krebs

18 PAUL BALTES

Produktlogistik

12 PERFEKTES TIMING

Experten f端r Altersforschung 39 DEMOGRAFIE

28 AUF DEM WEG ZUR SELBSTHEILUNG

36 WIR SIND GUT IHR BRAUCHT UNS

Expertenmeinung

Aussichten

Wert der Alten Stammzellen

34 SICH ERHOLEN

58 LESERBEFRAGUNG

Neuanfang

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Regeneration


Inhalt 20 IM ZIELKREUZ DER FORSCHUNG

46 DIE VERHÜTUNG

Therapie Expedition nach Terra incognita

52 KRAFT DER SEHNSUCHT

Sehnsucht

Motor

6 IM GESPRÄCH

Grenzen überwinden

Forschungsnetzwerke

Jugend hinterfragt Schering in Kobe

livingbridges

40 IM OSTEN VIEL NEUES

Aus der Balance Wirkstoffsuche erleichtern

44 WENN IMMUNZELLEN AMOK LAUFEN

10 NEWS 50 WIR LASSEN’S LEUCHTEN

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Keine Berührungsangst Jugendliche diskutieren über Chancen und Risiken regenerativer Medizin

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iel der regenerativen Medizin ist es vor allem, geschädigte Gewebe und Organe zu heilen, sie in ihrer Funktion zu unterstützen, den Verlust dieser Funktion zu verzögern oder gar zu verhindern. Eine umstrittene Rolle spielen dabei Stammzellen. Über Chancen und Risiken der regenerativen Medizin diskutierten Marina Pohl (17 Jahre), Jasper Metzbaur (19), Manuel Schübel (19) und Raphael Steinfeld (17) gemeinsam mit dem Schering-Forschungsvorstand Professor Günter Stock. Die vier Abiturienten waren Teilnehmer der von der Schering

Gehirnzellen zerstört, die Dopamin produzieren. Als Therapie bekommen die Patienten bisher eine Vorstufe von Dopamin. Eine weitere Behandlungsmöglichkeit sind stereotaktische Operationen. Dabei werden bestimmte Gehirnareale durch eingeführte Elektroden elektrisch stimuliert, um die Motorik zu verbessern. Wäre es aber nicht besser, man könnte Zellen, die an Ort und Stelle Dopamin zur Verfügung stellen, direkt ins Gehirn bringen? Und zwar immer so viele, wie gerade benötigt werden? Bei unserem Ansatz verwenden wir Spender-

Stiftung unterstützten Deutschen SchülerAkademie – einer Einrichtung, die regelmäßig für naturwissenschaftlich besonders befähigte und leistungsbereite Schüler Ferien-Akademien ausrichtet. Die Moderation hatte der Wissenschaftsjournalist Dr. Paul Janositz. Schübel: Wie ist der aktuelle Stand der Forschung im Bereich der regenerativen Medizin? Gibt es bestimmte Gewebetypen, bei denen sich Schering besonders engagiert? Stock: Zurzeit entwickeln wir eine Morbus-Parkinson-Therapie. Bei dieser Alterskrankheit werden

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zellen vom Augenhintergrund. Wir untersuchen dies derzeit an Patienten, und die bisherigen Ergebnisse sehen sehr gut aus. Steinfeld: Parkinson tritt vor allem im Alter auf. Gilt denn generell, dass die regenerative Medizin vor allem älteren Menschen nützt? Stock: Wir konzentrieren uns zunächst auf Parkinson, weil es theoretisch am einfachsten ist. Man hat ein bekanntes Krankheitsbild, die Diagnose ist leicht zu stellen und der Therapieerfolg zuverlässig zu messen.

MATTHIAS LINDNER/SCHERING; JOCHEN TACK/FREELENS POOL

Nützt regenerative Medizin nur älteren Menschen? Kann man mit ihr auch Geld sparen? Wo kommen embryonale Stammzellen her? Über regenerative Medizin diskutierte Schering-Forschungsvorstand Professor Günter Stock (Mitte) mit den Abiturienten Raphael Steinfeld, Manuel Schübel, Jasper Metzbaur und Marina Pohl (v. li.)


Im Gespräch

Nach Unfällen entscheiden häufig Minuten über Leben und Tod der Opfer. Doch auch wer überlebt, bleibt mitunter ein Leben lang behindert – etwa durch eine Querschnittslähmung. Mit regenerativer Medizin könnten diese Schäden möglicherweise eines Tages behoben werden.

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oder Multipler Sklerose möglich sein wird, den Patienten zu helfen. Die Betroffenen fallen bei der Diagnose meist in ein tiefes Loch und erleben dann bewusst mit, wie sich die Krankheit immer weiter entwickelt. Metzbaur: Ich fände es gut, wenn man durchtrennte Nervenverbindungen

„Ich wünsche mir auch bessere Möglichkeiten für Diagnose und Therapie von psychischen Krankheiten.“ Manuel Schübel

Stock: Bei den Volkskrankheiten beschäftigt sich die Wissenschaft vor allem mit Herz-KreislaufErkrankungen und Durchblutungsstörungen. Es wäre doch wunderbar, wenn man neue Zellen implantieren könnte, um dem Herzen die alte Kraft zurückzugeben oder neue Blutgefäße wachsen zu lassen. Ein anderes Problemfeld ist Diabetes. Es wird heftig daran gearbeitet, Inselzellen zu transplantieren, die Insulin produzieren, vielleicht sogar gezielt nach Bedarf. Pohl: Eine der häufigsten Alterserkrankungen sind Tumoren. Kann da die regenerative Medizin auch etwas bewirken? Stock: Zumindest erhalten wir ein neues Verständnis von Krebs. So haben wir gelernt, dass Tumoren entstehen können, weil die Stammzellen in diesem Fall nicht schlafen, sondern im Gegenteil „verrückt spielen“ und dann entarten. Das kann zu neuen Therapieansätzen führen. Ein anderes altersbedingtes Leiden ist die Osteoporose. Es ist doch eine wunderbare Option für regenerative Medizin, Knochen nicht

„Ich frage mich, ob ein aus meinen Zellen gezüchtetes Organ am Ende zu mir gehört oder etwas Selbstständiges ist.“ Raphael Steinfeld

re? Wie kann man die Zellen dazu bringen, ihren „Job“ zu tun? Wie wäre es, sie mit „normaler“ Chemie ein wenig zu aktivieren? Das ist gar nicht unrealistisch. Es gibt schon erste Moleküle, die das können. Steinfeld: Welche konkreten Therapien hat die regenerative Medizin außer bei Parkinson denn bereits zu bieten?

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nur erhalten, sondern auch regenerieren zu können. Janositz: Jetzt kennen wir einige Therapie-Ansätze hauptsächlich für Alterskrankheiten. Aber was können junge Menschen von der regenerativen Medizin erwarten ? Pohl: Ich wünsche mir, dass es bei Muskelerkrankungen wie Amyotropher Lateralsklerose

oder zerstörte Hirnbereiche bei Unfallopfern wiederherstellen könnte. Schübel: Meine Wünsche betreffen psychische Krankheiten, bei denen man keine direkten organischen Ursachen erkennen kann. Dass man hier bessere Möglichkeiten für Diagnose und Therapie finden könnte. Steinfeld: Für mich wäre es wichtig, dass man Organe, die bei Autounfällen verletzt werden, wieder hinkriegen könnte. Stock: Die Regeneration von Nerven wird schon erprobt, zum Beispiel bei Multipler Sklerose. Man schaut nach, ob Stammzellen bei Verletzungen aktiviert werden, und kennt bereits eine ganze Reihe von Wirkstoffen, die das fördern. Solche Versuche sind auch wichtig, um zukünftig verunglückten Autofahrern besser helfen zu können. Bei berufsbedingten Augenverletzungen gibt es interessante Stammzellforschung. Dagegen sehe ich bei psychischen Krankheiten noch lange keine Hilfe durch die regenerative Medizin, da oftmals deren Ursache noch unklar ist und eine zelluläre Beteiligung in der Regel nicht gegeben ist. Janositz: Gibt es bei Ihnen auch Ängste vor Auswüchsen der regenerativen Medizin? Oder dass die Menschen manipuliert werden? Pohl: Grundsätzlich habe ich keine Angst. Ich sehe vor allem das Potenzial, dass mir geholfen wird, wenn ich es einmal brauche.

MATTHIAS LINDNER/SCHERING

Es geht um die Frage, wie sich Zellen verhalten, wenn man sie langfristig im Organismus „deponiert“. Janositz: Herr Stock, wollen Sie nicht einmal den nüchternen Forscherblick beiseite lassen und anfangen zu träumen? Stock: Ich träume ja schon, auch wenn es Ihnen nüchtern vorkommt, und zwar von der Zelltherapie. Warum ist diese Option so interessant? Weil die Zelle gewissermaßen intelligent ist. Wenn sie sich einigermaßen wohlfühlt, weiß sie genau, was sie in der jeweiligen Umgebung zu tun hat. Sie empfängt Signale aus der Nachbarschaft und produziert genau die erforderliche Menge an körpereigenen Substanzen. Der Traum mündet für den Forscher also zunächst in einer konkreten Aufgabe: die Zellen besser kennen zu lernen, sowohl differenzierte Zellen als auch Stammzellen. Janositz: Ist der Traum damit schon zu Ende? Stock: Meine nächste Vision wäre, die eine oder andere Krankheit mit Zelltherapie behandeln zu können. Dabei könnten adulte Stammzellen, die in vielen Organen vorkommen, eine wichtige Rolle spielen. Warum sind sie dort? Warum werden sie bei bestimmten Erkrankungen nicht wach, wenn es für den Körper eigentlich nötig wä-


Im Gespräch Steinfeld: Ich mache mir Gedanken, was wäre, wenn aus eigenen Zellen ein Organ, vielleicht eine Niere, geklont würde. Ich frage mich, ist es dann ein Teil von einem selbst oder etwas Selbstständiges. Ich denke Letzteres, denn eineiige Zwillinge haben zwar das gleiche Erbgut, sind aber dennoch selbstständige Individuen. Schübel: Vor zwei, drei Jahren noch wollte man den Menschen nur über seine Gene definieren. Mittlerweile sieht man das anders. Die Vorstellung, Menschen zu züchten, die völlig hörig sind, erscheint mir absurd. Auch durch Genmanipulationen kann man Menschen nicht dazu bringen, dass sie in einer bestimmten Weise denken. Es kommt eben nicht nur auf das Erbgut, sondern auch auf die äußeren Faktoren an. Metzbaur: Ich habe keine Bedenken bei der regenerativen Medizin. Die Vision von künstlichen Menschen macht mir keine Angst. Ich ließe mir auch Implantate einsetzen, um bestimmte Funktionen des Körpers zu verbessern. Ich habe eher Angst vor Beeinflussung durch Psychopharmaka. Dass etwa eine bestimmte Partei versucht, mich auf ihre Linie zu bringen. Stock: Da gibt es längst Beispiele in der Geschichte, wo das ganz ohne Psychopharmaka funktioniert hat. Ich habe eher Angst davor, dass es etwa in den USA Medikamente geben könnte, die ich in Deutschland nicht bekommen kann, wenn ich sie brauche. Ich möchte auch nicht, dass amerikanische Forscher in exzellenten Pharmalabors arbeiten können und junge, deutsche Wissenschaftler außer Landes gehen müssen, weil sie hier bestimmte Themen nicht bearbeiten können. Schübel: Rechtfertigt denn die Hoffnung, die regenerative Medizin könne Parkinson oder Alzheimer heilen, tatsächlich die Gewinnung von Stammzellen aus einem Embryo im Blastozysten-Stadium, also einem Embryo kurz nach den ersten Zellteilungen? Sehen Sie dabei nicht die Menschenrechte betroffen? Stock: Blastozyste ist nicht gleich Mensch zu setzen. Die Möglichkeit, etwas zu werden, heißt ja noch nicht, dass es das auch wird. Nur 20 bis 30 Prozent der befruchteten Eier nisten sich überhaupt ein. Der Rest geht verloren. Metzbaur: Ab wann ist der Embryo schützenswert? Stock: Für manche ist die Grenze bereits die Verschmelzung von Ei und Spermium. Für mich hat der Embryo nach dem Zeitpunkt der Ein-

nistung den vollen Schutz. Vorher hat das befruchtete Ei zwar das Potenzial, aber erst mit Hilfe des mütterlichen Organismus, der das Ei aufnimmt, kann es zum Menschen werden. Pohl: Und wo sollen die benötigten Eizellen herkommen? Ich fürchte, dass Frauen für die Produktion befruchteter Eier bezahlt werden. Stock: Es bleiben doch genügend Eier bei der künstlichen Befruchtung übrig, die in den Kühlschränken der Fortpflanzungskliniken lagern, bis sie irgendwann vernichtet werden. Schübel: Werden die Menschen in Deutschland überhaupt in der Lage sein, die teure regenerative Medizin zu bezahlen? Stock: Natürlich sind moderne Arzneimittel teuer, die Entwicklung eines Me-

Medizin auswirken. Im akuten Notfall allerdings, bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, darf es keine unterschiedliche Behandlung geben. Darüber hinaus gibt es Beispiele wie die regenerative Medizin, die zeigen, dass selbst teure Behandlungen allen gleich nützlich sein können. Wenn es etwa eines Tages ein Medikament geben wird, das die schlafenden Stammzellen „wachküsst“, eine Arznei, die man einnehmen kann wie Aspirin, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass alle davon profitieren. Zu Tabletten haben alle Zugang. Eine Hemmschwelle, wie sie ein operatives Verfahren mit sich bringen kann, gibt es dabei nicht. Janositz: Mit Zelltherapie bei Diabetes könnte man sicher auch Kosten sparen. Stock: Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass Innovationen preiswert sein können. Dasselbe gilt für teure Herztransplantationen. Da wäre ein zelltherapeutischer Ansatz, wenn es ihn gäbe, gewiss kostengünstiger. Wie teuer ist es zudem, im Rollstuhl zu sitzen und Pflege zu beanspruchen? Wenn man alles zusammenrechnet, könnte Medikation mit Produkten der regenerativen Medizin sogar kostengünstiger sein. Schübel: Es gibt immer wieder Diskussionen

„Ich habe keine Bedenken bei regenerativer Medizin. Mehr Angst machen mir Psychopharmaka.“ Jasper Metzbaur

dikaments kostet 800 bis 900 Millionen Euro. Wir geben aber in Deutschland nur etwa eineinhalb Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Medikamente aus. Die meisten Verschreibungen entfallen zudem auf Nachahmerprodukte. Der gesamte Pharmaumsatz in Deutschland lag im Jahr 2002 mit knapp 33 Milliarden Euro deutlich unter den 37 Milliarden Euro, die mit Wellnessartikeln umgesetzt wurden. Pohl: Teure regenerative Medizin könnte aber dazu beitragen, dass sich soziale Unterschiede verstärken. Stock: In der Tat werden sich die sozialen Unterschiede noch verstärken, und das wird sich möglicherweise auch auf die

darüber, ob der Staat genug in die Forschung investiert. Soll Ihrer Meinung nach auch die regenerative Medizin mit staatlichem Geld angeschoben werden, etwa durch Förderung spezieller Forschung an Max-Planck-Instituten oder Universitäten? Stock: Wir stehen im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe. In der Tat hat sich auch der Staat die Frage zu stellen, wie viel er in diesen Bereich investieren will. Es heißt ja, dass wir im „Jahrhundert der Biologie“ leben. Die USA haben die klare Entscheidung getroffen – sie wollen dabei sein. Genauso wie England und Japan. Und auch wir sollten die Chance ergreifen und mehr für unsere Zukunftssicherung tun.

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Der diskrete Charme von Moos und Mais Pflanzen stellen auf Wunsch komplexe Medikamente her

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edes vierte neue Medikament ist heute ein so genanntes Biopharmaceutical, dessen Wirkstoffe in Bioreaktoren produziert werden: in Bakterien, Bierhefen, Insekten- oder Hamsterzellen, Tieren oder Pflanzen. Der Marktanteil dieser Wirkstoffe wächst gewaltig. Immer häufiger als Bioreaktor im Gespräch: transgene Pflanzen. Scherings Kooperationspartner Icon Genetics aus Halle kultiviert gentechnisch veränderte Tabakpflanzen für die Testproduktion dreier Biopharmaceuticals, um die neue Technologie zu evaluieren. Bislang werden diese in Bakterien- oder Zellkulturen hergestellt. Biopharmaceuticals sind für eine chemische Synthese zu groß und zu komplex. Meist handelt es sich dabei um langkettige Protein-

Proteinen geht. Außerdem bergen gentechnisch veränderte Pflanzen grundsätzlich die Gefahr, dass die veränderten Gene ungewollt auf andere Pflanzen übertragen werden. Diese Probleme haben die Forscher von Icon Genetics elegant gelöst. Eine Genausbreitung unterbinden sie, indem sie zum Beispiel die Bauanleitung für die Arzneien nicht permanent ins Erbgut der Pflanzen einbauen. Erfreulicher Nebeneffekt: Die Produktion der Wirkstoffe läuft dadurch auf Hochtouren. So sieht Dr. Jörg Knäblein, bei Schering Leiter der Mikrobiologischen Chemie, erwartungsfroh in die Zukunft. Vor wenigen Wochen erhielt er aus Halle die ersten Proteinproben. Vorausgesetzt, daß auch klinische Versuche nach Plan

moleküle, die korrekt gefaltet und mit Zuckern und anderen Molekülen besetzt sein müssen, um als Antikörper, Enzyme, Botensubstanzen oder Impfstoffe wirken zu können. Der diskrete Charme von Tabak, Mais oder Moos besteht darin, dass sie über einen aufwändigeren Syntheseapparat als Bakterien verfügen und eine Produktion unschlagbar günstig wäre. Ein weiterer wichtiger Vorteil: Die so hergestellten Medikamente sind garantiert frei von Tierkeimen. Allerdings steckt auch bei den Kräutern der Teufel im Detail: Pflanzen haben deutlich andere Zucker-Vorlieben, wenn es um die Synthese von

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verlaufen, können die aus Pflanzen stammenden, aber identischen Wirkstoffe in nicht allzu ferner Zukunft heutige Medikamente teilweise ersetzen. Zu diesem Thema ist eine aktuelle Zusammenfassung herausragender Beiträge weltweit renommierter Wissenschaftler beim Verlag Wiley-VCH, Weinheim, erschienen. Titel: „Modern Biopharmaceuticals“. Das Buch gibt einen Einblick in biopharmazeutische Forschung, Entwicklung und Anwendung von heute und morgen.

SCIENCEPHOTOLIBRARY; MATTHIAS LINDNER/SCHERING; AP/K. KASAHARA

Wirkstoffe, die aus Moos und Mais gewonnen werden, sind in der Produktion unschlagbar günstig


News And the Winners are ...

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aul Matthews aus Christchurch in Neuseeland, Dr. Thomas Schulz aus Magdeburg und Gabriele Teuscher aus Berlin. Die Drei hatten beim livingbridges-Gewinnspiel die Augen in die richtige Stellung gedreht und erkannt, was sich hinter dem Vexierbild verbarg: das Brandenburger Tor. Belohnt wurde ihr Durchblick mit einer Sony-Digitalkamera. Insgesamt hatten rund 550 Leser des Forschungsmagazins aus über 30 Ländern ihr Glück versucht und – bis auf drei – die richtige Lösung gefunden. Den weitesten Weg legten dabei die Antwortkarten aus Neuseeland, Südafrika und Brasilien zurück. Die ungewöhnlichste Reaktion kam aus Deutschland: Der Einsender hatte die richtige Antwort auf einem Rezeptvordruck eingereicht.

550 Leser erkannten das Brandenburger Tor

Tanzen und trompeten: Roboter auf der Expo

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ie sind zwar nur 1,20 Meter groß, doch kaum zu übersehen. Besucher der Weltausstellung in Aichi, Japan, werden überall mit künstlichen Menschen konfrontiert. Die Humanoiden plaudern am Empfang, putzen das Gelände, tanzen und trompeten auf der Bühne. Sie sind das augenfälligste Beispiel für künstliche Intelligenz. In diesem Bereich ist JaWeiße und rote Blutkörperchen pan führend. Robotik ist ein riesiger Zukunftsmarkt. Eine Studie der International Federation of Robotics schätzt die Zahl der künstlichen Helfer in Haushalten derzeit auf über 2,1 Millionen Exemplare. Experten prognostizieren, dass sich diese Zahl bis 2006 verdreifacht. Doch die Roboter sollen in Zukunft mehr können als unterhalten: Sie sollen vor allem dort eingreifen, wo Hilfe nötig Humanoide Roboter (rechts) auf der Expo in Japan ist. Forschungsziel ist es, dass sie in Notfällen Alarm schlagen und alte Menschen betreuen. Der Grund: Japan wird in den nächsten Jahrzehnten zunehmend überaltern. 2050 dürften Senioren über 35 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Einfach zu erreichen ist dieses Forschungsziel nicht: Wer im Haushalt nützlich sein will, muss denken können. Um das Chaos zu beherrschen, das Menschen verursachen können, sind lernende Maschinen gefragt. Doch um die zu bauen, müssen Wissenschaftler ein künstliches Gehirn entwickeln, das wie ein menschliches funktioniert. Das kann dauern. Masahiro Fujita, Leiter des Sony-Forschungslabors: „Bis wir am Ziel sind, können noch zehn Jahre vergehen.“

Auszeichnung für einen Wegbereiter der Stammzellforschung

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ür bahnbrechende wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Stammzellforschung verlieh die Schering-Stiftung den Ernst-Schering-Preis 2004 dem Molekularbiologen Professor Dr. Ronald D.G. McKay. Der seit 1991 verliehene Preis ist mit 50.000 Euro einer der höchstdotierten Wissenschaftspreise in Deutschland. Er wird für herausragende Leistungen in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung vergeben. McKay war es als Erstem gelungen, im Gehirn von Säugetieren Stammzellen zu identifizieren. Das war 1985 – zu einer Zeit, als man adulte Stammzellen ausschließlich im Knochenmark vermutete. Später konnte McKays Arbeitsgruppe zeigen, dass sich aus Stammzellen Zellen gewinnen lassen, die den Nervenbotenstoff Dopamin produzieren – eine große Hoffnung für die Therapie von Morbus Parkinson. Auch die Entwicklung von Leberzellen und Insulin produzierenden Zellen

Prof. Dr. Ronald D.G. McKay

ist McKay gelungen, der seit 1993 an den National Institutes of Health in den USA forscht. Derzeit konzentriert der gebürtige Schotte sich darauf, Routine-Prozeduren für die Nutzung von Stammzellen zu entwickeln. Er betont, dass es dabei nicht nur um direkte therapeutische Ansätze geht. Ferner könnten aus Stammzellen gewonnene Zellkulturen auch helfen, Vorhersagen über die konkrete Wirkung eines Medikaments bei einem bestimmten Menschen zu machen. Dies sei zudem sehr viel aussagekräftiger als Tierversuche.

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Radioimmuntherapie

Die Entscheidung

Die Bestellung

Der Produktionsbeginn

Die Computertomographie-Bilder zeigen die Tumorherde der Patientin. Am IEO in Mailand fällt die Entscheidung zur Radioimmuntherapie

Jede Klinik, die Yttrium-90 benĂśtigt, muss dieses bis zum Donnerstag der Vorwoche bei Schering bestellen, damit die Produktion planbar ist

Bei CIS bio international startet die Produktion von Yttrium-90. Alle Schritte erfolgen hinter dickem Bleiglas und werden ferngesteuert

DO 14:00

MO 07:30

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Perfektes Timing

Kliniken benötigen Yttrium-90 als Bestandteil eines Krebsmedikaments. Doch kaum hergestellt, zerfällt dieses Isotop schon wieder. Eine ausgeklügelte Logistik sorgt daher dafür, dass Kliniken es im rechten Moment erhalten.

MATTHIAS LINDNER/SCHERING

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aclay, ein kleiner Ort südlich von Paris. Ein trüber Montagmorgen im November. Es ist halb acht, noch ist der Himmel über dem Gelände der Schering-S.A.-Tochter CIS bio international pechschwarz. Im CIS-Labor 17 brennt bereits das Licht – früher als üblich. In der Eingangsschleuse setzen Cedric Muesser, Laurent Fournaud und Eric Gilbert ihre Papierhauben auf und schlüpfen in Schutzanzüge und Schuhüberzieher. Klassische Bedingungen für das Arbeiten in Reinräumen der Klasse D. Und doch wird es in den folgenden Stunden vor allem darum gehen – um das Arbeiten mit radioaktivem Material. In Labor 17 ist die Radioaktivität hinter dicke Bleiglasscheiben verbannt, in die drei so genannten Hot Cells. Kein Mensch arbeitet selbst in diesen hermetisch abgedichteten

Der Generator

Die Ernte

Die Kalkulation

Der erste Griff gilt dem „Generator“. Dieser Glaskolben enthält Strontium-90-Chlorid, in dem sich mit der Zeit Yttrium-90 anreichert

In einer Reihe von Lösungs- und Trennungsschritten wird das Yttrium vom Strontium separiert. Danach folgt die Reinigung

Nathalie Uhel berechnet, wie sie die gewonnene Yttrium-Lösung verdünnen muss, damit ein Milliliter genau die erforderliche Aktivität hat.

MO 07:38

MO 10:26

MO 16:03

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Radioimmuntherapie

Zonen. Alles, was dort in den nächsten Stunden passiert, erfolgt über ferngesteuerte Mechanik. Die drei CIS-Akteure hantieren mit riesigen Greifarmen, die sie von außen bedienen. Handgriffe, die absolut sicher sein müssen: Egal ob man Flüssigkeiten bewegt, Kolben öffnet und wieder verschließt, Spritzen aufzieht und wieder entleert – nie darf etwas verschüttet werden oder gar ein Gefäß umfallen. Muesser und seine Kollegen werden an diesem Montagmorgen Ytracis produzieren. Ytracis ist der CIS-Produktname für Yttrium-90-Chlorid. Schon am Donnerstag werden Kliniken in aller Welt Ytracis zur Behandlung von Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphomen (NHL) benutzen. Yttrium90 ist dann die radioaktive Komponente in einem Radioimmuntherapeutikum. An Antikörper-Moleküle mit dem Namen ibritumomab tiuxetan gekoppelt, findet es nach der Injektion in die Blutbahn des Patienten zielsicher zu den Tumorherden – und zer-

Anders als bei anderen medizinischen Einsätzen von Yttrium-90, etwa bei der Radiosynovektomie, wird in der Radioimmuntherapie ein isotopenreines Yttrium-Produkt benötigt. Es darf nur Yttrium-90 enthalten und kein Yttrium-89, das natürlich vorkommende Isotop des Metalls. Dies kann nur durch eine ganz besondere Art der Herstellung erreicht werden, wie man sie in Saclay beherrscht. Weil Yttrium-90 eine Halbwertszeit von 64 Stunden hat, lässt es sich nicht lange lagern und muss vor jeder Behandlung frisch hergestellt werden. Jeden Montag produziert CIS daher gerade so viel Ytracis, wie für Behandlungen in derselben Kalenderwoche bestellt worden sind. Heute sind es 15 Dosis-Einheiten. Alleine drei wurden vom Instituto Europeo di Oncologia (IEO) in Mailand geordert. Dort wartet auch Maria C. auf ihre Infusion. 2001 war sie an einem NHL erkrankt und zunächst durch eine Chemotherapie erfolgreich behandelt worden. Doch 2004 kam die Krankheit zurück, und Maria C. willigte in die Teilnahme an einer klini-

finden sich wenige Milliardstel Gramm Strontium-90-Chlorid“, erklärt CISMann Bruno Renat, der die Produktion beobachtet. Für das Auge völlig unsichtbar zerfallen hier sekündlich 185 Milliarden Strontiumatomkerne. Dabei entstehen 185 Milliarden Atome Yttrium-90. Im Laufe der Woche reichert sich dieses Isotop im Kolben an. Jetzt versucht Gilbert, die zuletzt entstandene Menge zu „ernten“. Vorsichtig gießt er verdünnte Salzsäure in den Kolben und löst Strontium und Yttrium darin auf. Anschließend trennt er die beiden Metalle durch einen chemischen Trick. Er hat jetzt zwei Kolben – in einem ist Strontium, im anderen das gewünschte Yttrium. Mit diesem wird in der zweiten Hot Cell, 17B, weitergearbeitet. Zunächst folgen dort Reinigungsschritte. Es muss sichergestellt werden, dass am Ende kein Strontium im Produkt ist. Wegen dessen langer

Erste Kontrollen

Die Verpackung

Die Papiere

Auch die Arbeiten im Qualitätskontroll-Labor finden hinter Schutzglas statt. Jetzt am wichtigsten: Das Produkt muss frei von Strontium sein

Eine dicke Bleihülle schützt die Umgebung vor der Strahlung, die von den fertig abgefüllten Ampullen ausgeht

Gerard Salingue ist auf die Beförderung radioaktiver Fracht geschult – und spezialisiert. Vor dem Verladen prüft er alle Transportpapiere

DI 08:42

DI 13:45

MO 18:16

stört dort mit der radioaktiven Betastrahschen Studie ein, bei der untersucht wurde, inlung, die Yttrium-90 bei seinem Zerfall abwieweit das – zu der Zeit in Italien noch nicht gibt, die bösartigen Zellen. So das Prinzip eingeführte – Radioimmuntherapeutikum 90der ersten auf dem europäischen Markt Yttrium ibritumomab tiuxetan die Wirkung eieingeführten Radioimmuntherapie. Umliener Chemotherapie verbessern kann. gendes, gesundes Gewebe bleibt wegen Der Produktionstag in Saclay beginnt mit eider kurzen Reichweite von Betastrahlen ner Extraktion. In der linken Hot Cell, dem AbDr. William Leiter Herz-Kreislauf-Forschung unbehelligt. Die Folge: maximale Zer- P. Dole, schnitt 17A, greift Eric Gilbert mit dem Telestörung der Lymphomzellen bei geringstarm nach einem Glaskolben. Der sieht leer aus, möglicher Belastung des Patienten. tatsächlich enthält er einen Schatz. „Darin be-

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Halbwertszeit von 29 Jahren darf es auf keinen Fall in den Körper des Patienten gelangen. Zwischendurch immer wieder Checks der Radioaktivität. Dazu versenkt Cedric Muesser die Ampulle mit dem gelösten Yttrium per Mini-Aufzug in eine Ionisationskammer im Boden der Hot Cell. Kurz darauf erscheint auf einem Display der Wert der aktuellen


Aktivität: 98 Gigabecquerel (GBq). Pro Sekunde zerfallen 98 Milliarden Yttrium-Atome. Ein normaler Wert in dieser Phase der Produktion. Es ist später Nachmittag, als, nach einem letzten Reinigungsschritt, die Arbeit für Muesser, Fournaud und Gilbert getan ist. Nathalie Uhel übernimmt die gereinigte Yttrium-Lösung im Abschnitt 17C, der dritten Hot Cell. Sie ist für den letzten, den pharmazeutischen Teil der Produktion zuständig. Zuerst rechnet sie aus, wie sie die Lösung verdünnen muss, damit der spätere Ampulleninhalt von einem Milliliter genau die geforderte Aktivität hat. Mit Hilfe einer Software berechnet Uhel dabei am Bildschirm, welche Aktivität sie jetzt, montags um 16.30 Uhr, einstellen muss, damit die Restaktivität am Freitag um 12 Uhr MEZ 1,85 GBq je Ampulle beträgt. Dieser Wert ist mit den Kliniken fest vereinbart. Auch Nathalie Uhel steuert mit sicheren Händen die Greifarme. Jede einzelne Dosis

Vor der Abfahrt

Destination Airport

In der Luft

Ehe die Fracht das CIS-Gelände verlassen darf, wird die Strahlung im Führerhaus und an der Ladefläche gemessen – und aufgezeichnet

Den Flughafen Charles de Gaulle als Ziel fest im Visier. Noch am selben Abend starten dort die ersten Maschinen für den weiteren Transport

Die Maschine nach Mailand hebt pünktlich ab. Im Gepäckraum befinden sich drei Kartons mit Ytracis – alle sind für das IEO

DI 14:00

DI 17:10

MI 08:05

pipettiert sie in eine der bereitgestellten Ampullen – konzentrierte Handarbeit. Neben den 15 Ampullen für den Versand füllt sie auch zwölf Gläschen für verschiedene Qualitätskontrollen im CIS-Labor ab. Das Verschließen der Ampullen mit einer Metallkappe löst sie mit einem Fußpedal aus. Wegen ihrer Dauer erfolgen die meisten Qualitätstests erst am Dienstag. Doch einige wichtige Basistests finden noch an die-

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Radioimmuntherapie

Die Ankunft

Die Dosisbestimmung

Das Auspacken

Savino Pasqualicchio hat die Fracht am Flughafen Linate abgeholt – und nun die Klinik im Süden Mailands erreicht

Dr. Giovanni Paganelli und Dr. Stefano Papi berechnen für jeden Patienten, welche Menge Ytracis an den Antikörper zu koppeln ist

Vorsichtig wird die Ampulle mit dem Ytracis ausgepackt und schließlich in die Hot Cell der Nuklearmedizin am IEO überführt

DO 13:36

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sem Abend statt. Ganz wichtig in dieser Phase: die Prüfung auf etwaige Strontium-Spuren im Produkt. Als Uhel über Lautsprecher das Okay aus dem Labor erhält, stellt sie alle Gefäße in den Autoklaven. 20 Minuten bei 121 Grad Celsius und 1,1 Bar stellen die Sterilität des Produkts sicher. An diesem Abend die letzte Tat Uhels. Dienstagmorgen. Im Labor 17 wird erneut die Radioaktivität der Ampullen bestimmt. Eine Etage höher laufen derweil weitere Qualitätskontrollen. Liegen Spuren anderer Metalle vor? Geht die Radioaktivität wirklich ausschließlich vom Yttrium aus? Ist das Produkt keimfrei? Diese und andere Fragen sind jetzt relevant. Alle agieren hoch konzentriert und schnell. „Bis mittags muss die Freigabe vorliegen “, erklärt die Leiterin der CIS-Qualitätskontrolle, Susana Eslava Farré. Denn dann fahren die Kuriere vor, die für den Versand von Ytracis sorgen. Auch Gerard Salingue erreicht an diesem Mittag mit seinem Lieferwagen das CIS-Gelände. Er ist heute zuständig für alle Auslieferungen, die über den Flughafen Charles de Gaulle verschickt werden. Dazu gehören auch die drei Ytracis-Pakete für Mailand. Die winzigen Ampullen sind inzwischen von ein Zentimeter dickem Blei umgeben und in Dosen verpackt worden. Auf den Paketen sind Aufschriften wie „Urgent Medical Use“, „UN 2915“ oder

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„Radioactive II“. Inzwischen liegt auch die Freigabe aus dem Labor vor. Salingue bekommt die Lieferpapiere und kann starten. Um diese Zeit wird die Fahrt zum Flughafen, genau am anderen Ende von Paris, über eine Stunde dauern. Salingue wählt die westliche Route, um das Zentrum der Hauptstadt zu umfahren. Er weiß, dass er schnell sein muss. Einige seiner Pakete, etwa die für Südafrika, müssen heute noch geflogen werden. Und für radioaktive Ladung gilt: Drei Stunden vor Abflug muss die Ware bei der Frachtannahme sein. Bis 17 Uhr hat er alle Airlines aufgesucht, die an diesem Tag CISFracht übernehmen. Die Pakete für Mailand übernachten in einem Stahlschrank. Der nächste Morgen. Pünktlich setzt die Maschine aus Paris auf der Landebahn von Mailand-Linate auf. Bis zur Behandlung von Maria C. sind es noch etwas mehr als 24 Stunden. Einen Tag lang werden die Pakete in einem Sicherheitsschrank des Vertragskuriers von Schering Italien aufbewahrt. „Es kommt ja nicht darauf an, Ytracis besonders schnell, sondern zur rechten Zeit auszuliefern“, erinnert der CIS-Logistiker Yves Baptiste. Donnerstag, Behandlungstag am IEO. Zum Therapieschema gehört, dass vor der Gabe von 90-Yttrium ibritumomab tiuxetan eine Infusion des Antikörpers Rituximab erfolgen muss. „Um die frei in Blut und Lymphe zirkulierenden BZellen zu blockieren“, erklärt der IEO-Onkologe Dr. Giovanni Martinelli. „ So stellen wir sicher, dass der radioaktiv markierte Antikörper im zweiten Behandlungsschritt wirklich nur an solche Zellen andockt, die sich in den Tumorzellen in den Lymphknoten befinden.“

Während in der zweiten Etage die Rituximab-Infusion läuft, fährt Savino Pasqualicchio vor dem IEO vor. In seinem Lieferwagen befinden sich die drei Ytracis-Pakete aus Saclay. Gegen Mittag nehmen sich Dr. Giovanni Paganelli, der Leiter der Nuklearmedizin, und der Chemiker Dr. Stefano Papi der radioaktiven Fracht an. Jetzt gilt es, das Yttrium-90 an den Antikörper zu


Die Kopplung

Auf dem Weg

Die Behandlung

Die eigentliche chemische Reaktion: Yttrium-90 wird an den Antikörper gekoppelt. Jetzt liegt das eigentliche Präparat vor

Das Medikament wird nun ins Behandlungszimmer gebracht. Rechtzeitig zum optimalen Infusionszeitpunkt

Drei Tage nach seiner Produktion erreicht das Yttrium sein endgültiges Ziel – den Körper der Patientin. Dort bestrahlt es gezielt den Tumor.

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koppeln und für die Infusion vorzubereiten. Routine für die IEO-Nuklearmediziner. Wie bei jeder NHL-Therapie ist auch hier der erste Schritt Rechenarbeit. Aus dem Körpergewicht der Patientin ergibt sich in diesem Fall zugleich die benötigte Radioaktivität und damit die Menge an radioaktiv markiertem Antikörper, die zu infundieren ist. Auch Paganelli und Papi arbeiten in einer Hot Cell, die durch dickes

Bleiglas von der Umgebung getrennt ist. Paganelli entnimmt den Ampullen die berechneten Mengen, gibt sie in Reaktionsgläschen, in die er zuvor einen Puffer vorgelegt hat, um den pHWert zu stabilisieren. Jetzt muss alles schnell gehen. Paganelli setzt die berechnete Menge Antikörper mitsamt dem Bindeglied tiuxetan hinzu. Kurzes

Schwenken, dann Warten. Bis alle YttriumAtome ihre Bindungsstellen am Antikörper gefunden haben. Abschließend noch zwei Kontrollen: eine auf die Radioaktivität, eine zweite, chromatographische, um sicherzustellen, dass die Menge an ungebundenem Yttrium einen bestimmten Grenzwert nicht überschreitet – und eine optimale Dosis gewährleistet ist. Alle Werte sind okay. Die Lösungen sind zur Infusion bereit, auch die für Maria C. Papi bringt das fertige Präparat in die erste Etage des IEO. Kurze Zeit später trifft Maria C. dort ein. Die Stimmung ist gut. Dr. Paganelli scherzt sogar ein bisschen mit der Patientin, bei der bereits ein Venenzugang gelegt ist. Der Nuklearmediziner muss nur noch den Schlauch, der aus dem PräparateFläschchen herausführt, anschließen. Über einen Tropf leitet er dann physiologische Kochsalzlösung zu – und spült das Präparat schließlich in die Vene der Frau. Mit am Bett steht Annalisa Rossi, physikalisch-technische Assistentin am IEO. Mit einem Geigerzähler fährt sie immer wieder über den Schlauch, bis hin zum Oberkörper – so lange, bis die gesamte Dosis verabreicht wurde. Ein komisches Gefühl, Radioaktivität infundiert zu bekommen? Maria C. schüttelt den Kopf. Sie merke nichts. Schließlich gibt Rossi das Zeichen. Der Geigerzähler meldet keine erhöhten Werte mehr. Das gesamte Medikament ist nun im Körper, Paganelli beendet die Infusion. Das Yttrium, vor drei Tagen erst hergestellt, ist Karl Hübner am Ende seiner Reise.

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Lasst die Alten ran! Wie Defizite zu Quellen der Innovation werden

HANS SCHERHAUFER/MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR BILDUNGSFORSCHUNG

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Professor Paul B. Baltes ist seit 1980 Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Der Psychologe und Gerontologe erforscht vor allem die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne und das Altern auch im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Entwicklung. Baltes ist Träger internationaler Preise und Autor zahlreicher Veröffentlichungen.

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ltern hat viele Facetten – körperliche, geistige, soziale und historische. Wer nur an Verfall denkt, der verkürzt die komplexen Wechselwirkungen zwischen Biologie und Kultur. Auch haben ältere Menschen mehr positive Eigenschaften, als die Trias Würde, Lebenserfahrung, Weisheit nahe legt. Im Alter werden Menschen oft in einer profunden Weise einsichtsvoller. Alterswissen bedeutet ein Verständnis für Variabilität, für kulturelle und persönliche Diversität. Auch der Umgang mit Unsicherheit und fehlender Vorhersagbarkeit ändert sich. Während die jüngere Generation daran glaubt, dass die Zukunft kontrollierbar und vorhersagbar sei, denken Ältere eher darüber nach, was zu tun ist, wenn es nicht kommt wie erwartet. Für das Unvorhersehbare bereit zu sein ist eine Facette guter Altersvorsorge, ökonomisch wie psychologisch. Wer also die Lösung schwieriger menschlicher und gesellschaftlicher Probleme nur mit 25- oder 55-Jährigen sucht, wählt sicher nicht den optimalen Zugang. Der Jugendwahn selbst ist riskanter als die alternde Gesellschaft. Wenn wir stattdessen emotionale und soziale Kompetenz zu wichtigen Qualifikationen zählen, können ältere Menschen produktiv sein. Heute ist ein 70-Jähriger im Vergleich zu den Alten vor 25 Jahren etwa fünf Jahre „jünger“, was sein allgemeines körperliches und mentales Funktionsprofil betrifft. Umso paradoxer, dass Menschen in den meisten Ländern heute etwa fünf Jahre früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden als noch vor hundert Jahren. Dabei spielen auch motivationale Faktoren eine Rolle. Alte wollen sich mit Dingen beschäftigen, die weniger körperliche Vitalität und mehr emotionale Intelligenz erfordern. Zeitliche Flexibilität ist ein weiteres wichtiges Kriterium. Es sind eher gesellschaftlich festgefügte Strukturen, die viele Ältere zwingen, entweder in ihrem angestammten Job zu verharren oder in Ruhestand zu gehen. Die Betroffenen werden oft nicht gefragt, und häufig empfinden sie die Idee des lebenslangen Lernens auch als Bedrohung. Im Leben länger zu arbeiten erfordert einen stetigen Prozess der Neuorientierung. Heutige Hochschulen sollten daher nicht nur auf 20- bis 25-jährige Studenten ausgerichtet sein. In Zukunft werden genauso viele 30-, 40-, 50- und auch 60-Jährige über den Campus laufen, wobei sich dort Inhalte, Form und Zeitfenster des Studierens verwandeln müssen. Wer Lernen über das gesamte Erwachsenenleben verteilt, der braucht völlig andere Hochschulkonzeptionen. Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen sind vor allem lebenslange Neugier sowie der Glaube, dass man es schaffen kann. Entwicklungspsychologen nennen diese Kompetenzen lebenslange Ich-Plastizität. Aus dem, was früher Weiterbildung hieß, könnte etwas werden, was man eher als berufliche Renaissance bezeichnen sollte. Natürlich bleibt dennoch richtig, dass Altersstärken endlich sind wie das Leben überhaupt. Beginnend im letzten Lebensdrittel kommt es schon aufgrund biologischer Gegebenheiten zu einer engeren Koalition zwischen Körper und Geist. Ich habe einmal in den Schweizer Bergen Wanderer beobachtet. Die Älteren hörten auf zu reden, sobald ein Felsbrocken im Weg lag, und nahmen ihr Gespräch erst wieder auf, wenn das Hindernis umgangen war. Jüngere sprangen einfach über den Stein und redeten dabei weiter. Im Alter muss einfach mehr Geist in körperliche Prozesse investiert werden. Die Forschung zeigt aber, dass körperliches Training diesen Anteil senken kann,

Ältere Menschen können auch produktiv sein. Sie haben lediglich andere Kompetenzen und Präferenzen


Experten

sodass dann ein größerer Teil der Ressourcen für das Geistige zur Verfügung steht. Ein 80-Jähriger hat heute in einer Industriegesellschaft noch eine statistische Lebenserwartung von acht Jahren – doppelt so viel wie vor drei Jahrzehnten. Auf lange Sicht werden nur erhebliche Fortschritte der Biomedizin helfen, auch dieses „vierte Alter“, die damit einhergehende Verletzlichkeit und Widerborstigkeit in eine „belle époque“ des Lebens zu transformieren. Auch deshalb muss die Alternsforschung ein Eckpfeiler der Wissenschaft im 21. Jahrhundert sein. „Hoffnung mit Trauerflor“ wäre mein Motto für die alternde Gesellschaft. Letztlich ist jede Kultur aus der notwendigen Kompensation biologischer Nachteile entstanden. So gesehen könnten das Alter und seine Defizite zu künftigen Quellen des Fortschritts werden.

Wie alt können wir werden? Wie alt wollen wir werden?

Die Biochemie des Alterns besser zu verstehen, könnte auch das Streben beflügeln, noch älter zu werden

GERD GEORGE

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ie Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der medizinischen Versorgung haben in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Ländern für eine stetig gestiegene Lebenserwartung gesorgt. Immer mehr Menschen werden immer älter. Doch das maximal erreichte Alter scheint sich dabei kaum zu verändern. Tatsächlich sehen Wissenschaftler eine biologische Obergrenze bei etwa 120 Jahren. Aber warum eigentlich? Leonard Hayflick erkannte bereits 1961, dass normale Zellen nur für eine begrenzte Anzahl von Teilungen programmiert sind. Für dieses HayflickLimit sind die Enden der Chromosomen verantwortlich. Mit jeder Zellteilung werden diese Telomere kürzer. Längere Telomere bedeuten daher Hinauszögern des reproduktiven Limits – und damit eine höhere Lebenserwartung. Inzwischen kennt man weitere wichtige Mechanismen. So sinkt mit zunehmendem Alter die Aktivität von Reparaturmechanismen, die die Zellen zur Bekämpfung von Stresseinflüssen wie Chemikalien oder UV-Strahlen benötigen. Die Folge: Es schleichen sich Fehler in DNA und Proteinen ein. Daher ist Alter auch der bedeutendste Risikofaktor für die Entstehung von Krebs, Demenz oder Herzkreislauferkrankungen. Eine zentrale Rolle für die Steuerung von Alterung spielt der Insulin-/IGF-Signalweg (IGF=Insulin Growth Factor). Zum Teil wird dabei die Expression von Antistressgenen unterdrückt, vermutlich um dem Organismus zu helfen, Energie zu sparen. Bleiben diese Gene aber auch dann „ausgeschaltet“, wenn eine Reparatur nötig wäre, schreitet die Alterung voran. Erst kürzlich wurde beim Insulin-Signalweg die Schlüsselrolle von SGK-1 entdeckt. Dieses durch Hormone aktivierbare Enzym hält direkt den Schalter für ein lebensverlängerndes genetisches Programm auf „aus“. Versuche haben gezeigt, dass eine Mutation des SGK-1Gens – und damit die Aufhebung dieser Blockade – die Lebenserwartung der jeweiligen Zellen deutlich erhöht. So lebt der Fadenwurm C. elegans dann fast doppelt so lang. Die Kombination mit einer weiteren genetischen Manipulation in einem anderen Signalweg steigert die Wirkung sogar auf das Vier- bis Sechsfache. Auch der Mensch besitzt ein dem SGK-1 ähnliches Enzym, das SGK. Die Chancen sind daher gegeben, dass auch hier auf ähnliche Weise lebensverlängernde Effekte aktiviert werden könnten. Ist das der künftige Weg zu ewiger Jugend? Vielleicht. Aber wichtiger ist es, das Wissen über das Altern von Zellen dafür zu nutzen, altersbedingte Krankheiten besser interpretieren und – vielleicht – heilen oder vermeiden zu können. Die Idee, 150 oder 200 Jahre alt zu werden, sollte sicher nicht im Vordergrund stehen. Grundsätzlich auszuschließen ist es gleichwohl nicht, dass derlei Kenntnisse auch das Streben beflügeln, noch älter zu werden.

Professor Ralf Baumeister leitet den Lehrstuhl für Bioinformatik und Molekulargenetik am Institut für Biologie 3 der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort werden pharmakologische Targets mittels C.-elegans -In-vivo-Verfahren entwickelt. Baumeister ist Träger diverser industrieller Forschungspreise. Außerdem ist er im Gründungsdirektorium des Freiburger „Zentrums für Biosystemanalyse“ (ZBSA), das in diesem Jahr seine Arbeit aufnehmen wird.

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Krebstherapie

Im Zielkreuz der Forschung Jahrzehnte der biomedizinischen Forschung haben zu einem besseren Verständnis der molekularen Unterschiede zwischen Krebszellen und gesunden Zellen geführt. Dies hat auch die Entwicklung gezielter Krebstherapien vorangetrieben.

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Jahr später, im Juni 2004 in New Orleans, verkündete sein Kollege Dr. Roy S. Herbst von der University of Texas, USA: „In den vergangenen paar Jahren hat eine zunehmende Zahl von Substanzen, die Krebszellen gezielt attackieren und zerstören sollen, ihre Effektivität bewiesen.“ Als einer der ersten dieser rasch als „Wunderwaffen“ gelobten Stoffe gelangte im Jahr 2001 Imatinib auf den Markt. Der Wirkstoff hilft gegen die chronisch myelotische Leukämie (CML), die für 15 bis 20 Prozent aller Blutkrebse verantwortlich ist. Bei CML erzeugen mutierte Knochenmarksstammzellen in Unmengen ein neues Eiweiß, das als so genannte Tyrosinkinase wichtige Signale innerhalb der Zelle überträgt. Leider sind es die falschen Signale, denn die Stammzellen lösen eine unkontrollierte Vermehrung von Leukämiezellen aus und verlieren die Fähigkeit zur Apoptose, dem physiologischen Zelltod. Imatinib blockiert eine Mulde in der Tyrosinkinase, die ein bestimmter Bote ausfüllen muss, um sie zu aktivieren. Das Eiweiß bleibt inaktiv, die Krebszelle kann sich nicht mehr vermehren und stirbt.

Krebs als genetische Krankheit Am Anfang eines bösartigen Tumors stehen meist Mutationen: Sie können zum Beispiel Onkogene aktivieren, die das unkontrollierte Wachstum einer Zelle fördern. Sie können aber auch Tumorsuppressorgene beschädigen, die Fehler in der Erbsubstanz DNA entdecken, eine mutierte Zelle an ihrer Vermehrung hin-

OSTERWALDER´S ART OFFICE

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ie Diagnose Krebs führt jeden Menschen an seine psychischen Grenzen. Und kaum ist der erste Schock verarbeitet, beginnt für viele Patienten ein harter Kampf. Die traditionellen Krebsbehandlungen – Strahlenoder Chemotherapie – wirken selten selektiv genug. Nebenwirkungen wie Haarausfall, Übelkeit oder Entzündungen sind daher häufig. Ärzte nehmen sie in Kauf, weil es meist keine andere Hilfe gibt. Seit Jahrzehnten suchen deshalb Biomediziner auf der ganzen Welt fieberhaft nach den entscheidenden Achillesfersen einzelner Krebsleiden. Es geht um Zielstrukturen, die typisch für Tumorzellen sind und sie unterscheidbar von gesunden Zellen machen. Das können etwa intrazelluläre Signalstoffe oder Moleküle auf den Zelloberflächen sein. Sie liefern Ansatzpunkte für zielgenaue Medikamente, die möglichst nur den Krebs bekämpfen. Der Traum heißt „gezielte Krebstherapie“. Und er ist in Ansätzen schon Realität, wie man alljährlich auf der wichtigsten Krebskonferenz der Welt, dem Jahrestreffen der Amerikanischen Gesellschaft klinischer Onkologen ASCO, bestaunen kann. 2003 in Chicago sagte dort Professor Branimir Sikic, Onkologe von der Stanford University, USA, enthusiastisch: „Die Krebstherapie hat die Ära der wissensbasierten Zielstruktursuche erreicht.“ Ein


Um sich mit Nährstoffen versorgen zu können, senden Tumorzellen Botenstoffe aus, die die Neubildung von Gefäßen anregen. Krebsforscher suchen nach Wegen, diese Signale abzufangen

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Unempfindlich gegen Botschaften. Körperzellen sind soziale Wesen, hören aufeinander, tauschen ständig chemische Botschaften aus, um Gewebegrenzen zu respektieren und gute Nachbarschaft zu pflegen. Eine Tumorzelle lernt, diese hemmenden Signale der Nachbarn zu ignorieren. Diese Eigenschaft nennt man gestörte Kontaktinhibition. Nur so können bösartige Wucherungen im Zellverband entstehen.

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Flucht vor programmiertem Zelltod. Bevor sich eine Zelle teilt, wird ihr Erbgut auf Schäden untersucht, damit keine Mutationen vererbt werden. „Wächter“Proteine leiten Reparaturprozesse ein und erlauben nur Zellen mit korrigiertem Erbgut die Zellteilung. Erweisen sich genetische Schäden als irreparabel, schicken die Kontrolleure versehrte Zellen in den so genannten programmierten Selbstmord (Apoptose). Da Krebszellen eine Vielzahl von Mutationen anhäufen, müssen sie dieses natürliche Kontrollprogramm lahm legen. Nur so können sie sich trotz massiver genetischer Instabilität ungestört vermehren.

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Abnorme Gefäßbildung. Wird ein Tumor größer, droht der chaotisch wachsenden Zellmasse in seinem Inneren in der Regel der Kollaps. Es herrscht akuter Sauerstoffmangel, die Nährstoffversorgung schrumpft, es kommt zur Krise und zu massivem Zellsterben. In dieser Notlage gelingt es einigen Tumorzellen, sich eine eigene Blutversorgung zu sichern. Mittels so genannter angiogenetischer Faktoren zwingt der Tumor umliegende Gewebe, neue Blutgefäße sprießen zu lassen. Dem Krebswachstum sind dann kaum noch Grenzen gesetzt.

FOCUS

ALLE FOTOS: M. LINDNER / SCHERING

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Tarnkappe gegen die Immunabwehr. Ständig sucht die Immunabwehr nach Zellen, die anders agieren als gewöhnlich. Diese werden attackiert und wie fremde Eindringlinge behandelt. Krebszellen sind für Immunzellen meistens erkennbar, jede Sekunde eliminiert die Immunabwehr entartete Zellen. Manche bösartigen Tumoren aber setzen sich raffinierte molekulare Tarnkappen auf. Diese täuschen der Immunabwehr zelluläre Normalität vor, wo in Wahrheit aggressiver Krebs lauert.

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Unbeschränktes Vermehrungspotenzial. Die Lebenszeit einer normalen Zelle ist begrenzt. Maximal 52 Mal teilt sich eine Körperzelle, bevor sie von einem genetischen Programm in den Zelltod geschickt wird. Krebszellen dagegen sind potenziell unsterblich. Sie beherrschen den Trick, wie man die natürliche Lebenszeit verlängert. Bildlich gesprochen stellen sie bei jeder Zellteilung die Lebensuhr, die das Teilungsalter von Zellen zählt, zurück.


Krebstherapie

Die sieben Schritte zum Tumor

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Produktion eigener Wachstumssignale. Zellen im Organismus teilen sich nicht ohne Erlaubnis. Sie benötigen Wachstumsbefehle des Körpers, die über komplexe Signalketten ins Innere der Zellen vermittelt werden. Krebszellen müssen diese Signale imitieren, um überhaupt wachsen zu können. Indem sie die Wachstumsampel innerhalb der Zelle quasi ständig auf Grün stellen, erteilen sich Krebszellen selbst die Erlaubnis, mit unkontrollierten Teilungen fortzufahren.

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Eindringen in Gewebe und Metastasierung. Eine Fülle von Kontaktmolekülen und Botenstoffen sorgt dafür, dass keine Zelle ihr Gewebe ohne Erlaubnis der Nachbarn verlässt. Krebszellen werden dann gefährlich, wenn sie lernen, sich aus ihren natürlichen Grenzen zu lösen und gezielt in andere Gewebe einzuwandern. Die dabei entstehenden Metastasen befallen oft lebenswichtige Organe und bilden aggressiv wuchernde Tumoren.

dern oder versuchen, die Schäden zu reparieren. Und sie können Gene betreffen, die den letzten Schritt des körpereigenen Krebsschutzes auslösen: den zellulären Selbstmord Apoptose. Weil diese Mutationen, direkt oder indirekt, Spuren hinterlassen, machen sie die Krebszellen angreifbar. Etwa mit Antikörpern, die typische Strukturen auf der Oberfläche der Krebszellen erkennen und daran binden, oder durch die gezielte Wiederherstellung mutierter zellulärer Selbstschutzmechanismen. Einen besonders eleganten Weg haben Forscher nicht nur im Fall Imatinib erfolgreich beschritten: Wissen sie, welche molekularbiologische Störung des zellulären Gleichgewichts den Krebs verantwortet, suchen sie chemische Verbindungen, die die bedrohlichen Mechanismen unterbrechen. Bei etwa 20 bis 30 Prozent der bösartigen Brusttumoren sowie bei einigen anderen Krebsarten weiß man zum Beispiel, dass auf der Oberfläche der Krebszellen zu viele HER2-Rezeptoren sitzen. Diese sprechen auf Wachstumsfaktoren an und senden dann Wachstumssignale ins Zellinnere. Eine übermäßige Exprimierung von HER2 sorgt daher zugleich für eine zu starke Zellteilung. Seit wenigen Jahren gibt es als gezieltes Medikament einen biotechnisch erzeugten Antikörper namens Trastuzumab. Er blockiert HER2Rezeptoren und kann so bestimmten Patientinnen helfen.

Synthetische Moleküle Auch der epidermale Wachstumsfaktorrezeptor EGFR, ein Kollege von HER2, kann solide Tumoren auslösen, wenn Zellen ihn vermehrt exprimieren. Und auch dort konnten Biomediziner einen wirksamen Antikörper kreieren. Er heißt Cetuximab und wird wie Trastuzumab intravenös verabreicht. Derzeit entwickeln Forscher synthetische Moleküle, die EGFR auf anderen Wegen angreifen und oral eingenommen werden können. Die Angriffsziele auf der Zelloberfläche oder in den direkt nachgeschalteten Signalketten haben indes einen Haken: Mit fortschreitender Entwicklung ist ein Tumor immer weniger auf Signale von außen angewiesen. Er wird leicht resistent. Daher hoffen Onkologen zunehmend auf Ziele, die gleichzeitig in verschiedene molekulare Reaktionswege eingreifen. Ins Visier gerät der Zellkern, wo die Erbsubstanz lagert. Dabei interessieren genau jene Vorgän-

ge, die darüber entscheiden, ob ein Gen aktiviert oder unterdrückt wird. Dass dieser Ansatz funktioniert, zeigt die erfolgreiche Therapie einer seltenen Form der Leukämie, der akuten Promyelozyten-Leukämie. Bei ihr lagern sich zwei DNA-Stücke falsch aneinander. Dadurch bildet die Zelle Krebs auslösende Proteine, die ihre weitere Differenzierung verhindern. Mit Hilfe einer natürlichen, dem Vitamin A verwandten Substanz, der AllTrans-Retinolsäure (ATRA), lässt sich die Exprimierung dieser Proteine blockieren. Die Zelle differenziert und altert wieder und stirbt schließlich. Vor kurzem wurde die fälschliche Exprimierung der gleichen Proteine auch mit manchen Formen von Brust-, Prostata- und Vorstufen von Dickdarmkrebs in Verbindung gebracht. ATRA wird derzeit in einer Kombinationsbehandlung bei Patienten mit Prostatakrebs klinisch geprüft. Im Zellkern machten die Forscher ein weiteres Ziel aus: die Histone. Dies sind kugelförmige Moleküle, um die sich die DNA wickelt. Sie verpacken die Erbsubstanz auf kleinstem Raum und tragen zur Entscheidung bei, welche Gene gerade abgelesen werden und welche nicht. Störungen des Histonsystems können deshalb die Teilung, Reifung und den Tod von Zellen beeinflussen – und somit Krebs auslösen. Jetzt wollen Krebsforscher die Histone von Tumorzellen gezielt verändern. Am besten kennen sie den chemischen Mechanismus der Acetylierung, bei dem sich Acetylgruppen an die Histone anlagern. Er gilt als Schlüsselfaktor bei der Regulierung der Genaktivität, denn eine hohe Acetylierung führt zu einer schwachen Bindung des Erbguts an die Histone, was das Ablesen von Genen erleichtert. Onkologen entdeckten Enzyme, mit denen Krebszellen die Histonacetylierung rückgängig machen und so das Ablesen genetischer Information, insbesondere von Tumorsuppressorgenen, unterdrücken. Zudem synthetisierten sie

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Krebstherapie

Wege der gezielten Krebstherapie

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dungsstoff gezielt in die Nähe der Tumoren. Das erhöht die gewünschte Wirkung und verringert die Nebenwirkungen. Diese zielgerichteten Immunzytokine werden derzeit im Rahmen einer Kooperation zwischen Schering und Philogen mit Sitz im italienischen Siena entwickelt. Eine besonders viel versprechende Gruppe neuer Krebsmedikamente sind solche, die die Neubildung von Blutgefäßen verhindern, ohne die sich kein Tumor mit Nährstoffen versorgen

ring. Außerdem fand man eine stimulierende Wirkung auf die körpereigene Immunantwort gegen den Tumor.

kann. Derzeit stecken mehr als 50 solcher Neo-Angiogenese-Hemmer in den Entwicklungspipelines der Pharmafirmen, darunter auch ein Kandidat von Schering und Novartis. Sein Name: PTK/ZK. Ein Antikörper, der einen bestimmten Gefäßwachstumsfaktor aus der VEGF-Familie blockiert, ist bereits zur Behandlung von Patienten mit Darmkrebs zugelassen. Schon heute belegen Studien verlängerte krankheitsfreie Überlebenszeiten und eine verbesserte Lebensqualität der Patienten dank der neuen Mittel. Der Begriff „Wunderwaffen“ scheint jedoch übertrieben. Jede der neuen Substanzen allein führt entweder nur selten zur Heilung oder heilt nur einen kleinen Teil der Patienten. Die wahre Hoffnung beruht daher auf einer neuen Strategie: In Zukunft werden Ärzte Krebs mit vielen kombinierbaren Werkzeugen an möglichst zahlreichen Angriffspunkten entweder gleichzeitig oder nacheinander bekämpfen. Dass sie diese Möglichkeit haben werden, verdanken sie der jahrelangen, unermüdlichen Suche der Biomediziner nach den Achillesfersen Peter Spork des Krebses.

Tumormikromilieu im Visier

MAURITIUS IMAGES

Mit drei Ansätzen attackieren Onkologen die Achillesfersen des Krebses: ■ Sie erzeugen große Moleküle wie Antikörper, die auf der Oberfläche von Tumorzellen an typische Eiweiße mit einer wichtigen Funktion binden und sie dabei verändern. Viele dieser Mittel blockieren zum Beispiel Rezeptoren für Wachstumsfaktoren, deren übermäßige Exprimierung Krebsauslöser war. Dadurch kann der Krebs weniger Wachstumssignale empfangen und wuchert langsamer oder gar nicht mehr. ■ Sie suchen Strukturen, die Krebszellen oder Zellen in deren direkter Umgebung viel häufiger auf ihrer Oberfläche tragen als andere Zellen. Dann entwickeln sie Mittel, meist biotechnisch erzeugte Antikörper, die an diese Strukturen binden und gleichzeitig Krebs bekämpfende Substanzen dorthin transportieren. So reichern sie Krebszerstörer wie Chemotherapeutika, Gifte oder radioaktive Strahler direkt beim Tumor an; gesundes Gewebe bleibt verschont. Ein Beispiel ist Yttrium-90 ibritumomab tiuxetan, bei dem radioaktiv strahlendes Yttrium an einen Antikörper gekoppelt wird. ■ Sie suchen Verbindungen mit niedrigem Molekulargewicht, die anstelle von Botenstoffen in die natürlichen Signalwege der Krebszellen eingreifen. Die Verbindungen blockieren außerhalb oder innerhalb der Krebszellen Enzyme oder Rezeptoren, die dort besonders aktiv oder häufig sind. Die meisten dieser Wirkstoffe können als Tablette eingenommen werden.

Stoffe, die eben diese Histondeacetylasen hemmen, die HDAC-Inhibitoren. Sie gelten als viel versprechende neue Krebsmittelgeneration. Gleich mehrere befinden sich bereits in klinischen Studien. Einer davon ist MS-275, ein neuartiger oral verfügbarer synthetischer HDAC-Inhibitor, der derzeit zur Behandlung solider Tumoren getestet wird. „Der Stoff induziert nicht nur Apoptose, sondern scheint die Tumorzellen auch ein Stück weniger bösartig und für andere Therapien anfälliger zu machen“, sagt Dr. Klaus Bosslet, Leiter der Krebsforschung bei Sche-

Ist eine Zelle erst zur Krebszelle mutiert, beginnt sie, ihre Umgebung für ihre Zwecke zu missbrauchen. Sie kann zum Beispiel Stoffe erzeugen, die sie vom Immunsystem des Körpers abschirmen, das ansonsten durchaus in der Lage ist, Krebszellen zu erkennen und zu vernichten. Und sie sendet Signale aus, die das Wachstum von Blutgefäßen anregen. Ohne Durchblutung bekommt ein größerer Tumor nämlich keine Nährstoffe mehr und muss verhungern. An beiden Stellen versuchen Krebsforscher, anzugreifen. So schalten sie mit entzündungsfördernden Botenstoffen den immunologischen Selbstschutz der Tumoren aus. Interleukin 2 (IL-2) ist ein solcher Stoff, der als Immuntherapie für metastasierende Nierenzellenkarzinome eingesetzt wird. Um Nebenwirkungen zu minimieren, wird IL-2 an einen humanisierten Antikörper angebunden, der selektiv den Kontakt zur Substanz ED-B-Fibronectin sucht. Weil diese nur dort existiert, wo im Körper das Wachstum neuer Blutgefäße angeregt werden soll, also vor allem in der Nähe von Krebszellen, transportiert der Antikörper den Entzün-


Edelsteine in der Pipeline von Schering PTK/ZK ist ein oral verfügbarer Multi-VEGF-Rezeptor-Tyrosinkinase-Hemmer, der die Tumorangiogenese und die Lymphangiogenese durch die Hemmung der bekannten VEGF-Rezeptoren blockiert. Da PTK/ZK nicht nur auf einen einzigen VEGF-Rezeptortyp, sondern auf alle bekann-

ten VEGF-Rezeptoren wirkt, könnte das Medikament einen neuen Therapieansatz zur Hemmung des Tumorwachstums und der Metastasenbildung darstellen. Erste Ergebnisse einer Phase-III-Studie (CONFIRM 1) haben gezeigt, dass PTK/ZK das Risiko des Fortschreitens der Krankheit bei Patienten mit metastasiertem Dickdarmkrebs reduzieren könnte, wenn es als Erstlinientherapie gemeinsam mit einem FOLFOXChemotherapie-Regime verabreicht wird. Im Rahmen einer dezentralen Bewertung durch die jeweiligen Prüfärzte vor Ort zeigten mit PTK/ZK behandelte Patienten eine statistisch signifikante Reduktion des Progressionsrisikos um 17 Prozent. Die zentrale Auswertung der Befunde bestätigte diesen positiven Trend, allerdings nicht mit statistischer Signifikanz. CONFIRM-1-Ergebnisse zum Gesamtüberleben werden für die zweite Hälfte des Jahres 2006 erwartet. Weitere Daten aus der Phase-III-Entwicklung

wird auch die CONFIRM-2-Studie Mitte 2006 liefern. Schering entwickelt PTK/ZK in Phase III gemeinsam mit Novartis. ZK 304709, ein oraler Multi-target Tumor Growth Inhibitor™ (MTGI), scheint durch Inhibierung sowohl des Zellzyklus als auch der tu-

morinduzierten Gefäßneubildung Apoptose auszulösen. Dies könnte Tumorausmaß sowie Metastasenausbreitung reduzieren und das Überleben der Patienten verbessern. Weil MTGI eine einzigartige Kombination an Zielstrukturen zu inhibieren scheint, konnte in vivo gezeigt werden, dass MTGI Wachstum und Vermehrung von Tumorzellen sowie Neo-Angiogenese hemmt und bereits neu gebildete Gefäße verkleinern kann. Jeder dieser Prozesse trägt zur Apoptose der Tumorzellen bei. Zielgerichtete Immunzytokine bestehen aus einem Zytokin, das an L19 gebunden ist. L19 ist ein neuartiges, humanes Antikörperfragment, das selektiv an ED-BFibronectin bindet – ein Oberflächenprotein, das vor allem von Tumorzellen und stromalen Tumorfibroblasten exprimiert wird. Zielgerichtete Immunzytokine stellen einen neuen Ansatz zur Behandlung solider Tumoren dar. Weil L19 Antitumoragenzien se-

lektiv zum Tumor bringt und dort hohe Wirkstoffkonzentrationen ermöglicht, wird erwartet, dass diese Medikamente weniger toxisch sind als nicht zielgerichtete Zytokine wie IL-2 oder TNFα. Zwei zielgerichtete Immunzytokine, L19-IL-2 und L19-TNFα, sind bereits in der Präklinik. ZK-EPO, ein Epothilon der dritten Generation, ist das einzige vollsynthetisch hergestellte Epothilon in der Entwicklung. Viele Krebszellen werden mit der Zeit resistent gegen Medikamente wie Taxane. Dabei spielt eine zelluläre Pumpe eine zentrale Rolle, indem sie Wirkstoffe aus den Tumorzellen hinaustransportiert. Im Gegensatz zu Paclitaxel oder pED, einem nahen Verwandten des Epothilon D, wird ZK-EPO rasch von der Zelle aufgenommen und im Zellkern angereichert. In Invitro- und In-vivo-Modellen konnte gezeigt werden, dass ZK-EPO nicht von der zellulären Pumpe erkannt wird und bessere antiproliferative Eigenschaften als alle derzeit in der Entwicklung befindlichen Epothilone besitzt. MS-275 ist ein oraler HDAC-Inhibitor, der zur neuen Klasse der synthetischen HDAC-Inhibitoren gehört. Sowohl bei In-vitro- als auch bei In-vivo-Tumormodellen hat MS-275 viel versprechende Antitumorwirkung gezeigt. Derzeit erfolgen klinische Studien mit MS-275 in soliden Krebsarten, einschließlich dem Melanom. Ein Ziel dabei: die Rolle noch genauer beschreiben zu können, die HDAC-Inhibitoren in Zukunft bei der Behandlung von Krebserkrankungen spielen können.

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livingbridgesspecial

JANE BURTON/COLEMAN/PREMIUM

Der Axolotl gehört zu den Amphibien, die seit rund 350 Millionen Jahren unverändert auf der Erde vorkommen. Er besitzt eine Fähigkeit: Verliert er ein Organ oder ein Körperglied, wächst dieses komplett wieder nach. Das Foto zeigt ein Jungtier.

Wundervoll und voller Wunder Neue Organe züchten, wenn die alten ihren Dienst versagen. Verloren gegangene Gliedmaßen nachwachsen lassen. Zerstörte Gewebe reparieren. Forscher versprechen sich von der regenerativen Medizin und den Stammzellen, diesen Zielen näher zu kommen. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, chronische Krankheiten nicht nur lindern, sondern auch heilen zu könnnen. Die Zucht einfacher Zellverbände wie der Hornhaut ist bereits gelungen. Auch das Selbstheilungspotenzial des Menschen wird erforscht. Doch noch folgen auf jeden Fortschritt neue Fragen. So einfach lässt sich die Natur ihre Geheimnisse eben doch nicht entlocken.

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DAVID DENNIS/OKAPIA; NEBRASKA WESLEYAN UNIVERSITY; TOM ADAMS/GETTY IMAGES

Planarien besitzen überall im Bindegewebe Stammzellen, die bei Bedarf in neue Nerven, Sinnesorgane, Muskeln oder andere Gewebe ausdifferenzieren können. Diese Fähigkeit macht sie zu einem interessanten Forschungsobjekt

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Auf dem Weg zur Selbstheilung Therapien mit Stammzellen sind keine Utopie mehr – doch enträtselt sind sie noch nicht

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gal wie Sie eine Planarie zerschneiden, aus jedem Stück entwickelt sich ein vollständiges neues Tier”, sagt Dr. Kiyokazu Agata, RIKEN Center for Developmental Biology (CDB) im japanischen Kobe. Er zeigt das Foto eines Plattwurms, der in neun Stücke zerteilt wurde. Auf einem zweiten Bild, aufgenommen nach einer Woche, sieht man, wie sich aus den unförmigen Wurmstücken neun neue Tiere entwickelt haben. Alle mit dem typisch platten Körper, dem breiten, pfeilförmigen Kopf und den beiden großen Augen, die die Süßwasserbewohner fast menschlich wirken lassen. Der Forscher, inzwischen Professor für Biophysik an der Universität Tokio, hat sein Versuchstier aus gutem Grund gewählt. Planarien besitzen überall im Bindegewebe Stammzellen, die bei Bedarf in neue Nerven, Sinnesorgane, Muskeln oder andere Gewebe ausdifferenzieren können. So behält auch ein kleines Wurmstück das Potenzial zum ganzen Tier. Forscher haben jüngst die Genfunktion der Planarien systematisch entschlüsselt. Auch wenn die Verwandtschaft zwischen Planarien und Menschen nicht sehr groß ist, sind viele der gefundenen Gene in den Plattwürmern auch beim Menschen vorhanden. Das Verständnis, wie die Regeneration in Planarien reguliert wird, könnte Informationen darüber liefern, wie man Stammzellen einsetzen kann. Mit Hilfe der regenerativen Medizin versuchen Forscher mit Hochdruck, menschliche Organe und Gewebe, die durch Krankheit oder Verletzung zerstört sind, nachwachsen zu lassen und so einige schwer heilbare Leiden zu therapieren. Für Menschen ist eine solche Form der Selbstheilung bisher noch ein Traum. Doch immerhin: Vor allem dank des boomenden Zweigs der Stammzellforschung scheint es nur noch eine Frage der Zeit, mit Hilfe neuer Zellen Krankheiten wie Morbus Parkinson, Herzinsuffizienz oder Diabetes zu lindern. Die Zucht einfacher Zellverbände wie der Hornhaut des Auges gelingt bereits. Menschen bekommen dabei über eine aus körpereigenen Stammzellen gezüchtete Cornea ihr Augenlicht zurück. Und mehr als 100.000 Patienten mit Krebs oder extremen Autoimmunkrankheiten haben bereits eine erfolgreiche Stammzelltherapie hinter sich. Seit 15 Jahren gibt es diese Methode, bei der Ärzte erkranktes Knochenmark zerstören und den Patienten anschließend gesunde Zellen spritzen. Diese Stammzellen regenerieren das Mark. Der Entwicklungsbiologe Agata spricht auf dem Workshop für regenerative Medizin, den das CDB und die Ernst Schering Research Foundation anlässlich der Eröffnung des neuen Schering-Forschungszentrums Japan in Kobe veranstalten. Er berichtet auch von einem Wurm, dessen

Stammzellen durch eine spezielle Behandlung beschädigt sind. Sein Selbstheilungspotenzial ist verloren gegangen. Spritzt man gesunde Stammzellen in die Planarie, geschieht das schier Unglaubliche: Die neuen Zellen verteilen sich selbstständig im ganzen Körper des Tieres, die verloren gegangene Regenerationsfähigkeit kehrt damit vollständig zurück. Jetzt versteht jeder Teilnehmer am Workshop, warum Planarien ein hervorragendes Modell für die regenerative Medizin sind: Mit ihnen lassen sich nicht nur Moleküle erforschen, die Stammzellen die Fähigkeit verleihen, in viele verschiedene Gewebetypen auszudifferenzieren. Man kann auch untersuchen, welche Botenstoffe und Strukturen die Stammzellen steuern, an welche Stelle des Körpers die Tausendsassas wandern und in was für einen Zelltyp sie sich verwandeln. Damit sind einige der vielen Fragen genannt, mit denen sich die Zellbiologie derzeit beschäftigt. Denn je mehr sie über die Stammzellen und das früher für unmöglich gehaltene Selbstheilungspotenzial von Säugetier und Mensch herausfindet, desto näher kommt sie einer Thera-

Regenerative Medizin will menschliche Organe und Gewebe nachwachsen lassen und schwer heilbare Leiden therapieren pie. Doch es tauchen immer neue Fragen auf: Woran erkennt man Stammzellen genau? Welche verschiedenen Arten gibt es? Wie kommunizieren sie mit dem Körper? Wie, wann und warum verändern sie sich? Wieso sind sie mal mehr, mal weniger potent – das heißt, in verschieden viele Arten von Körperzellen verwandelbar? Wo sind sie versteckt? Wann werden sie aktiv, oder warum bleiben sie zumindest bei den meisten Säugetieren inklusive des Menschen meist inaktiv? „Wir befinden uns im Blindflug“, sagt Dr. Lim Sai Kiang, Zellbiologin am Genome Institute in Singapur. Das klingt zurückhaltend, heißt aber auch, dass ihre Zunft schon längst gestartet ist. 1981 züchteten Forscher erstmals embryonale Stammzellen der Maus. Diese Kulturen sind un-

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sterblich, lassen sich beliebig verändern und vermehren – ein ideales Forschungsobjekt. Die Isolation der Stammzellen menschlicher Embryonen gelang erst 1998. Professor James Thomson, Zellbiologe von der University of Wisconsin, USA, kultivierte Zellen aus Blastozysten. Diese entstehen fünf bis sieben Tage nach der Befruchtung einer Eizelle und bestehen aus rund 100 Zellen. Heute gibt es viele verschiedene Linien humaner embryonaler Stammzellen, die wie die erste von Zellen abstammen, die bei künstlichen Befruchtungen übrig blieben und von Eltern gespendet wurden. Ihre Herstellung ist nur in einigen Ländern erlaubt, darunter Großbritannien, Singapur, Japan und Australien. Von dort werden sie in alle Welt verschickt, wo sie Forschern bei der Suche nach der Medizin

heilung des Menschen hat Schering dazu bewogen, in Kobe ein Forschungszentrum für regenerative Medizin einzurichten – direkt neben dem international bedeutenden CDB. „Ich denke, in 20 Jahren ist die Wissenschaft so weit, dass sie körpereigene Stammzellen zur Regeneration anregen kann. Auf dem Weg dahin wird es verschiedene Formen der Zelltherapie geben. In Japan will man diese Entwicklungen genauso wenig verschlafen wie bei Schering – deshalb sind wir hier“, sagt Schering-Forschungsvorstand Professor Günter Stock. Einer dieser wachen Japaner ist Dr. Shin-Ichi Nishikawa, Abteilungsleiter für Stammzellbiologie am RIKEN Center for Developmental Biology. Er untersucht, warum adulte Stammzellen sich meist in winzigen Arealen des Organs verstecken, in dessen Zellen sie sich verwandeln können. Es scheint, als würden sie in solchen „Nischen“ überleben, weil umgebende Zellen bestimmte Signale aussenden oder auf ihrer Oberfläche spezielle Moleküle tragen. Nishikawa analysiert die Haarfollikel der Maus, in denen immer ein kleines Stammzellreservoir überlebt. Es bildet Melaninzellen, die zur Haarwachstumszone wandern und den Haarfarbstoff erzeugen. Natürlich will er keine Haare färben. Er will „eines der aktivsten Gebiete der Stammzellforschung“ voranbringen. Es geht um den Mechanismus, über den die Nische ihre Stammzellen lebenslang jung hält. Und es geht um Signale, die sie veranlassen, Tochterzellen zu bilden. Diese wiederum differenzieren zu Ersatzgewebe und wandern an eine reparaturbedürftige Stelle. Mit den „Jungbrunnen“-Signalen könnten Zellbiologen endlich auch adulte Stammzellen so einfach kultivieren und vermehren, wie es bislang nur mit embryonalen gelingt. Und mit Hilfe der richtigen Differenzierungssignale könnten sie in den Petrischalen jedes gewünschte Gewebe wachsen lassen, etwa Insulin produzierende Bauchspeicheldrüsenzellen für Diabetiker, Herzmuskelzellen für Patienten mit Herzinsuffizienz, Nervenzellen für Menschen mit Querschnittslähmung oder Nerven isolierende Oligodendrozyten für Menschen mit Multipler Sklerose. Professor Ronald McKay, Neurologe und führender Stammzellforscher von den National Institutes of Health in Bethesda, USA, findet diesen Weg zu mühsam. Der Träger des Ernst-Schering-Preises 2004 setzt auf die Erforschung embryonaler Stammzellen. Die Arbeit mit adulten Zellen sei viel zu kompliziert und erst der zweite Schritt: „Wenn ich eine neue Rose brauche und einen Samen habe, warum soll ich dann versuchen, die Pflanze aus einem Blatt großzuziehen?“ McKay kann hervorragende Resultate

der Zukunft helfen – auch in Deutschland. In den USA ist die Forschung an embryonalen Stammzellen zumindest im privaten Bereich möglich und wird durch keinerlei staatliche Regulierungen behindert. Unabhängig von Regierungsförderung gibt es einige Firmen und Labore, die Stammzellenforschung betreiben. Der Staat Kalifornien plant, in den nächsten zehn Jahren drei Milliarden Dollar zu investieren. Kiang arbeitet mit embryonalen Stammzellen und adulten Leberstammzellen von Mäusen und Menschen. Eines Tages will sie das Signalgeflecht verstehen, das die Leberstammzellen im Körper davon abhält, auf eine Krankheit zu reagieren. Sie hofft auf Stoffe, die die Zellen zur Teilung anregen und ein ideales Medikament etwa gegen Leberzirrhose wären. „Dann brauchen wir für die Heilung vielleicht gar keine zusätzlichen Stammzellen mehr“, sagt Kiang. Die derzeit angedachten Zelltherapien, bei denen Gewebe von außen in den kranken Körper gegeben wird, wären überflüssig – der Körper könnte sich selbst heilen, wenn die Stammzellen aktiviert sind. Die Aussicht auf eine medikamentös induzierte Selbst-

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ZEFA

Embryonale Stammzellen der Maus sind ideale Forschungsobjekte: Sie sind unsterblich, lassen sich verändern und vermehren


Peeling lässt Delphine schneller schwimmen: Die Meeressäuger stoßen etwa alle zwei Stunden die äußeren Hautzellen ab. Diese stetige Regeneration reduziert den Strömungswiderstand

vorweisen: Im Eröffnungsvortrag des Workshops in Kobe demonstriert er, wie sich embryonale Stammzellen von Mäusen und Affen erfolgreich in verschiedene Arten von Nervenzellen umwandeln. „Die zunehmende Ausdifferenzierung der Zellen zeigt sich durch ihre wachsende Fähigkeit, Aktionspotenziale zu bilden“, erklärt der Neurologe. Schließlich bilden die Zellen Synapsen aus, also Kontaktzonen für ihren Informationsaustausch. Nun müsse man mit dem richtigen Auswahlsystem die Neuronen herausfischen, die Dopamin erzeugen, schon hätte man im Tiermodell Ersatz gefunden für jene Zellen, die bei ParkinsonPatienten massiv zugrunde gehen. Derzeit sammelt er Hinweise, dass auch menschliche embryonale Stammzellen diesen Weg gehen können. Sein Fazit: „Die ParkinsonTherapie ist ganz nah.“ Aber noch müssen Forscher die Krankheit besser verstehen, um zu wissen, wann und wo die Ersatzzellgabe sinnvoll ist. Und sie müssen einen Weg finden, die Abstoßung der neuen Zellen zu verhindern – etwa über therapeutisches Klonen. Dabei werden Stammzellen aus Embryonen gewonnen, die vorher aus Zellen des Patienten geklont wurden. Dr. Yoshiki Sasai, Leiter der Abteilung für Organ- und Nervenentwicklung am CDB, behandelt schon jetzt Makaken, die an Parkinson erkrankt sind, mit ausdifferenzierten embryonalen Stammzellen: „Diese Tiere sind ein sehr gutes Modell für den Menschen.“ Jetzt gehe es vor allem darum, mögliche Nebenwirkungen auszuschließen.Ganz genau hinschauen wird er, wenn Krebs entsteht. Die Angst davor, mit Stammzellen Tumoren auszulösen, schwebt nämlich wie ein Damoklesschwert über der regenerativen Medizin. Ihre Unsterblichkeit teilt die Stammzelle mit der Krebszelle, anders als

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Zielgebiet Multiple Sklerose

diese dient sie jedoch dem Körper, anstatt ihn aufzuzehren. Jetzt häufen sich die Indizien, dass viele Krebserkrankungen auf einzelne, mutierte Stammzellen zurückgehen, die Krebsstammzellen. „Dass diese Theorie für Leukämien gilt, ist sicher“, sagt Dr. Luis Parada von der University of Texas. Vermutlich gelte sie auch für solide Tumoren. Parada liefert mit Gehirntumoren Belege: Er verkleinert einzelne Geschwulste immer mehr und lässt daraus neue Tumoren wachsen. Bis zu einer Grenze. „Es gibt eine bestimmte Mindestzahl von Tumorzellen, daunter passiert nichts“, so Parada. „Dann sind die Stammzellen entfernt.“ Seine Experimente sind nicht nur eine zusätzliche Warnung an die Biomediziner, die potenziellen Gefahren ihrer Hoffnungsträger niemals auszublenden. Zugleich erhellt das bessere Verständnis von Stammzellen auch die Krebsmedizin.

Indizien häufen sich: Viele Krebserkrankungen gehen auf einzelne mutierte Stammzellen zurück Zum einen hilft es zu verstehen, warum so viele Tumoren nach einer Behandlung wiederkehren: Die Krebsstammzellen wurden nicht alle vernichtet. Zum anderen eröffnet es eine neue Antikrebsstrategie: die gezielte Attacke auf entartete Stammzellen. Forscher, die auf humane embryonale Stammzellen setzen, haben indes noch ein ganz anderes Problem: Die Qualität der verschiedenen Zelllinien sei sehr unterschiedlich, sagt Professor Alan Trounson von der Monash University in Victoria, Australien. Er begrüßt, dass derzeit ein internationales Konsortium entsteht, um Kriterien zur Beurteilung der Qualität solcher Linien festzulegen. Sein Team hat bereits sechs Linien generiert. Nun wird geschaut, wie sich die Zellen verändern und wie sich die Differenzierung aufhalten oder steuern lässt. „Am Ende stehen verschiedene Kulturen mit mehr oder weniger weit fortentwickelten Zellen.“ Mit denen könne man erstaunliche Dinge anstellen: Zellen, die sich ein Stück in Richtung Nerven entwickelt hätten, könne man beispielsweise in Mäuse einpflanzen, wo sie zum Gehirn wandern und sich dort weiter fortentwickeln. Sich in einem fremden Körper zurechtzufinden und dort zu erkennen, was zu tun ist – es ist diese unglaubliche Fähigkeit mancher Stammzellen, die Vertreter der regenerativen Medizin mutiger werden lässt. Seit wenigen Jahren experimentieren Kardiologen im Kampf gegen drohende Herzschwäche mit adulten Stammzellen. Dr. Takayuki Asahara, Leiter „Stem Cell Translational Research“ am RIKEN-Institut, etwa züchtet aus Stammzellen zunächst Endothel-Vorläufer-Zellen. Asahara fand bereits Substan-

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Wichtige Schwerpunkte am neuen Schering-Forschungszentrum sind regenerative Medizin und Zelltherapie. Ein Fokus ist dabei die Behandlung der Multiplen Sklerose. Herkömmliche Therapien helfen nicht bei allen Patienten, und vor allem machen sie aufgetretene Schäden nicht rückgängig; sie unterdrücken lediglich die Entzündung, mit der der Körper seine eigenen Oligodendrozyten zerstört, was die Nervenzellen ihres wichtigen Isolationsmantels beraubt und die Geschwindigkeit der elektrischen Reizübertragung senkt. Der neue Ansatz der regenerativen Medizin will verloren gegangene Oligodendrozyten ersetzen. Bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts galt es als Dogma der Neurobiologie, dass zerstörtes Gewebe im Rückenmark und Gehirn unrettbar verloren ist. Heute weiß man: Nerven können nachwachsen und sich erneuern. Dafür verstecken sich an wenigen Stellen des Nervensystems Stammzellen. Sie bilden bei Bedarf Tochterzellen, die zum verletzten Gewebe wandern und dort für Regeneration sorgen. Tragisch für viele Patienten ist, dass dieser Selbstheilungsmechanismus vom gesunden Nervensystem fast immer unterdrückt wird, beispielsweise über ein Protein namens Nogo. Daran möchten die Schering-Forscher etwas ändern: „Eines unserer Projekte konzentriert sich auf Barrieren, die Nervenstammzellen daran hindern, durch MS zerstörte Myelinzellen zu erneuern“, sagt Professor John Morser, Leiter der Schering-Gruppe für regenerative Medizin. Gleichzeitig fahndet sein Team gemeinsam mit der Gruppe für Zelltherapie nach Methoden, Nervenstammzellen zu vermehren und ihre gezielte Entwicklung in Nerven oder Oligodendrozyten voranzutreiben. Das Ziel ist zwar fern, aber klar umrissen: Es geht um die Heilung von MS-Patienten. Das Team für Pharmakologie wird die neuen Entwicklungen unter anderem mit Mäusen testen, bei denen durch Gabe von Cuprizon eine MS-artige Demyelinisation ausgelöst wurde. Eine spezielle Magnetresonanztomographie für Tiere soll den Erfolg der Therapien sichtbar machen.


DR. YORGOS NIKAS/SPL/ AGENTUR FOCUS

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Stammzellen sind die Hoffnungsträger der Biomedizin. Aber noch werfen sie für die Forscher immer neue Fragen auf

zen, die deren Entwicklung vorantreiben. Mit den so erzeugten Zellen „kann das Wachstum neuer Herzkranzgefäße und neuer Herzmuskelzellen angeregt werden“, sagt der Entwicklungsbiologe. Derzeit leitet er Studien bei Patienten mit Herzinfarkt oder Durchblutungsstörungen in den Füßen. Die meisten Kardiologen spritzen die aus Muskeln oder Knochenmark gewonnenen Stammzellen direkt in den Herzmuskel oder den Blutkreislauf. Dr. Doris Taylor von der University of Minnesota, USA, berichtet von zahlrei-

chen Studien, die zum Teil „dramatische Verbesserungen“ gebracht hätten. Leider sei die statistische Aussagefähigkeit wegen geringer Patientenzahlen mäßig, und es fehle an Kontrollgruppen. Erste Analysen ergäben aber, dass die Zelltherapien die Elastizität des Herzmuskels erhöhten und ihn damit flexibler machten. Eine mögliche Erklärung: Das Herzgewebe erneuert sich. „Aus eigenen Studien wissen wir: Die Fähigkeit des Herzens, sich zusammenzuziehen, nimmt deutlich zu.“ Alle diese Experimente bringen die regenerative Medizin auf ihrem weiten Weg voran. Die Zahl der Forscher und ihrer Vorhaben nimmt jePeter Spork denfalls stetig zu.

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Der Jungbrunnen

Der Mensch unternimmt viele Anstrengungen, um nicht zu altern

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INGE ARNDT/MINDEN/PREMIUM

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lte Frauen mit runzeliger Haut und hängenden Brüsten, manche von ihnen so gebrechlich, dass sie in Karren und auf Tragen herangebracht werden, steigen in ein Wasserbecken. Wenn sie es auf der gegenüberliegenden Seite verlassen, erblühen sie wieder in strahlender Schönheit, Edelmänner buhlen um ihre Gunst. „Der Jungbrunnen“ heißt das Gemälde, das Lucas Cranach der Ältere 1546 malte. Ein faszinierendes Bild, entstanden zu Beginn der Neuzeit. Ein Bild, das im Laufe der Jahrhunderte zur Chiffre wurde für den Wunsch der Menschen nach ewiger Jugend und Schönheit. Für den Traum, das Altern aufzuhalten. Der Jungbrunnen ist Sinnbild für Regeneration. Regeneration stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Wieder-Erschaffung. Was verbraucht ist, verschlissen, abgenutzt, wird neu geschaffen. Restart. Sportler benötigen nach Wettkämpfen eine Phase der Regeneration. Ökologen setzen auf regenerative Energien wie Sonne, Wind und Wasser – Nachhaltigkeit statt Raubbau. Zerstörte Landschaften werden regeneriert. Regenwälder, durch Abholzen geschädigt, müssen sich selbst regenerieren, ebenso die ausgebeuteten Fischbestände in den Ozeanen. Regeneration heißt aber auch, die Schöpfung zu erneuern. Ein Versuch, an dem die Menschen bislang immer wieder gescheitert sind – trotz großer Anstrengungen. Im Altertum vertraute man auf die verjüngende Kraft der Natur. Kleopatra bevorzugte Molkebäder, die zweite Frau des römischen Kaisers Nero stieg in eine mit Eselsmilch gefüllte Alabasterwanne, um ihre Haut vor dem Alter zu schützen. Genutzt hat es wenig. Die Jungbrunnen der Moderne sind die Operationssäle der Schönheitskliniken. Regeneration als filigranes Handwerk der Fachärzte für ästhetische Chirurgie. Doch die Regeneration mit dem Skalpell ist eine optische Täuschung. Das gelebte Alter bleibt, man sieht es nur nicht mehr auf den ersten Blick. Doch schon der zweite zeigt die Narben hinter dem Ohr – und dass jemand die Zeit zurückdrehen wollte. Der neueste Trend heißt Anti-

Nicht nur Menschen lieben Wellness. Auch diese Rotgesichtsmakaken genießen den bis zu

Aging. Das Altern stoppen – oder sogar umkehren. Die Lebensuhr zurückdrehen? Deepak Chopra verspricht den Menschen in seinem Buch „Der Jugendfaktor“ Zeit, gewonnene Zeit. Um 15 Jahre lasse sich das biologische gegenüber dem biografischen Alter zurücksetzen. „Unser Körper ist keine biologische Maschine, die mit der Zeit unaufhaltsam und unerbittlich verschleißt. Wir Menschen sind perfekt organisierte Beziehungsnetze aus Energie, Information und Intelligenz, die im dynamischen Austausch mit ihrer Umgebung stehen und fähig sind, sich vollkommen zu wandeln und zu erneuern.“ Sagt Deepak Chopra. Das ist


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40° C warmen Whirlpool der Natur in ihrem japanischen Jigokudani Yaen-Koen Nationalpark

eine neue Sicht der Dinge. Die meisten Menschen verstehen ihren Körper als Maschine, die sich abnutzt. Mal langsam, mal schnell. Ärzte überwachen die Funktion, die Vorsorgeuntersuchungen sind das TÜV-Zertifikat des Körpers. Ärzte erledigen die Reparaturen: Sie stellen Cholesterinwerte ein, senken den Blutdruck, pflanzen Schrittmacher oder neue Organe ein. Hauptsache, der Mensch funktioniert wieder. Das heißt: Er kann wieder arbeiten. Denn im Zentrum der modernen Regeneration steht der Erhalt der Arbeitskraft. Auch Urlaub dient in erster Linie dazu, den Akku wieder aufzuladen. Kraft zu sammeln für neue anstrengende Monate im Büro, in der Werkstatt, in der

Chefetage. Doch die Ansprüche an Entspannung verändern sich. Wissenschaftler der Universität Tilburg in den Niederlanden fanden heraus: Immer mehr gestresste Menschen wollen statt langer Urlaubsreisen lieber Wohlfühl-Wochenenden. In den Metropolen boomen die Wellness-Oasen. Sie locken mit entspannenden Massagen, betörenden Düften und fernöstlichen oder esoterischen Weisheiten. In den Prospekten taucht, nur unwesentlich variiert, immer derselbe Satz auf: „Verwöhnen Sie Körper, Geist und Seele!“ Welches Bedürfnis befriedigen die blubbernden Badewannen der Wohlfühltempel? „Im Wellness-Gedanken steckt die tiefe Sehnsucht der Menschen nach Neuanfang“, analysiert der Kölner Alltagsforscher und Tiefenpsychologe Dirk Ziems. Die Menschen leben eine Form der Wiedergeburt aus. Zusammen mit exotischen Entspannungselementen sei das ein „Ausstieg aus unserer Kultur“. Wellness gleich Flucht, so die einfache Formel. Doch nicht alle können fliehen. Eine Studie der Unternehmensberatung Kienbaum ergab, dass zwei Drittel der Manager keinen Feierabend mehr kennen – sie arbeiten zu Hause weiter. Dank Handy 24 Stunden erreichbar, dank Laptop und Internet ans Firmennetz angeschlossen. Am Ende steht nicht selten ein Infarkt. Und der hat Folgen. In vielen Fällen bleiben im Herzmuskel irreparabel geschädigte Zellen zurück. Doch immerhin: Auch in solchen Fällen keimt ja ein neuer Jungbrunnen auf, seit Wissenschaftler menschliche Stammzellen erforschen. Fünf Jahrhunderte, nachdem Lucas Cranach sein Bild schuf, verstehen Wissenschaftler zunehmend, wie der Jungbrunnen aussehen müsste. Wie lange wird es noch dauern, bis sich Herz, Niere, Lunge neu züchten lassen? „May your hands always be busy, may your feet always be swift, may your heart always be joyful, may you stay forever young“, singt Bob Dylan. Immer fleißig, immer fit, immer froh. Immer jung. Und Ralf Daute dann?

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Mit 66 Jahren in den Ruhestand? Das mag für manche verlockend sein. Nicht für Claus Dieter Gerhardt. Kaum aus seinem aktiven Berufsleben ausgeschieden, meldete sich der Bäckermeister beim Senior Experten Service – und führt seither Menschen in Ostasien in die Kunst des (westlichen) Backens ein.

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Wir sind gut - ihr braucht uns Senioren haben viel Berufserfahrung – und stellen sie anderen zur Verfügung

MATTHIAS SANDMANN/SCHERING; GETTY IMAGES

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ch habe mich plötzlich wie auf meiner eigenen Beerdigung gefühlt.“ Als Claus Dieter Gerhardt sich im Jahr 2000 aus seinem aktiven Berufsleben zurückzog, drohte auf einmal die große Leere. 35 Jahre lang hatte der Bäckermeister tagaus, tagein einen eigenen Betrieb geführt, war Lehrlingswart und in der Berufsbildung aktiv, arbeitete in etlichen Ausschüssen mit, etwa dem zur Qualitätsprüfung für Backwaren in der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft. Und nun also der Ruhestand? Selbst die weitere Gremienarbeit scheiterte an einem Altersparagrafen. Klar, mit den zwei Enkeln spielen – das macht auch Gerhardt Freude, aber ansonsten untätig zu Hause sitzen, nicht mehr gebraucht werden? Keine schöne Aussicht. Zumal der damals 66-Jährige gesundheitlich noch topfit war. Der Kölner nahm Kontakt mit dem Senior Experten Service (SES) in Bonn auf. Von der Institution hatte er schon vorher gehört, und jetzt konnte er sich gut eine Mitarbeit in deren Projekten vorstellen. Er dachte vor allem an Afrika. Der SES hatte tatsächlich sofort Verwendung für den Backwaren-Spezialisten. Allerdings landete das Flugzeug, das Gerhardt noch im selben Jahr bestieg, nicht in Afrika, sondern in China. Mit der zunehmenden Öffnung des Landes für westliche Einflüsse stieg auch das Interesse an kulinarischen Importen. Eine der neuen Aufgaben von Gerhardt war fortan, dem chinesischen Bäckereipersonal von Hotels die Zubereitung von Baguettes, Laugenbrezeln oder Dänischen Plundern näher zu bringen. Es blieb nicht beim Aufenthalt in China. Bald flog Gerhardt auch nach Vietnam und Myanmar (Burma), jeweils für mehrere Wochen oder gar Monate. Nicht immer war er dabei in Hotels beschäftigt. Mitunter ging es auch darum, Jugendlichen von der Straße eine berufliche Grundausbildung zu ermöglichen, um ihre Chancen zu verbessern. „Da ging es dann um ganz elementare Einführungen in das Wesen von Teigwaren“, so Gerhardt. Und das häufig mit einfachsten Mitteln. Dabei kam dem heute 70-Jährigen zugute, dass er selbst Ende der 40er Jahre gelernt hatte – in einer Zeit also, als in Deutschland Mangel herrschte und Improvisation gefragt war. Einen Backofen mit Kohle zu

befeuern – für Gerhardt ist das bis heute kein Problem. Der Bäcker ist begeistert von der Lernwilligkeit und der Freundlichkeit der Asiaten. Und von ihrem handwerklichen Geschick. „Das macht wahnsinnigen Spaß“, nickt der Senior-Ausbilder. Was ihm außerdem gefällt, ist die intensive Art, die jeweiligen Länder kennen zu lernen. Zwar sei das kein Urlaub, aber man erfahre doch viel mehr über Land und Leute als bei einer Urlaubsreise. Dennoch ist das nicht der Hauptgrund seines unentgeltlichen Einsatzes. „Ich fahre dahin, um zu dienen“, betont er. Er hat einfach Spaß daran, sein Wissen an Menschen weiterzugeben, die zudem dafür dankbar sind. Ein ganz eigener Aspekt im Zeitalter der Globalisierung. Seit 22 Jahren vermittelt der SES

Viele Senioren sind fit und genießen die Freizeit. Aber das ist nicht alles ältere Menschen in Projekte, in denen ihre jeweiligen Erfahrungen und Kenntnisse gefragt sind – im In- und Ausland. Fast 15.000 Menschen haben seither teilgenommen. Von Jahr zu Jahr steigt die Resonanz. Allein im Jahr 2004 gab es fast 1.500 Einsätze – Rekord. „Das Durchschnittsalter unserer Aktiven liegt bei 65 Jahren“, erklärt SES-Pressesprecherin Sonhild Schretzmann. Alles kommt vor. Da gehen erfahrene Ärzte in den Jemen, um auf Intensivstationen zu helfen. Andere unterweisen Osteuropäer im Textilwesen oder in Hotelmanagementaufgaben. Aber: Nicht jedes Projekt findet im Ausland statt. Auch im eigenen Land kann das Know-how der „Älteren“ viel wert sein. Gerhard Benner etwa reiste nach Coburg und half einem von der Insolvenz bedrohten Druckereibetrieb dabei, ein geeignetes

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Marketing-Konzept zu entwickeln. Mit Erfolg, der vorzeitige Ruin wurde einstweilen abgewendet. Der SES ist kein Einzelfall. In vielen Ländern stützen sich ähnliche Organisationen auf die Erfahrungen ihrer Senioren. Allein der EU-Dachverband, die Confederation of European Senior Expert Services (CESES) in Brüssel, zählt 24 Mitgliedsorganisationen. Gemeinsam blicken diese bereits auf über 50.000 Einsätze in 170 Ländern zurück. Ganz klar: Das Know-how der Älteren ist gefragt und wird gerne genutzt. Doch warum eigentlich erst, wenn sie im Ruhestand sind und ehrenamtlich zu haben sind? Als echte Arbeitnehmer werden sie in manchen Ländern dagegen zunehmend verschmäht. Unter den 55- bis 64Jährigen in den OECD-Ländern sind nur noch 48 Prozent in einem Beschäftigungsverhältnis. Eine der konsequentesten Ausmusterungswellen älterer Mitarbeiter hat Deutschland erlebt. Staatlich subventionierte Vorruhestandslösungen sollten den strapazierten Arbeitsmarkt entlasten – und haben dafür gesorgt, dass 60 Prozent der Unternehmen gar keine Mitarbeiter über 50 Jahre mehr auf der Gehaltsliste haben. Von zehn Menschen zwischen 55 und 64 gehen nicht mal mehr vier einem Broterwerb nach. Ganz anders die Schweiz, wo noch etwa zwei Auch im Alter kann man ehrgeizige Ziele Drittel dieser Gruppe arbeiten. Daverfolgen. Wie die Ballonfahrerin Helma Sjuts bei haben ältere Menschen so viel zu bieten. Lebensweisheit, Arbeitserfahrung, und sie haben manche Schwierigkeiten gemeistert, die viele Jüngere noch gar nicht kennen gelernt haben. Nicht immer ist es entscheidend, ob man einen Computer bedienen kann oder ob man mit rasend schnellen Fingern eine SMS ins Handy tippen kann – auch wenn es heute mitunter so scheint. In manchen Gesellschaften droht der demografische Wandel inzwischen einer Stimmung Vorschub zu leisten, die Senioren zunehmend als lästige Bezieher sozialer Leistungen zu sehen, die von den Jüngeren immer mühsamer erwirtschaftet werden müssen. Positiv wird die wachsende „Rüstige-Rentner“-Klientel allenfalls noch in ihrer Rolle als Konsumenten gesehen – und dabei von der Werbebranche zunehmend entdeckt. Völlig übersehen wird dabei aber die soziale Rolle, die älteren Menschen naturgemäß zukommt. Schließlich sind sie es, die den Nachwachsenden auf natürliche Weise ein Gefühl für Herkunft, Tradition und Geschichte vermitteln. Und nicht zuletzt sind es nicht selten die Senioren, die auf die

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Enkel aufpassen, wenn deren Eltern beide berufstätig sind – ein Prinzip, das in großen Teilen der Welt ganz selbstverständlich ist. Dass der Bedarf groß ist, beweist der Erfolg von Agenturen zur Vermittlung von „Leih-Omas“. Und als ob das alles noch nicht genügt, setzen die Senioren noch einen drauf – und melden ihren unverzichtbaren Wert im Berufsleben an. Schon macht die These die Runde, dass Unternehmen, die in ihrer Belegschaft einen ausgewogenen Altersmix pflegen, erfolgreicher agieren. Nicht zuletzt, weil sie immer auch Zugriff auf die Erfahrung der „Alten“ haben, und auch, weil diese Erfahrung auf natürliche Weise im täglichen Miteinander an jüngere Generationen weitergegeben – und somit erhalten – wird. „Bei einem hohen Anteil älterer Mitarbeiter könnte die Gefahr eines abrupten Verlustes von implizitem Wissen und Erfahrungen … vermieden werden“, hieß es im Dezember 2003 in der deutschen Zeitschrift „Personalwirtschaft“. Auch in Großbritannien weist man auf die Vorteile eines Altersmixes in den Unternehmen hin. Seit 1996 schon kämpft „The Employers Forum on Age“ (EFA) für eine „altersmäßig ausbalancierte Arbeiterschaft“ in den Betrieben. Im EFA haben sich zum Teil namhafte Arbeitgeber, darunter die BBC, Barclays, GlaxoSmithKline, Shell und viele mehr, zusammengeschlossen, um aktiv gegen Altersdiskriminierung am Arbeitsplatz vorzugehen. Das Forum verweist auf „klare Erkenntnisse darüber, dass eine gemischtaltrige Belegschaft sich positiv auf Fehlzeiten und die Mitarbeiter-Motivation auswirkt“. In Zeiten, da die Lebenserwartung in vielen Ländern steigt und die Geburtenraten sinken, kann es nicht verkehrt sein, die Arbeitskraft der Älteren stärker zu nutzen. Warum auch nicht? Schließlich genügt es nicht jedem Senior auf Dauer, ständig zu verreisen oder den ganzen Tag zu lesen, Bridge zu spielen, zum Tanztee zu gehen oder fernzusehen. Auch Claus Dieter Gerhardt nicht. Erst Anfang 2005 war er auf seinem elften SES-Einsatz. Dieses Mal im nord– thailändischen Chian Rai, wo er Jugendliche „von der Straße“ ins Brotbacken einführte, um ihnen eine Berufsgrundlage zu geben. Fünf Jahre noch könne er sich solche Auslandseinsätze vorstellen, meint er. Dann ist er 75. Wirklich aufhören müsste er erst mit 80. „Danach machen wir das nur noch in Ausnahmefällen“, so Sonhild Schretzmann vom SES. Der Grund: „Die Versicherungen spielen jenseits der 80 nicht mehr mit.“ Die Experten müssten diese Kosten dann Karl Hübner zu großen Teilen selbst bezahlen.

HELMA SJUTS/ASCHENDORFF; H.E.D.I.

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livingbridgesspecial Senioren auf dem Vormarsch: Zwar ist fast die Hälfte aller Erdbewohner jünger als 25 Jahre, doch aufgrund der stetig steigenden Lebenserwartung wächst auch die Anzahl älterer Menschen. Vor allem in klassischen Industrienationen legt deren Anteil zu. Drei Beispiele: Anteile verschiedener Altersgruppen in ... ... Deutschland*: 2000 3,5%

... den USA*:

... Japan*:

3,2% 13,0%

15,6%

19,8%

3,8% 21,5%

11,1%

12,7%

50,0%

GESAMT: 82,3 Millionen

49,4%

13,8%

48,5%

2020

14,6%

19,5%

GESAMT: 284,1 Millionen

6,9%

GESAMT: 127,0 Millionen

3,7%

9,1% 19,2%

18,3% 13,1% 22,4%

12,9% 24,8%

10,0%

9,5%

13,2%

47,6%

43,7%

45,6%

GESAMT: 82,3 Millionen

GESAMT: 338,4 Millionen

... der Weltbevölkerung*:

0 bis 14 Jahre

25 bis 59 Jahre

15 bis 24 Jahre

60 bis 79 Jahre

2020

8,9%

11,7% 25,2%

30,1%

GESAMT: 6,070 Mrd.

42,8%

80 Jahre und älter

1,8%

1,1%

2000

GESAMT: 126,7 Millionen

17,6%

GESAMT: 7,540 Mrd. 45,3%

15,9%

* kalkuliert auf Basis der so genannten „Medium Variant“ der UN (mittlere Fertilität, normale Sterblichkeit, normale Migration) Quelle: http://esa.un.org/unpp (United Nations Population Division)

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Forschungsstandort Kobe

Im Osten viel Neues Schering eröffnete im Herbst 2004 ein neues Forschungszentrum in Japan. Direkt neben einem der wichtigsten Institute für Stammzellforschung werden die viel versprechenden Möglichkeiten der regenerativen Medizin ausgelotet.

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r. Osamu Nakanishi grinst: „Hier eines unserer auffälligsten Arbeitsgeräte.“ Tatsächlich sticht die Kiste sofort ins Auge. Der Lack blättert. Beulen zeichnen sich ab. „Die Eismaschine haben wir aus unserem alten Labor in Mobara mitgebracht“, erklärt der Leiter der Onkologie im neuen Nihon Schering-Forschungszentrum in Kobe. „Sie funktioniert noch immer einwandfrei.“ Die alte Maschine ist der Kontrapunkt in einem brandneuen Labor mit großzügig platzierten ultramodernen Biotech-Maschinen zur Analyse molekularbiologischer Prozesse. Die

Kobe – das Hafengebiet wird vom Kobe Tower überragt. 2004 lebten rund 1,5 Millionen Japaner in der Großstadt auf der Insel Honshu

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die Standortwahl interessieren. In ganz Asien herrscht derzeit ein Wettstreit um das beste Fundament für Biotechnologie, vor allem im expandierenden Bereich der regenerativen Medizin. „Sie ist das Feld der Zukunft. Und wir wollen von Anfang an dabei sein“, sagt Stock und erklärt, warum das Schering-Institut von Mobara nach Kobe verlegt wurde und die bestehenden On-

kologieprojekte um Arbeitsgruppen für regenerative Medizin und Zelltherapie erweitert wurden: „Hier passt alles richtig gut zusammen.“ Im Wissenschaftspark liegt auch das RIKEN-Institut für Ent-

„Unser wichtigstes kurzfristiges Ziel ist die Entwicklung eines Systems, das adulte Stammzellen außerhalb des Körpers kultivieren kann.“ Dr. Kazuhiro Sakurada, Leiter des Forschungszentrums und der Zellbiologie

Akiko Saito, Biochemikerin, Abteilung für Krebsforschung

„In Kobe sind viele Wissenschaftler in der Nähe. Hier bekommt man viel eher mit, wenn die Kollegen einen neuen Ansatzpunkt in der Krebsbekämpfung finden.“

HIROYUKI MATSUMOTO/GETTY IMAGES

offizielle Eröffnung ging an einem ungewöhnlichen Tag über die Bühne: Am 20. Oktober tobte noch Tokage über Kobes Wissenschaftsparks hinweg – der heftigste Taifun Japans seit 25 Jahren. Zwei Tage später ist es nicht viel ruhiger: Dr. Kazuhiro Sakurada, Leiter des Forschungszentrums und der Zellbiologie, und ScheringForschungsvorstand Professor Günter Stock eilen durch die Flure, einen Schwarm Journalisten in ihrem Schlepptau. „Wir sind die erste internationale Firma, die in Kobe Forschung betreibt“, sagt Stock. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum sich die Medien so stark für

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Forschungsstandort Kobe

wicklungsbiologie – das weltweit größte Zentrum seiner Art. Kobe fördert seit dem Wiederaufbau nach dem Erdbeben von 1995 gezielt den Biotech-Sektor samt optimaler Infrastruktur. Und: „Japan ist unser drittgrößter Markt. Da ist es wichtig, auch an der dortigen Forschung teilzunehmen“, so Stock. Derzeit tun das 25 Wissenschaftler – Tendenz steigend. Ihr Fokus richtet sich auf regenerative Medizin. Sie will das erschreckend begrenzte Potenzial des Körpers verbessern, durch Krankheit oder Verletzung zerstörtes Gewebe zu erneuern – etwa durch die Gabe von Stammzellen. „Das Gebiet ist riesig. Im Grunde ist die Reparatur aller Gewebe denkbar, und das auf verschiedenen Wegen. Wir müssen Prioritäten setzen“, sagt Sakurada. Erstes Ziel ist eine innovative Therapie gegen Multiple Sklerose (MS). Schering habe viel Know-how auf diesem Gebiet. Die Autoimmunkrankheit, die wichtige Nervenzellen durch eine heimtückische Entzündung zugrunde richtet, sei ein ex-

zellentes Modell, um neue Medikamente im gesamten Bereich der Gehirn- und Rückenmarksregeneration zu finden. Sakurada: „MS lehrt uns viel über die Beziehung zwischen Entzündungsprozessen und Wachstum neuen Gewebes.“ Die von Sakurada geleitete Gruppe für Zelltherapie beschränkt sich auf die Erforschung adulter Stammzellen. Sakurada: „Unser wichtigstes kurzfristiges Ziel ist die Entwicklung eines Systems, das adulte Stammzellen außerhalb des Körpers kultivieren kann.“ Dazu will er erkunden, wie man diese extrem raren, sensiblen Zellen im Körper besser ortet. Dann geht es um die Fahndung nach Signalstoffen, die Stammzellen jung halten und zur Vermehrung anregen. Die Zellkulturen sollen nicht nur therapeutischen Zwecken dienen, sondern vor allem das wichtigste Werkzeug des Teams für regenerative Medizin sein. „Wir wollen die Prozesse verstehen, die im Körper eines Patienten ablaufen, wenn von außen zugegebene Stammzellen das Gewebe reparieren“, sagt Teamleiter Professor John Morser, der früher am Schering-Forschungszentrum im kalifornischen Richmond arbeitete. „Wir hoffen, dass neue Medikamente eines Tages die eigenen

Stammzellen anregen werden, den Körper selbst zu heilen.“ Aber der erste Schritt zur Realisierung dieser Vision ist die Zelltherapie. Es gehe darum, den Einfluss möglicher Botenstoffe und anderer Signale zu untersuchen. Weil der Fokus derzeit auf MS gerichtet ist, erforschen die Wissenschaftler kleine Moleküle, die Zellen des Nervensystems zur Regeneration anregen. Dr. Fumiki Shimada, Zellbiologe in Morsers Team: „Zudem suchen wir nach Signalen, die Stammzellen sagen, in welche Richtung sie sich weiterentwickeln und wohin sie wandern sollen.“ Die Zusammenarbeit mit anderen Schering-Forschern in Berlin und Richmond, USA, sei sehr wichtig, um auf diesem Gebiet an der vordersten Front zu bleiben. Auf dem Weg zur revolutionären MS-Therapie sind aber noch zahlreiche Fragen offen. So lernen die Forscher gerade erst, wie wichtig umgebendes Gewebe für eine

„Mein Team wird Testsysteme entwickeln, die speziell auf die Belange regenerativer Medizin ausgerichtet sind.“ Dr. Fiona McDonald, Leiterin der Pharmakologie

MRT-Spezialist Masafumi Okumura, Pharmakologie

Zellbiologe Dr. Fumiki Shimada, Abteilung für regenerative Medizin

„Derzeit entwickeln wir Tiermodelle. Mit MRT wollen wir dabei sichtbar machen, wie gut eine MS-Behandlung funktioniert.“

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„Wir suchen auch nach Signalen, die den Stammzellen sagen, in welche Richtung sie sich weiterentwickeln sollen.“


erfolgreiche Zelltherapie ist. Morser:„Wir suchen derzeit Antworten auf Fragen wie: Können wir Nachbarzellen gezielt verändern? Wie sieht überhaupt die ideale Umgebung für eine gelungene Regeneration aus? Außerdem wird es viel Arbeit bereiten, Medikamente sicher zu machen.“ Für die Prüfung positiver und negativer Effekte der entwickelten Methoden entsteht derzeit in Kobe eine hoch spezialisierte Arbeitsgruppe für Pharmakologie: „Es ist schon aufregend, etwas völlig Neues aufzubauen“, freut sich Dr. Fiona McDonald, die vom Forschungszentrum Berlin nach Japan umgezogen ist. Ihr Team wird Testsysteme entwickeln, die speziell auf die Belange regenerativer Medizin ausgerichtet sind. Mitarbeiter Masafumi Okumura arbeitet bereits mit den Berliner Schering-Spezialisten für bildgebende Diagnostik an einer Magnetresonanztomographie für Tiere: „Damit wollen wir sichtbar machen, wie gut eine MS-Behandlung funktioniert.“ Von den Anstrengungen in Sachen regenerativer Medizin wird auch die Krebsforschung profitieren: Es gibt zunehmend

„Wir wollen die im Körper ablaufenden Prozesse verstehen, wenn von außen zugegebene Stammzellen das Gewebe reparieren.“ Professor John Morser, Leiter der Abteilung für regenerative Medizin

Asien boomt In Asien ist derzeit ein heftiger Kampf um die besten Experten der Biomedizin entbrannt. Überall entstehen öffentlich finanzierte Wissenschaftszentren, die Forscher und Industrie anlocken sollen. Beispiel Singapur. 2003 wurde dort Biopolis eröffnet, in dem 1200 Genforscher, Nanotechnologen, Molekularbiologen und Stammzellexperten aus aller Welt arbeiten. Im Forschungspark Kobe nahm jüngst die RIKEN-Organisation ihr Zentrum für Entwicklungsbiologie in Betrieb. Es ist mit 500 Forschern das größte seiner Art und beheimatet hervorragende Gruppen für Stammzellforschung. Hinweise, dass bösartige Tumoren von deregulierten Stammzellen ausgehen, den Krebsstammzellen. „Stoffe, die alterungsbedingte Veränderungen von Stammzellen rückgängig machen, sind vermutlich auch ein sehr gutes onkologisches Medikament. Danach sucht unsere Zelltherapie-Abteilung“, sagt Osamu Nakanishi, der Leiter Onkologie. Die Stammzellforscher lernen umgekehrt aber auch von den Onkologen, weil diese auf der Suche nach neuen Zielstrukturen für potenzielle Krebsmedikamente schon seit Jahren Moleküle im Zellkern untersuchen: Dort sitzen Proteine für Signale, die die Reproduktion von Stammzellen stimulieren oder unterdrücken. Bisher hat sich Nakanishis Team erfolgreich auf Chromatinmodulatoren spezialisiert – Substanzen, die Signale für das Ablesen oder Unterdrücken genetischer Information empfangen. Sie fanden MS 275, das bei Krebszellen das Selbstmordprogramm Apoptose auslöst und sie empfindlicher für andere Therapien macht. „Dieser Stoff wird in den USA bereits an Patienten getestet“, weiß Nakanishi. Weil das Konzept so gut funktioniert, hat Akiko Saito viel zu tun: „Wir übertragen die Strategie auf neue Zielstrukturen, von denen es sehr, sehr viele gibt“, sagt die

Biochemikerin. Sie arbeitet gerne in Kobe – und zwar nicht nur wegen der neuen Labors: „Hier sind so viele Wissenschaftler in der Nähe“, da bekomme man viel eher mit, wenn Kollegen einen neuen Ansatzpunkt in der Krebsbekämpfung entdeckten. Auf die Nachbarinstitute hoffen auch die Zelltherapeuten und Experten für regenerative Medizin. Schon heute treffen sie sich mit Mitarbeitern des RIKEN-Instituts und plaudern über mögliche gemeinsame Projekte. Aber: „Die Kooperationen sollen auf ganz Japan ausgedehnt werden“, verrät Kazuhiro Sakurada, der als japanischer Stammzellforscher der ersten Stunde über sehr gute Kontakte verfügt. Schering scheint sein Forschungszentrum Japan also in guten Nährboden gepflanzt zu haben. In einen Boden, den der Wirbelsturm Tokage mit seinen sintflutartigen Regenfällen zur Eröffnungszeremonie schon reich begossen hat. Japanische wie deutsche Festredner stellten übereinstimmend fest, so viel Regen gelte in ihrer Peter Spork Kultur als positives Omen.

Dr. Osamu Nakanishi, Leiter der Onkologieabteilung

„In den USA wird derzeit ein Stoff an Patienten getestet, den wir gefunden haben. Er löst bei Krebszellen eine Apoptose aus.

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Allergien

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us dem Badespaß mit seinen Freunden wurde nichts: Kaum lag der Junge im hohen Gras, schwollen Augen und Nase in beängstigendem Tempo zu – der furiose Start einer Allergiker-Karriere. Fortan plagte ihn der Heuschnupfen. Die in der Pollensaison triefende Nase raubte ihm immer wieder den Schlaf, und sein Sommerurlaub wurde mitunter zur Tortur. Was er nicht wusste: Seine allergische Rhinokonjunktivitis, wie der Heuschnupfen in der Fachsprache genannt wird, ist nicht nur auf Symptomebene behandelbar, sondern auch heilbar, indem das Immunsystem schrittweise an die Allergieauslöser, die Allergene, gewöhnt wird. Schon im ersten Jahr gehen Triefen und Niesen um 70 Prozent zurück, im dritten Jahr um 90 Prozent und der Verbrauch an Medikamenten zur Linderung der Symptome gar um 95 bis 100 Prozent. Und was er ebenfalls nicht wusste: Diese Ursachenbehandlung kann dem so genannten allergischen Marsch entgegenwirken, bei dem die Entzündung der Schleimhäute über die Luftröhre zur Lunge wandert. „Eine Manifestation als Asthma bronchiale kann heute verhindert werden“, sagt Professor Ulrich Wahn von der Virchow-Klinik in Berlin. Ohne Behandlung entwickelt sich bei mehr als der Hälfte der Allergiker aus dem lästigen, aber noch harmlosen Heuschnupfen ein mitunter lebensbedrohliches Asthma. Mit rechtzeitiger Immunbehandlung kommt es dagegen nur bei jedem Vierten zur Verlagerung der allergischen Entzündung von der Nase in die Lunge. Die Chance auf Heilung und Vorbeugung wird viel zu selten ergriffen. Dabei sind Allergien alles andere als eine Bagatellerkrankung. „Sie können chronisch werden; sie gehen mit hohen Einbußen an Lebensqualität und volkswirtschaftlichen Verlusten einher. Und: Sie können tödlich enden“, mahnt Allergie-Experte Professor Johannes Ring von der Universitätsklinik München. Mittlerweile leidet jeder fünfte Erwachsene an Heuschnupfen,

aber nur jeder Zehnte davon wird adäquat versorgt, so Allergologe Ring. Dabei kostet eine rechtzeitige Immuntherapie langfristig nur rund halb so viel wie das stete Lindern der Symptome durch Medikamente. Allergien sind beileibe nicht die einzigen Krankheiten, bei denen die empfindliche Balance des Immunsystems gestört ist und Entzündungen die Folge sind: Auch bei Asthma, rheumatoider Arthritis, Schuppenflechte, Morbus Bechterew, Morbus Crohn, Multipler Sklerose und Neurodermitis greift die Körperabwehr vermeintliche Gegner an und schädigt so just den Organismus, den sie eigentlich schützen sollte. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass ein aktives Immunsystem vor Krankheiten schützt, ist in diesen Fällen eine Drosselung der Immunabwehr angezeigt. Gut 30 neue Wirkstoffe erwartet der Verband Forschender Arzneimittelhersteller bis 2007 im Bereich der Entzündungskrankheiten – etwa so viel wie für die Bereiche Herz-Kreislauf, Krebs und Infektionen. Die neuen Mittel wollen dabei weniger die außer Kontrolle geratenen Immunzellen zerstören, als vielmehr ihre Kommunikation untereinander behindern. Noch kompromissloser als bei den Entzündungskrankheiten gehen Ärzte mitunter bei Transplantationen vor: Soll etwa Knochenmark verpflanzt werden, muss vorher das Immunsystem des Empfängers restlos zerstört werden. Die hervorragenden Ergebnisse bei der Behandlung von Leukämien im Kindesalter werden jedoch meist auf anderem Weg erzielt: Chemotherapien drängen die Krebszellen zurück und Blut aufbauende Medikamente stimulieren die Bildung roter und weißer Blutkörperchen. Bei der Organverpflanzung ist das Vorgehen nicht ganz so brachial wie bei der Transplantation von Knochenmark: Sollen Herz, Leber oder Nieren ausgetauscht werden, genügt eine Kombination aus kurzfristiger Bekämpfung weißer Blutkörperchen mit einer langfristigen pauschalen Immununterdrückung. Die Fortschritte der Therapie lassen dabei verpflanzte Organe immer länger funktionieren: Weniger als die Hälfte der Anfang der 80er Jahre trans-

Wenn Immunzellen Amok laufen Die Regeneration des Immunsystems kann Stimulieren bedeuten, aber auch Abschwächen oder Unterdrücken. Je nach Krankheit.

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Das Bild zeigt zwei ausgereifte Pollenkörner. Die stachlige Oberfläche dient der besseren Haftung tierte Körperabwehr eines Allergikers ausgerechnet mit dem Stoff, den er am meisten fürchtet – und das in steigenden Dosierungen. Kein Wunder also, dass trotz noch so gut standardisierter Extrakte sich bei manchen Patienten die Körperabwehr nicht einlullen lässt, sondern im Gegenteil heftig reagiert. Um das zu verhindern, so die Überlegung der Forscher, müsste man die Strukturen auf den Allergenen, die für die überschießende Reaktion verantwortlich sind, entfernen und gleichzeitig die Strukturen, die für die Ausbildung der Toleranz sorgen, behalten. Dass sich die Idee prinzipiell auch in die Tat umsetzen lässt, zeigte kürzlich eine Laborstudie von ALKSCHERAX – einem Gemeinschaftsunternehmen der Schering AG und ALK-Abelló in Dänemark – mit gentechnisch veränderten, gewissermaßen „entschärften“ Birkenpollen. Neben der Zähmung der Allergene verfolgen die Forscher noch ein zweites Ziel – die Abschaffung der Spritze. Kein Mensch lässt sich gerne pieksen, und die Aussicht, sich drei Jahre lang immer wieder der Prozedur zu unterziehen, schreckt viele ab. Schon 1991 führte deshalb ALK-SCHERAX als erstes Unternehmen die sublinguale Therapie ein – dafür

tropft man den Extrakt einfach unter die Zunge. In bisherigen Studien zur Therapie des allergischen Schnupfens schneiden die Tropfengabe und die Spritze unter die Haut etwa gleich gut ab. Für Experten wie Professor Thomas Bieber von der Universitätshautklinik in Bonn ist die sublinguale Darreichung auf jeden Fall der „Königsweg“ der Immuntherapie. Denn schließlich, so seine Begründung, nehmen wir alle Fremdstoffe, die unser Immunsystem zu tolerieren lernt, über den Mund auf. Dafür sitzen in der Mundschleimhaut spezialisierte Immunzellen, die als äußerster Grenzposten des Organismus alle eingehenden Substanzen prüfen. So hat sich ALK-SCHERAX auch nicht mit der Entwicklung der Tropfen zufrieden gegeben. Endziel ist die Gabe der Allergenpräparate als Tablette, die unter der Zunge zergeht und dabei definierte Mengen Allergen in einem definierten Zeitraum abgibt. Die kausale Allergietablette ist in der Endphase der Entwicklung, und die Zulassung wird in Kürze erwartet. Erstmals steht den allergologisch tätigen Fachärzten damit eine neuartige Kausaltherapie zur Verfügung, die in großen klinischen Studien mit bisher nicht vorhandenen Fallzahlen geprüft wurde. Die Ergebnisse dokumentierten, dass mehr Patienten mit allergischer Rhinitis als bisher von dieser Kausaltherapie profitieren können. Die Pillenform hätte für den Patienten noch einen enormen Vorteil: Trocken gelagert, halten die Allergene weit besser als in Lösung – Konservierungsstoffe werden überflüssig, Hitze und Kälte spielen keine Rolle. Allerdings wird die Pille nicht auf einen Schlag alle Spritzen ersetzen. Jede Tablette gegen einen bestimmten Allergietyp muss schließlich ihren eigenen Zulassungsmarathon absolvieren. Der ist teuer und dauert seine Zeit. Zunächst werden sich also nur die Patienten mit den häufigsten Allergien über den Abschied von der Spritze freuen können: Menschen mit Allergien gegen die Hausstaubmilbe, gegen Gräserund Baumpollen, in den USA auch gegen Ragweed und in Asien gegen die japanische Zeder. Mit diesen Aussichten wird sich auch der Heuschnupfen-Junge, inzwischen zum Mann gereift, vielleicht mit dem Gedanken an eine spezifische Immuntherapie anfreunChristian Weymayr den können.

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FRANK PETERSCHRÖDE/BILDERBERG; MECKES&OTTAWA/EOS/AGENTUR FOCUS

plantierten Organe hielten fünf Jahre durch, von den Ende der 90er Jahre verpflanzten waren es dagegen mehr als 70 Prozent, die fünf Jahre funktionierten. Diese Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Immunsystem zu regenerieren mitunter ein kühnes Unterfangen ist. So konfrontiert beispielsweise die spezifische Immuntherapie, früher auch „Hyposensibilisierung“ genannt, die irri-


Kontrazeption

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fähigkeit gar nicht erst zu sprechen. Man könnte sie direkt auf eine Eizelle packen – sie wüssten nichts mit ihr anzufangen. Nein, jetzt heißt es erst mal büffeln und hart trainieren. Dazu paddeln die Jungspunde durch einen kurvenreichen Kanal, den Ductus epidydimidis, in den Nebenhoden. Eine Woche lang durchlaufen sie nun ein Spezialtraining, bei dem entscheidende Reifungsprozesse stattfinden. Brav stillsitzen ist angesagt, denn die leicht säuerliche Umgebung hemmt in dieser Phase jegliches Gezappel. Maximal vier Wochen können sie nach vollendeter Reifung im Nebenhoden bleiben. Wenn unglücklicherweise in dieser Zeit der Mann nicht sexuell aktiv ist – hauchen sie an Ort und Stelle ihr junges Leben aus. Sie werden abgebaut und vom Körper resorbiert. Zu einer Expedition nach Terra in-

Scheidengewölbe sammelt, nicht ahnt, ist, dass sie eigentlich noch immer „dumme kleine Jungs“ sind, unfähig eine Eizelle zu befruchten. Denn erst ganz oben im Eileiter erhalten sie durch eine weitere Reifungsphase (Kapazitation) den allerletzten Schliff. Östrogene fördern dort noch eine Vielzahl biochemischer Prozesse in den Spermien. Doch nun heißt es erst mal Kräfte sammeln. Gut, dass doch noch einer an die Lunchpakete gedacht hat! Denn nur mit Hilfe mitgebrachter Energiereserven können die Spermien einige Tage in der Fremde überleben. Jetzt geht es an den beschwerlichen Aufstieg. Ein Schleimpfropf am Uterusmund stellt sich ihnen als erstes Hindernis in den Weg. Ihn zu durchdringen, schaffen nur die kräftigsten Schwimmer. Wer es geschafft hat, paddelt weiter, immer der Nase nach: Wissenschaftler fanden jüngst Riechrezeptoren auf den Spermienköpfen, die auf einen maiglöckchen-

Terra incognita

Durch die Molekularbiologie lassen sich heute der Werdegang der Spermien und ihre Reise zur Eizelle auf molekularer Ebene verfolgen. Das Ergebnis: neue Optionen für sichere Verhütungsmethoden cognita machen sich in der Regel etwa 150 bis 300 Millionen Spermien reisefertig. Während der Ejakulation pumpt sie die kräftige Muskulatur der Samenleiter in die Harnröhre. Und dann geht es in rhythmischen Wellen ab ins..... Halt, halt, HALT! Ihr habt wohl alles wieder verlernt, was? Wer wird denn Flüssigkeit und Proviant vergessen? Also: erst mal alkalisches Sekret (pH 7,4) aus der Samenblase tanken. Dann Fructose, Lipide, Vitamin C und andere Snacks aus der Prostata einpacken – und dann kann es weitergehen! Mit etwas Glück landen sie sicher im weiblichen Genitaltrakt. Was die Truppe, die sich nun im hinteren

ähnlichen Duft reagieren. Er scheint die Spermien chemotaktisch ins Ziel zu lenken. Doch das ist noch lange nicht in Sicht. In den Steilwänden des Uterushalses können Spermien unter günstigsten Bedingungen sechs Tage biwakieren und langsam den Eileiter hinaufschwimmen. Echte Kampfschwimmer sind jetzt gefragt, denn hier ist es so zähflüssig, als würde ein Mensch einen mit dickflüssigem Sirup gefüllten Swimmingpool durchqueren. Drei Millimeter pro Minute – mehr ist nicht drin. Nur ein paar Dutzend schaffen es, die anderen bleiben entkräftet auf der Strecke. Nun zeigt sich, ob der Zeitplan perfekt war. Denn bei gutem Timing muss hier irgendwo ganz oben eine reife Eizelle sein.

RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM; THE PICTURE DESK/KOBAL COLLECTION

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er Erfolg einer Expedition hängt von vielen Dingen ab. Die Reiseroute muss exakt geplant, die Karte vom Zielgebiet genau sein. An ausreichend Proviant sollte man denken, das Equipment vorher prüfen, den Zeitplan gut abstimmen. Das Wichtigste aber ist die Auswahl der Teilnehmer. Kraft, Durchhaltevermögen, Fachwissen, Köpfchen, Engagement und Training sind gefragt. Trotzdem macht mitunter einer schlapp. Deshalb ist es gut, ein paar Ersatzmänner dabei zu haben. Ziel jeder Expedition ist es, das Einzigartige zu finden, und – vor allem – Erster zu sei. Beim Spermienteam ist das kaum anders. Aber beginnen wir ganz vorn. Denn bevor ein Spermium überhaupt seine gefahrvolle Reise antreten kann, muss es erst einmal entstehen, aufwachsen und diverse Reifungsprozesse durchlaufen. Frauen kommen mit rund zwei Millionen Eizellen, den Oozyten, auf die Welt. Sie durchlaufen später nur noch finale Reifungsstadien. Dieser Prozess wird in der Menopause eingestellt. Männer produzieren erst ab der Pubertät Spermien aus frühen, noch omnipotenten Vorläuferzellen (Spermatogonien), dann aber zeitlebens. Ort der Produktion (Spermiogenese) sind die Hoden. In je 250 Kammern, den Hodenläppchen, sitzen wiederum je etwa 1.000 Hodenkanäle. In ihnen findet unter Einfluss von Hormonen, hauptsächlich des männlichen Sexualhormons Testosteron, und in engem Feedback mit dem Gehirn die Umwandlung von Stammzellen zu primären Spermienzellen statt. Testosteron wird gleich nebenan, in den Leydig-Zellen, gebildet und bereitgestellt. Sind diese Speicher gefüllt, bekommt das Gehirn eine Meldung und schickt sofort die Anweisung „Stopp! Reicht vorerst!“ – und die Produktion wird vorübergehend eingestellt. Praktischerweise sind in den Hodenkanälen schon Camps fürs Basistraining integriert – mit altersübergreifenden Gruppen. Denn neben primären Spermatozyten tummeln sich dort junge Spermienzellen in allen Entwicklungsstadien. Wenn sie nach etwa 72 Tagen aus den Hoden entlassen werden, sehen sie zwar schon aus wie die Großen, sind aber noch ziemlich „grün hinter den Ohren“. Von Befruchtungs-


er Erfolg einer Expedition hängt von vielen Dingen ab. Die Reiseroute muss exakt geplant, die Karten vom Zielgebiet genau sein. An ausreichend Proviant sollte man denken, das Equipment vorher prüfen, und den Zeitplan gut abstimmen. Das Wichtigste aber ist die Auswahl der Teilnehmer. Kraft, Durchhaltevermögen, Fachwissen, Köpfchen und Engagement sind gefragt. Trotzdem macht mitunter einer schlapp. Deshalb ist es gut, ein paar Ersatzmänner dabei zu haben. Vorher wird natürlich gemeinsam trainiert. Beim Spermienteam ist das kaum anders. Das Einzigartige zu finden und – vor

Woody Allen in seinem Film „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“ in der Rolle eines Spermiums kurz vor der Ejakulation

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Spermien umzingeln die Eizelle (Durchmesser zwischen 100 und 130 Mikrometern). Sie versuchen deren Hülle aus vernetzten Glykoproteinen, die Zona pellucida, zu durchdringen. Doch es kann nur eines geben, das es letztendlich schafft. (Rechts: Filmszene mit Woody Allen)

Spermien sind insgesamt etwa 60 µm lang. In ihrem ovalen Köpfchen tragen sie die Erbinformation

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Kontrazeption

LENNART NILSSON/BONNIER FÖRLAG; CINETEXT

Tatsächlich, da ist sie. Die letzten Wackeren umzingeln sie, versuchen ihre Hülle aus vernetzten Glykoproteinen, die Zona pellucida, zu durchdringen. Doch es kann nur einen geben. Ein spezieller Rezeptor in der Zona tritt in Kontakt mit dem Glücklichen. Calcium strömt in das Zytoplasma des Spermiums ein. In seinem Köpfchen werden Enzyme freigesetzt, die die Fähigkeit haben, die Zona zu durchlöchern. Und schwupps – es ist drin. Innerhalb der nächsten 24 Stunden erfolgt die erste Zellteilung. Nach jeweils weiteren zwölf Stunden die nächsten. Im 32- bis 64-Zellstadium bildet sich die Blastozyste, die nach vier bis fünf Tagen den Uterus erreicht, dort aus ihrem schützen-

den Mantel, der Zona pellucida, schlüpft und sich einnistest. Für unser Spermium ist es das Ende der Expedition – für die Forscher bei Schering allerdings noch nicht. Im Grunde beginnt sie jetzt erst richtig. Dank der Molekularbiologie lassen sich heute der Werdegang der Spermien und ihre Reise zur Eizelle auf molekularer Ebene verfolgen. Dadurch entstehen neue Optionen für sichere Verhütungsmethoden. Mit einer ausgefeilten Testosteron-Gestagen-Kombination etwa lässt sich die Spermienbildung blockieren. Das Gehirn bekommt die Nachricht „Wir haben hier unten ausreichend Testosteron“. Es ist eine Falschmeldung, aber sie genügt, um die Spermiogenese zu stoppen. Negatives Feedback nennen Pharmaforscher das. Auf dieser Basis entwickeln Schering und Organon derzeit gemeinsam ein Verhütungsmittel für den Mann. Es befindet sich in der klinischen Phase II. Doch damit

Schering unterstützt Familienplanung: Damit jedes Kind ein Wunschkind wird Armutsbekämpfung und nachhaltige Entwicklung sind nur möglich, wenn sich die Weltbevölkerung stabilisiert. Oft fehlt es an Geld. Aber auch religiöse und kulturelle Zwänge sowie fehlende Information verhindern, dass Frauen aktiv ihre Familie planen. 1961 brachte Schering die erste Pille in Europa auf den Markt. Seither sieht der Konzern seine soziale Verpflichtung auch im Bereich der Familienplanung. Angefangen hat es in Indien und Kolumbien, heute unterstützt Schering, gemeinsam mit Wyeth, Organon und Gideon Richter, Projekte der International Planned Parenthood Federation (IPPF) in 125 Ländern. Mit Produkten und Logistik. Schering ist Teil eines internationalen Netzwerkes, zu dem unter anderen

nicht genug: Dr. Ursula-F. Habenicht, Leiterin der Gynäkologie- und Andrologie-Forschung bei Schering, und ihr Team suchen außerdem nach völlig neuen, nichthormonellen Ansätzen. Sie haben die Spermienreifung im Visier. Moleküle im Nebenhoden, die mit den Spermien über Signalketten korrespondieren, lassen sich blockieren. Oder Rezeptoren, die direkt auf dem Spermium sitzen. Die Schering-Forscher haben bereits interessante Wirkstoff-Kandidaten ausgemacht. Auch die Kapazitation der Spermien im

die Weltbank, die Weltgesundheitsorganisation (WHO), der United Nations Fund for Population Activities (UNFPA) und Privatorganisationen gehören. Kontrazeptiva – neben AntibabyPillen, auch Intrauterinsysteme, Depotspritzen und Hormonimplantate – werden der IPPF zum Selbstkostenpreis zur Verfügung gestellt. Die Produkte, die Frauen in Bangladesh oder Krisengebieten wie Ruanda und dem Sudan kostenlos erhalten, unterscheiden sich nicht von denen, die in europäischen Apotheken verkauft werden. Lutz Schaffran von Schering Family Planning International: „Mehr als zwei Milliarden Zykluspackungen haben wir seit 1961 in die Dritte Welt geliefert.“ Informationskampagnen wie CELSAM, die Schering 1999 in ganz Lateinamerika initiierte, tragen dazu bei, dass sich das Wissen über Familienplanung verbreitet – damit auch in diesem Teil der Welt irgendwann einmal jedes Kind ein Wunschkind ist.

weiblichen Genitaltrakt bietet Optionen –sowohl für männliche als auch weibliche Kontrazeption. Sogar eine „Duftfalle“ ist denkbar, die Spermien so verwirrt, dass sie chemotaktische Signale der Eizelle nicht mehr erkennen können. Und selbst ganz zum Schluss, schon nach der Befruchtung, lassen sich noch unüberwindbare Hindernisse errichten. Gesucht wird eine Substanz, die verhindert, dass sich die Blastozyste einnistet. Nur wenige Tage im Zyklus sind dabei wirklich entscheidend. Verhütung nur dann, wenn Frau sie wirklich braucht, rückt mit diesen Konzepten in greifbare Nähe. Catarina Pietschmann

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Testverfahren

Wir lassen's leuchten

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ie Provence mit bloßen Worten zu beschreiben, wird ihr nicht gerecht. Man muss sie fühlen, riechen, schmecken: die ersten warmen Tage im Frühling, ihre Lavendelfelder im Sommer, den Côte du Rhone im Herbst. Und mittendrin in dieser lieblichen Landschaft liegt das Nuklearforschungszentrum von Marcoule. Auf dem 250 Hektar großen Areal hat auch die Schering-Tochter CIS bio international ihren Sitz. Das Gelände steht unter Kontrolle: Wer hinein will, muss durch die

Dr. Iris Pribilla leitet die Forschungsgruppe „Intrazelluläre Molekulare Bildgebung“ strengen Sicherheitskontrollen. Doch ist man erstmal drin, entspannt sich die Atmosphäre schnell. „Von meinem Bürofenster blicke ich direkt auf einen Olivenhain“, sagt Dr. Iris Pribilla. Vor zwei Jahren kam die Schering-Biologin von Berlin zu CIS, um hier die Gruppe „Intrazelluläre Molekulare Bildgebung“ zu leiten. Nach anfänglichen Sprachbarrieren spricht sie inzwischen fließend Französisch und ist voll in ihrem Element. Bei Schering leitete sie die Abteilung High Throughput Screening (HTS).

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Mit diesem Hochdurchsatzverfahren durchsuchen Pharmafirmen ihre Substanzbibliotheken, um geeignete Wirkstoffkandidaten aufzuspüren. CIS bietet seit rund zehn Jahren spezialisierte Tests für HTS an. Schering war einer der ersten Kunden, die die dabei verwendete Homogenous Time Resolved Fluorescence (HTRF) nutzten. Diese Technik ermöglicht es, die Wechselwirkungen zwischen Proteinen durch ein starkes, spezifisches Fluoreszenzsignal zu quantifizieren. HTRF beruht auf dem Energietransfer von einem Spender- (Donor) auf ein Empfängermolekül (Akzeptor). Beide sind Farbstoffe, die an Eiweiße gekoppelt werden können. Regt man den Donor mit Laserlicht an, kann dieser die Energie an den Akzeptor übertragen. Damit dieser Fluoreszenz-Resonanz-Energietransfer stattfindet, dürfen die beiden Farbstoffe aber nur wenige millionstel Millimeter voneinander entfernt sein. Diese Nähe ist nur dann gegeben, wenn die an die Farbstoffe gekoppelten Proteinmoleküle aneinander gebunden sind. Mit anderen Worten: Der Energietransfer ist ein Indikator für eine Wechselwirkung der zwei Eiweißmoleküle. Iris Pribilla beschreibt das Grundprinzip dieses Screenings mittels HTRF: „Die Forscher mischen ihre Testkomponenten mit einem Proteinkomplex, der einen Donor- und einen Akzeptor-Farbstoff trägt. Anschließend messen sie, ob der Komplex auf die Substanzen reagiert und sich verändert. Die Fluoreszenz verschwindet dann, oder sie wird stärker.“ So lässt sich etwa ermitteln, ob ein Wirkstoffkandidat einen bestimmten Rezeptor, also einen Zellschalter, beeinflusst. „HTRF ist ein sehr ele-

gantes Verfahren, um mit HTS geeignete Wirkstoffe zu finden, mit denen sich ein gewünschter Rezeptor anoder abschalten lässt“, so Pribilla. Gemeinsam mit ihrem Team hat die Biologin es sich inzwischen zur Aufgabe gemacht, das Prinzip der HTRF auch auf Tests an lebenden Zellen zu übertragen. Die meisten Pharmasubstanzen wirken schließlich auf Zielproteine (Targets), die sich in lebenden Zellen befinden und Teil eines großen interaktiven Netzwerkes mit weiteren Proteinen sind. Um geeignete Wirkstoffkandidaten zu ermitteln, ist es daher wichtig, die Aktivität der Substanzen in der natürlichen Umgebung der Targets zu ermitteln, dort also, wo sie von ihren Interaktionspartnern beeinflusst werden. Immer mehr kommen aus diesem Grund zellbasierte HTSTests zum Einsatz. Allerdings können in diesen Screenings bisher nur stabile Endzustände von Proteinkomplexver-

THOMAS RAPSCH/SCHERING; CIS BIO INTERNATIONAL

Forscher von CIS bio international entwickeln neue Tests. An lebenden Zellen sollen diese sichtbar machen, ob bestimmte Moleküle das Potenzial zum Pharmawirkstoff haben.


Die Mikroskop-Ansichten sind nicht nur farbenfroh, sondern auch sehr aufschlussreich. Links: Farbstoffe machen Zellkern (blau) und Mitochondrien (grün) sichtbar. In der Mitte wurde ein wichtiges Protein im Cytoskelett mit einem grünen Farbstoff markiert. Rechts: Hier verändert ein gekoppelter Farbstoff die Farbe bestimmter Zellkerne in lebenden Zellen. Dabei erscheinen nur solche Zellkerne rosa, die ein bestimmtes DNA-Fragment exprimiert haben

änderungen erkannt werden. Das Problem: Die Zellen müssen fixiert oder anderweitig zerstört werden, um Zugang zu den intrazellulären Targets zu erzielen. In lebenden Zellen ist es bisher unmöglich, die Substanzwirkung über einen längeren Zeitraum zu verfolgen – vorübergehende Effekte werden so leicht übersehen. Anders mit HTRF. „Damit können wir die molekularen Prozesse in lebenden Zellen sichtbar machen“, erklärt die Biologin. So wird es Wirkstoffforschern möglich, den Effekt ihrer Testsubstanzen auf die Interaktion von Proteinen in den Zellen in deren natürlicher Umgebung zu untersuchen. „Ein enormer Vorteil gegenüber Tests in Eiweißlösungen oder zerstörten Zellen“, so Pribilla. Erste Erfolge können die CIS-Forscher schon vorweisen. Etwa ein Testsystem, das der Wechselwirkung von Proteinen auf der Oberfläche lebender Zellen via HTRF auf die Spur kommt. Unterstützt wird Iris Pribilla von einem Team junger, internationaler Wissenschaftler, die mit interdisziplinärer Expertise zum Gelingen des Projekts beitragen. Das eigentliche HTRF-

Herzstück entsteht dabei im Chemielabor. Dort köcheln Chemiker an den Kryptaten, die die CIS-Technologie so besonders machen. Kryptate sind dreidimensionale Käfige, in denen Metall– ionen wie Europium eingeschlossen werden und somit verborgen sind (kryptos: griech. für verborgen). Der Käfig sammelt Licht ein und leitet es zum Europium, das daraufhin lang anhaltend fluoresziert. Kryptat-Struktu-

wurde daraus das HTRF-Testverfahren, das heute unverzichtbar bei der Suche nach der Medizin von morgen ist. Entscheidender Vorteil der Kryptate: Sie leuchten länger als andere Fluoreszenzfarbstoffe, auch wenn eine Millisekunde nicht wirklich lang klingt. Die lange Leuchtdauer ist für HTS-Tests äußerst wichtig, denn viele Testsubstanzen besitzen eine eigene, jedoch kürzere Fluoreszenz. Erst wenn deren Licht erloschen ist, wird daher die von den Kryptaten induzierte Fluoreszenz gemessen. So umgeht man Überlagerungen und erhält ein spezifisches Kryptat-Signal. Kryptate sind Diven, deren Auftritt Geduld verlangt. Zehn bis 15 Syntheseschritte sind nötig – und dauern mehrere Monate. Nur bei CIS entstehen diese komplizierten Strukturen. Ungefähr 30 verschiedene Kryptate haben dort schon das Licht der Welt erblickt. Wenn alles klappt, können Pribilla und ihr Team bereits 2007 einen marktfertigen Test präsentieren. Einige Stolpersteine sind noch aus dem Weg zu räumen. Schon heute machen zellbasierte Screenings mehr als ein Drittel der Wirkstoffsuche per HTS aus, Tendenz steigend. Intrazelluläre Testverfahren passen bestens zu dieser Entwicklung. Auch CIS-Forschungsleiter Dr. Gérard Mathis ist sicher, dass sein innovatives Projekt eine erfolgreiche Zukunft vor sich hat: „Wenn wir die HTRF-Technologie in die lebende Zelle oder eines Tages sogar in den lebenden Organismus bringen, öffnen sich damit neue Horizonte für die Wirkstofffindung. Wir werden die gesamte pharmazeutische Welt überraschen.“ Eva Königsmann

Kryptate sind schwierige Diven, deren Auftritt viel Geduld verlangt ren sind robust, extrem stabil und dadurch für die HTS-Tests besonders gut geeignet. Für die Entdeckung dieser komplexen Leuchtfarbstoffe erhielt Professor Jean Marie Lehn 1987 den Nobelpreis für Chemie. CIS begann schließlich, dessen Pionierarbeit weiterzuentwickeln. In Kombination mit weiteren fluoreszierenden Markern

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Die Kraft der Sehnsucht

Sehnsucht ist ein Motor. Er läuft heiß, dreht auf der Stelle. Der Mensch sollte daher manchmal Gas geben

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Sehnsucht ist: Wenn das Herz woanders schlägt als der Körper lebt – und der Mensch auf die Suche geht. Immer bis zur nächsten Anhöhe, zur nächsten Düne, zur nächsten Kurve...

ehnsucht ist: ständig einen Herzschlag vom Glück entfernt zu sein. Das Herz schlägt. Und schlägt. Und ist immer unterwegs. Sehnsucht ist: der Hoffnung eine Richtung geben. Sehnsucht ist: ein Magnet, der uns anzieht. „Nun nehmen Sie diese Flagge und pflanzen sie so weit nördlich auf diesem Planeten ein, wie Sie es nur eben schaffen“, sagte Gardiner Green Hubbard, Gründungsvorsitzender der National Geographic Society, 1891 zu Robert E. Peary. Der Entdecker nahm die Fahne, und als er sie am 6. April 1909 wieder absetzte, steckte sie im Nordpol. „Der Lohn von drei Jahrhunderten! Mein Traum und mein Ziel seit zwanzig Jahren! Endlich mein!“, jubelte Peary in seinem Tagebuch. Jeder Mensch hat seinen Nordpol. Und solange er lebt, ist er auf dem Weg dorthin. Seine Seele ist ein Kompass, mit einer Nadel, die zittert, und einer Spitze, die kit-

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CHRISTIES/ARTOTHEK; MARCO GARCIA/GETTY IMAGES

zelt. Wir sollten ihr folgen, sonst verirren wir uns. „Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht noch immer geschwinder, als jener, der ohne Ziel umherirrt“, schreibt Gotthold Ephraim Lessing. Denn wandern müssen wir. Selbst wenn wir sitzen, sind wir unterwegs. Der europäische Kontinent driftet mit 15 Millimetern pro Jahr nordwestwärts, noch 1000 Jahre und wir sind 15 Meter weiter vom Hier entfernt als jetzt. Das ist nicht viel, dennoch ist der Himmel über uns nicht der Himmel unserer Ahnen, und er wird nicht mehr der Himmel unserer Kinder sein. Denn die Welt hat niemals gelernt, stillzustehen. Die Erde lässt ihr einfach keine Ruhe. Sie macht sie schwingen. Ihre Oberfläche vibriert mit einer Frequenz von zwei bis sieben Hertz. Der Puls der Welt. Was ihn schlagen lässt, so stellten Forscher fest, sind Orkane auf hoher See. Der Ursprung der Schwingungen liegt immer dort, wo heftige Winterstürme toben. Von Januar bis März ist das der Nordpazifik, ab April macht er sich auf in seinen südlichen

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Teil, und ab Oktober kehrt er wieder zurück. Als hätte die Erde ein wanderndes Herz. Und wenn das so ist, wie sollen dann jene still sitzen bleiben, die auf ihr geboren werden? Ganz im Innern hat jeder Mensch einen Kern aus Magma, ein heißes Herz. Es glüht, es pulsiert. Es wandert. Immer lockt ein Horizont, und immer fühlt das Herz sich an, als flöge es schon mal vor. Sehnsucht ist: Wenn das Herz woanders schlägt, als der Körper lebt. Weil aber beides zusammengehört, beginnen Menschen zu suchen. Und suchend tasten sie sich durchs Leben. Immer bis zur nächsten Kuppe, bis zur nächsten Düne und zur nächsten Kurve. Immer gibt es eine Biegung und hinter der Biegung eine neue Welt. Und in dieser neuen Welt vielleicht einen Schlüssel zu uns selbst. Der Reiseschriftsteller Ernesto Grassi meint dazu in seinem Buch Reisen ohne anzukommen: „Je mehr wir uns von der Heimat entfernen, desto tiefer gelangen wir zu uns selbst.“ Vielleicht ist das der Unterschied zum Fernweh. Wer reist, der sucht das Weite. Und kommt spätestens

nach 40.000 Kilometern an. Wer sich sehnt, der sucht sein Herz. Und findet es vielleicht nie. Der Maler Paul Gauguin etwa konnte sich zeitlebens nicht entschließen, an einem Ort zu bleiben. Mit 35 gab er seinen Beruf als Aktienhändler auf, reiste nach Panama und Martinique, kehrte anschließend kurz nach Frankreich zurück – nur, um sich 1891 endgültig auf den Weg in die Südsee zu machen und der europäischen Zivilisation sowie „allem Künstlichen und Konventionellen“ ein für allemal zu entkommen. Er lebte in Tahiti und auf den Marquesas Inseln, schwängerte zahlreiche Frauen und gab ihnen gleich noch die Syphilis mit. Er sehnte sich und suchte. Eines von seinen Werken trägt den Titel: Wo kommen wir her? Was sind wir? Wo gehen wir hin? „Die Reise in die Ferne war eine Reise zurück, und nach Innen“, schreibt dazu der US-amerikanische Kunsthistoriker Kirk Varnedoe. Gauguin suchte außen, was ihm innen fehlte. Vielleicht fand er es deshalb nie. 1898, kurz nach Beendigung seiner Trilogie über die drei Fragen, ver-


suchte er, sich umzubringen. Das ist wohl die schmerzlichste aller Sehnsüchte: Wenn das Herz ins Leere schlägt. „Gefühle, die am meisten schmerzen, Gefühlswallungen, die am meisten quälen, sind diejenigen, die ganz absurd sind – Verlangen nach unmöglichen Dingen, eben weil sie unmöglich sind, Sehnsucht nach dem, was nie gewesen, Wunsch nach dem, was gewesen sein könnte“, schreibt der portugiesische Dichter Fernando Pessoa in seinem Buch der Unruhe. Und trotzdem: „Ein Traum ist unerlässlich, wenn man die Zukunft gestalten will“, meinte der französische Dichter Victor Hugo. Sehnsucht ist, was von den Träumen der Nacht den Morgen überlebt. Sie beginnen, einen auch im wachen Zustand zu begleiten. Da ist die Sehnsucht wie ein kleines Kind: Einmal geweckt, schläft sie so schnell nicht wieder ein. Und manchmal öffnet sich dann mitten am Tag ein Loch, und man schaut hindurch auf eine andere Welt. Auf eine Vergangenheit, eine Zukunft, vielleicht auch eine Ewigkeit. Manche Träume, einmal geträumt, scheinen

für immer zu sein. Und werden langsam zu Utopien einer glücklicheren Zeit. Für Johann Wolfgang Goethe war das die Liebe. Er nahm sein Herz recht oft in die Hand – und gab es ebenso oft fort. An mindestens 13 Frauen schrieb er während seines Lebens Liebesbriefe. Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe! Aus deinen Blicken sprach dein Herz. In deinen Küssen welche Liebe. O welche Wonne, welcher Schmerz! Du gingst, ich stand und sah zur Erden, Und sah Dir nach mit nassem Blick; Und doch, welch Glück! Geliebt zu werden, Und lieben, Götter, welch ein Glück!

Goethes Freude an der Liebe war auch eine Freude an der Sehnsucht. Sie ist das

einzige Gefühl, das den Missstand zum Glück erhebt. Wer sehnt, der hofft – und vielleicht ist das der Unterschied zur Vorfreude. Sehnen heißt nicht finden. Sehnen heißt suchen. Wer sich sehnt, ist süchtig, und nicht immer weiß man genau, wonach. Wer sich sehnt, den treibt es fort, nur weiß man nicht immer genau wohin. „Letzten Endes bleibt von diesem Tage das, was vom gestrigen blieb und vom morgigen bleiben wird: die unersättliche und nicht zählbare Begierde, immer derselbe und ein anderer zu sein“, schreibt Pessoa. Doch solange die Begierde glüht, so lange werden wir der Glut auch folgen. Und uns immer wieder an ihr verbrennen. Denn Sehnsucht ist auch: ein Kessel voller Kohlen. Er treibt uns an wie eine Dampfmaschine. Er brennt, und manchmal brennt er mit uns durch. 5043 Menschen gelingt die Flucht aus der ehemaligen DDR. Am 14. September 1962 entkommen 29 Ostberliner durch einen 135 Meter langen Tunnel. Sie hatten ihn von der Schönholzer Straße Richtung Westen gegraben. Im Juli 1971 schwimmt Peter Döbler 48

Sehnen heißt nicht Finden, Sehnen heißt suchen. Wer sich sehnt, ist süchtig, und nicht immer weiß man genau, wonach. Wer sich sehnt, den treibt es fort, nur weiß man nicht immer genau, wohin...

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Kilometer durch die Ostsee. 48 Stunden später ist er im Westen, im Gepäck hatte er nur fünf Tafeln Schokolade als Proviant. 1979 bauten Peter Strelzyk und Günter Wetzel zusammen mit ihren Frauen einen Heißluftballon. In 27 DDR-Städten kauften sie 1200 Quadratmeter Stoff, nähten aus ihm eine Hülle und bastelten sich Gondel samt Brenner. In der Nacht zum 16. September trägt sie der Wind nach Westen. Genau das hatte die deutsche Dichterin Hilde Domin gemeint, als sie schrieb: Nicht müde werden Sondern dem Wunder Leise Wie einem Vogel Die Hand hinhalten

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Manchmal jedoch scheint es, als flöge der Vogel vor einem her, und man selbst stolpert hinterdrein. 1994 gewann der arbeitslose Teppichleger Lothar Kuzydlowski 3,9 Millionen Mark im Lotto. Fortan flog er achtmal pro Jahr in Urlaub, bekam von seiner Frau zum Geburtstag ein 25.000-MarkStändchen der Band Truck Stop, kaufte einen Lamborghini, ließ sich scheiden und verlor mit 1,54 Promille seinen Führerschein. Er trank und war voll, aber die Leere in ihm blieb. Nur weil Träume Wirklichkeit werden, macht das die Wirklichkeit noch lange nicht traumhaft. Fünf Jahre nach dem Lottogewinn starb Kuzydlowski an Leberzirrhose. Fast scheint es, als hätten seine Sehnsüchte, als sie in die Realität hinüber traten, in seinem Innern ein Loch hinterlassen. Er verlor den Halt und stürzte hinein. „Der ärmste Millionär Deutschlands“ schrieb die tageszeitung. Was aber ist, wenn ausgerechnet Lothar Kuzydlowski die Wahrheit erkannte? Wenn Sehnsucht nicht mehr ist als eine Luftspiegelung in der Hitze des Alltags, eine

Selbst im Tod steckt eine allerletzte Sehnsucht. Todessehnsucht ist wie eine Verschiebung des Horizonts. Er rutscht aus dem Diesseits hinaus und ins Jenseits hinein...


Fata Morgana? Sie verführt Menschen und lässt sie dann in der Wüste allein. „Endstation Sehnsucht“ heißt ein Theaterstück des US-Amerikaners Tennessee Williams. Vielleicht wird der Mensch verrückt wie die Hauptfigur Blanche Du Bois, wenn er am Ende der Suche nichts findet als heiße Luft. Oder er stirbt. Oder beides. Im Abschiedsbrief an ihren Mann schrieb die Schriftstellerin Virginia Woolf: „Liebster, ich bin mir sicher, wieder verrückt zu werden. Und diesmal werde ich mich nicht erholen. Deshalb tue ich, was das Beste scheint. Nur eines will ich noch sagen: Ich schulde all mein Glück im Leben Dir. Wenn irgend jemand mich hätte retten können, dann Du. Alles ist mir abhanden gekommen, nur diese eine Gewissheit nicht.“ Zum Leben aber war das zu wenig. Am 28. März 1941 ertränkte sich Woolf. Die Steine in den Taschen ihres Kleids zogen sie auf den Grund. Aber mehr noch zog ihre Seele. Vorausgegangen waren Jahre tiefer Verzweiflung, in denen sie immer wieder gehofft hatte, ihre Krankheit in den Griff zu bekommen – bis die Krankheit sie in den Griff bekam. Von da an half nicht einmal mehr das Schreiben. Nichts hatte ihr das Leben gelassen, um sich festzuhalten. Keine Träume, keine Hoffnung. Wer sterben will, hat sein Leben schon vor dem Tod verloren. Aber genau deshalb steckt in jedem dieser Tode noch eine allerletzte Sehnsucht: das Leben woanders wieder zu finden. Todessehnsucht ist wie eine Verschiebung des Horizonts. Er rutscht aus dem Diesseits hinaus und ins Jenseits hinein. Von dort macht er, was ein Horizont immer tut. Er lockt die Seele. Sie folgt. Und fällt. Und besucht einen andern Ort. Wer weiß, Robert Thielicke was sie dort findet.

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Umfrage Fragen beantworten und gewinnen Als Dankeschön verlost livingbridges 10 iPod shuffles! Der neueste Trend: sich mal dem Zufall überlassen. Der iPod shuffle von Apple spielt Ihre Lieblingssongs jedes Mal in einer anderen Reihenfolge ab. Die Redaktion von livingbridges will nichts dem Zufall überlassen. Wir möchten daher gerne wissen, wie zufrieden Sie mit dem Angebot des Forschungsmagazins von Schering sind oder ob Sie Änderungswünsche haben. Bitte füllen Sie sowohl die grüne Antwortkarte als auch das Adressfeld aus, denn nur so können Sie an der Verlosung teilnehmen. Die Anonymität Ihrer Antworten bleibt gewahrt.

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I M P R E S S U M Ausgabe 1/2005 ■ Herausgeber: Schering AG, 13342 Berlin, Telefon (030) 468-1111, Fax (030) 468-153 05, www.schering.de ■ Verantwortlich für den Inhalt: Barbara Funk-Ott, Frank Richtersmeier ■ Redaktion: Barbara Funk-Ott, Frank Richtersmeier, Schering AG, Corporate Communication; Widera Kommunikation, Köln ■ Gestaltung: Magazine Factory, Hamburg ■ Gesamtherstellung: Druckhaus Berlin-Mitte ■ Redaktionsanschrift: Schering AG Corporate Communication, 13342 Berlin Produktnamen sind eingetragene Warenzeichen der Schering AG und ihrer Tochtergesellschaften. Erschienen im Juni 2005. ISSN 1617-6731

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Das größte Passagierflugzeug der Welt, der Airbus A380, macht sehr gut deutlich, dass große Entwicklungen nicht mehr im Alleingang eines einzelnen Fachmanns entstehen. Sie sind immer das Ergebnis einer Gemeinschaftsleistung, zu der Experten aus unterschiedlichen Disziplinen beigetragen haben. Und die sind sichtlich stolz auf ihr Ergebnis.


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Gesundheit ist unser höchstes Gut. Und weil wir das wissen, gestalten wir als erfolgreiches Pharmaunternehmen die Zukunft der Medizin. Mit der Kraft und dem Wissen unserer Mitarbeiter entwickeln wir Arzneimittel,von hohem medizinischen Wert: zur Fertilitätskontrolle und Hormontherapie für Frau und Mann, Diagnostika und Radiopharmakasowie dermatologische Präparate. Durch maßgeschneiderte Therapien gelingt es uns, Menschen mit lebensbedrohenden Krankheiten neue Perspektiven zu geben. Immer mit dem Ziel, die Lebensqualität nachhaltig zu verbessern. Ein Anspruch, dem wir uns heute und in Zukunft verpflichtet fühlen. Schering - making medicine work. www.schering.de


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