Programmheft „Komm!“ – Für eine Stimme und ein leeres Theater nach Friedrich Hölderlin

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SCHAUSPIEL

KOMM!

Für eine Stimme und ein leeres Theater nach Friedrich Hölderlin

Sich etwas vorzustellen, heißt zu werden, was man sich vorstellt. Emanuele Coccia


KOMM!

Für eine Stimme und ein leeres Theater nach Friedrich Hölderlin Alle 30 Minuten eine Vorstellung für eine Person Stimme: Nadine Geyersbach Konzeption und Text: Felix Rothenhäusler, Theresa Schlesinger Sound Design: Felix Lübkemann Produktionsleitung: Farina Holle

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NOTIZEN

Mitte März 2020 schließt das Theater. Die Mitarbeiter*innen, wie alle anderen Bewohner*innen der Stadt, befinden sich aufgrund der Corona-Pandemie in Selbst-Isolation. Das Allein-Sein, welches wir alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise erleben, wird unausweichlich. Wir sind gemeinsam allein, allein-allein, einsam-allein und dabei nicht wissend, wie lange diese Isolation gehen soll. Wie aber können wir dieses Allein-Sein produktiv werden lassen? Mit dieser Arbeit beginnt ein Schritt von der Loslösung des menschlichen Körpers hin zu einer neuen Form der Verbundenheit. Wir öffnen die Tür des Theater am Goetheplatz für eine einzelne Person und legen die Angst vor dem Allein-Sein ab, indem wir es zum Ereignis machen. „Das Lebendige in der Poesie ist jetzt dasjenige, was am meisten meine Gedanken und Sinne beschäfftiget. Es fehlt mir weniger an Kraft, als an Leichtigkeit, weniger an Ideen, als an Nüancen, weniger an Licht, wie an Schatten, und das alles aus Einem Grunde; ich scheue das Gemeine und Gewöhnliche im wirklichen Leben zu sehr. Weil ich zerstörbarer bin, als mancher andre, so muß ich um so mehr den Dingen, die auf mich zerstörend wirken, einen Vortheil abzugewinnen suchen, ich muß sie nicht an sich, ich muß sie nur insofern nehmen, als sie meinem wahrsten Leben

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NOTIZEN

dienlich sind. Das Reine kan sich nur darstellen im Unreinen und versuchst Du, das Edle zu geben ohne Gemeines, so wird es als das Allerunnatürlichste, Ungereimteste dastehn. Also ohne Gemeines kann nichts Edles dargestellt werden; und so will ich mir immer sagen, wenn mir Gemeines in der Welt aufstößt: Du brauchst es ja so nothwendig, wie der Töpfer den Leimen, und darum stoße es nicht von dir und scheue nicht dran.“ Hölderlin schreibt an seinen Freund Christian Ludwig Neuffer im November 1798 während seiner Arbeit am Hyperion. In dem Briefroman der in in zwei Bänden erscheint, schreibt Hyperion an seinen Freund Bellarmin. Hier schreiben sich Felix Rothenhäusler und Theresa Schlesinger gegenseitig. So entsteht eine Ansammlung von Gedanken und Bemerkungen, ein Myzel vielleicht, ein Geflecht verschiedener Stimmen und Ideen. Es versammeln sich Zeitdokumente in Form von Notizen und Zitaten, Fragen und Textbausteinen. Der Dialog bildet die Matrix für dieses Fragment und erlaubt einen Einblick in den Entstehungsprozess des Projekts und vieles, was damit verwoben ist. Um die Schönheit im Gemeinen zu entdecken, ziehen wir andere Stimmen und Perspektiven zu Rat und werden dadurch aufmerksamer auf das, was uns umgibt. Dabei ist die freie Assoziation das einzige Regelwerk und die Verwandtschaft der Gedanken die Grundvoraussetzung.

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Friedrich Hölderlin schreibt 1797 und 1799 die zwei Bände des Hyperion. In Form eines Briefromans beschreibt er darin das Leben des freiheitsliebenden Griechen Hyperion, der nach einer vollkommenen Verbindung mit der Natur, einer Auflösung in ihr, strebt. Nach der Rückkehr in sein „Vaterland“ ist der Gedanke dieser Vereinigung der einzig hoffnungsvolle. Denn sein Leben sieht er als gescheitert, die Hoffnung auf eine bessere Welt hat er verloren. Weder mit einer gewaltvollen Revolution konnten die Ideale durchgesetzt werden, die ihm Sinn gegeben hatten, noch konnte die Liebe, die er fand, ihm erhalten bleiben. Von ihr jedoch hat er gelernt, sich als Teil etwas Größeren zu begreifen — als Teil der Natur. Und so zieht er sich zurück. Hyperion wird am Ende des Romans zum Eremit und lebt allein auf der Insel Salamis. Die Einsamkeit, die Hölderlin in seinem Roman beschreibt und die im Wunsch nach der Vereinigung mit der Natur aufgeht, nimmt Komm! zum Anlass, um daraus eine neue Kreation zu entwickeln. „Wenn ich auch zur Pflanze würde, wäre denn der Schaden so groß?“ Hyperions Sehnsucht wird dabei das Leitmotiv für eine Verwandlung im Geiste, in der eigenen Vorstellung. Angeleitet durch die Stimme der Schauspielerin Nadine Geyersbach findet so das Theater im Kopf statt und wird zum Auslöser für eine Verschiebung in der Selbstwahrnehmung. Komm!

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BRIEFWECHSEL

Felix Rothenhäusler 23.03.2020, Betreff: Höldi „Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern’, Und verstehe die Freiheit, Aufzubrechen, wohin er will.“ Friedrich Hölderlin, Hyperion.

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FR 05.04.2020, Betreff: Re: Perspektivwechsel Briefe aus der Einsamkeit „Wie die Biene unter Blumen, fliegt meine Seele oft hin und her

Klage nicht, handle! O hätt ich doch nie gehandelt! um wie manche Hoffnung wär ich reicher! Ja, vergiß nur, daß es Menschen gibt, darbendes, angefochtenes, tausendfach geärgertes Herz! und kehre wieder dahin, wo du ausgingst, in die Arme der Natur, der wandellosen, stillen und schönen. …“ Hölderlin, Hyperion

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Theresa Schlesinger 23.04.2020, Betreff: Pauline Oliveros „Listen to everything all the time and remind yourself when you are not listening.“ Vielleicht doch ein Audiowalk.

TS 08.05.2020, Betreff: „Aber ich will hinausgehen unter die Pflanzen und Bäume, und unter sie hin mich legen und beten, dass die Natur zu solcher Ruhe mich bringe.“ Hölderlin, Hyperion

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TS 13.05.2020, Betreff: Pflanzen „rooted in one place and subject to change and growth in a complex and highly sophisticated relationship with its environment: We now know that plants can learn from experience and environmental stimuli; that they can interact and communicate, not just with other plants but with other animals and insects in highly manipulative ways; and their sensitive, rhizomatic root structure and decentred, collective intelligence provides a far more modern way of thinking about social and environmental relations. To be sessile, embedded in a milieu, is to express lifeforce on a molecular-cellular level. Plants do not possess a neurological centre but, like art perhaps, they are defined by a state of ceaseless unfolding, a material knowledge or thinking without thinking, and an insatiable, immanent becoming.“ (https://www.botanicalmind.online)

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TS 15.05.2020, Betreff: Everything „When you came into this world there gradually arose into being the sensation of 'I'. And it stays there a while it goes though a development and then it drops off. But, all the time, everywhere there are other 'I's' starting up. See? Whether they be human, animal anything you like. It could be in other galaxies, et cetera always, they’re starting up. Now- we would think, there is no connection between them. No, in the same way there is no connection between the molecules in your hand. And yet you say, it is a hand. But if you look at it under a powerful enough microscope the molecules in your hand are miles apart! What's the connection between this galaxy and other galaxies? Well we can't see any connection. And yet, there are gravitational swings, whereby they respond to each other and move, in a certain collective order. See, what we're doing in this, is not setting down a doctrine. But it is doing an exercise in perception. You could see it either way. You can see yourself, in other words as existing only now. That's the only you there is. The alternative to that logically, is to see yourself as everything.“ Alan Watts in David O’Reilly: Everything

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TS 19.05.2020, Betreff: Material VON DEN PFLANZEN, ODER VOM LEBEN DES GEISTES Emanuele Coccia

„Sie haben keine Hände, um sie an die Welt zu legen, und doch ließen sich nur schwer Akteure finden, die sich bei der Konstruktion von Formen geschickter anstellen als sie. Die Pflanzen sind nicht nur die kunstfertigsten Handwerker unseres Kosmos, sie sind es auch, die dem Leben die Welt der formen eröffnet haben, die Lebensform, die die Welt zum Ort der endlosen Figurabilität gemacht hat. Über die höheren Pflanzen hat sich das Festland als Raum und kosmisches Experimentierlabor für die Erfindung von Formen und die Gestaltung der Materie durchgesetzt. Das Fehlen der Hände ist kein Zeichen eines Mangels, sondern vielmehr Folge eines restlosen Eintauchens in eben die Materie, die sie unentwegt gestalten. Die Pflanzen werden eins mit den Formen, die sie erfinden: Alle Formen sind für sie Abwandlungen des Seins und nicht lediglich des Tuns und Handelns. Eine Form zu erschaffen, bedeutet, sie mit seinem ganzen Wesen zu durchschreiten, so wie man Zeitalter oder Phasen seines eigenen Lebens durchschreitet. Der Abstraktion des Schöpfens und der Technik — beides kann Formen gestalten, sofern Schöpfer und Produzent des Umformungsprozesses ausgeschlossen bleiben — stellt die Pflanze die Unmittelbarkeit der Metamorphose gegen-

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über: Etwas zu erzeugen, bedeutet immer, sich selbst umzuformen. Den Paradoxien des Bewusstseins, das Formen nur dann zu entwerfen vermag, wenn sie sich vom Selbst und von der Realität, deren Modell sie sind, unterscheiden, stellt die Pflanze die absolute Intimität, die Einheit von Subjekt, Materie und Vorstellung gegenüber: Sich etwas vorzustellen heißt zu werden, was man sich vorstellt.“ Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt

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TS 25.05.2020, Betreff: Re: Pauline Oliveros sagt: “Take a walk at night. Walk so silently that the bottoms of your feet become ears.” – ich werde das probieren. Listening as activism.

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FR 01.06.2020, Betreff: „Von Pflanzenglück begannen die Menschen und wuchsen auf, und wuchsen, bis sie reiften; von nun an gärten sie unaufhörlich fort, von innen und außen, bis jetzt das Menschengeschlecht, unendlich aufgelöst, wie ein Chaos daliegt.“ Hölderlin, Hyperion

TS 02.06.2020, Betreff: kinship Was Donna sagt. „Keine Art handelt allein, nicht einmal unsere eigene arrogante, die auf Basis sogenannter moderner, westlicher Skripte so tut, als würde sie aus artigen Individuen bestehen. Es sind Assemblagen organischer Spezies und abiotischer Akteure, die Geschichte machen, evolutionäre und andere auch.“ Donna Haraway: „Sich verwandt machen“, in: Unruhig bleiben. S., 137

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FR 05.06.2020, Betreff: Re: hypi titel „Wenn ich auch zur Pflanze würde, wäre denn der Schaden so groß?“ Hölderlin

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TS 06.06.2020, Betreff: Ergänzung „Erinnerst Du Dich unserer ungestörten Stunden, wo wir und wir nur umeinander waren? man könnte wohl die Welt durchwandern und fände es schwerlich wieder so. Aber eine Natur, wie Deine, wo so alles in innigem unzerstörbarem lebendigem Bunde vereint ist, diese ist die Perle der Zeit, und wer sie erkannt hat, und wie ihr himmlisch angeboren eigen Glück dann auch ihr tiefes Unglück ist, der ist auch ewig glücklich und ewig unglücklich.“ Susette Gontard an F. Hölderlin

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LITERATURVERFLECHTUNGEN

Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen. Hanser Literaturverlag, 2018. Donna Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandschaft der Arten im Chtuluzän. Campus Verlag, 2018. Donna Haraway: „Tentacular Thinking: Anthropocene, Capitalocene, Chthulucene“. erschienen im September 2016 bei e-flux www.e-flux.com/journal/75/67125/ tentacular-thinking-anthropocene-capitalocene-chthulucene/ (zuletzt aufgerufen am 18.06.2020) Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Matthes & Seitz, 2018. Anna Tsing, Heather Swanson, Elaine Gan, Nils Bubandt (Hg.): Arts of Living on a damaged planet. University of Minnesota Press, 2017 Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Duke Press, 2010 Find your cousins im Tree of Life Explorer: https:// www.evogeneao.com/en/explore/tree-of-life-explorer (zuletzt aufgerufen am 16.06.2020)

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David O’Reilly: Everything www.davidoreilly.com/ everything (zuletzt aufgerufen am 18.06.2020) www.botanicalmind.online (zuletzt aufgerufen am 18.06.2020) Kerry O’Brien: „Listening as Activism: The ‚Sonic Meditations‘ of Pauline Oliveros“, erschienen am 9.12.2016 in The New Yorker. www.newyorker.com/culture/culturedesk/listening-as-activism-the-sonic-meditations-ofpauline-oliveros (zuletzt aufgerufen am 18.06.2020) Taylor Steelman: „Cartesian self vs. ecological self“ erschienen auf https://medium.com/@taylor.steelman. ot/what-is-the-most-dangerous-thing-in-existencebb55294391c6 (zuletzt aufgerufen am 18.06.2020)


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