Koreana - Summer 2013 (German)

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reisen in die koreanische literatur

rezension

Wessen Alptraum ist es? Uh Soo-woong Journalist für Kunst und Kultur, Tageszeitung The Chosun Ilbo

I

ch traf Lee Jang-wook zum ersten Mal vor drei Jahren, und zwar bei der Verleihung des Nachwuchsschriftsteller-Preises des Verlags Munhakdongne Publishing Group. Damals war er schon 42 Jahre alt, so dass das Attribut „Nachwuchsschrifsteller“ nicht mehr so richtig passen wollte. Unter den sieben Preisträgern war er denn auch der älteste. Der Preisstifter erklärte dazu: Für den Preis können alle diejenigen Schriftsteller als Kandidaten gelistet werden, deren Debüt vom jeweiligen Stichjahr an gerechnet bis zu zehn Jahre zurückliegt. LeeJang-wook debütierte bereits 1994 als Dichter, aber seine Erzählschriftsteller-Karriere begann erst 2005 mit Die lustigen Teufel von Callot. Dieser Erstlingsroman brachte ihm den dritten Munhaksucheop-Autorenpreis (Literaturheft-Autorenpreis). Bei der Verleihungszeremonie gratulierte man Lee mit den folgenden Worten: Er möge doch auch in Zukunft jedes Jahr den Nachwuchsschriftsteller-Preis bekommen, bis es aufgrund der zeitlichen Begrenzung nicht mehr möglich sei. Es lag zwar wohl nicht nur an dieser Beglückwünschung, aber jedenfalls wurde er auch im folgenden Jahr Träger eines Nachwuchspreises, i.e. des Jungautoren-Preises. Die Erzählung Das tanzende Zimmer des Iwan Menschikow wird als „autobiografisch” bezeichnet. Normalerweise wird eine autobiografische Erzählung mit den wahrhaftigen Geständnissen eines Ich-Erzählers verbunden, aber bei dieser Erzählung ist dies ganz und gar nicht der Fall. Es sind durchweg unklare und ambivalente Sätze, von denen sich manchmal nicht sagen lässt, was sie bedeuten sollen. Vielleicht hat der Autor diese Erzählung mit der Hoffnung geschrieben, dass der Leser das herausliest, was er selbst versteckt hält. In der Erzählung kommen drei Personen vor: der Antagonist Ich, der Schriftsteller Iwan Menschikow, der Eigentümer der Wohnung ist, in dem der Erzähler wohnt, und Andrej, der Freund des Erzählers, der ihm diese Wohnung vermittelt hat. Nach dem Literaturkritiker Kim Hwa-young sind diese drei Personen Hersteller von Fiktionen, d.h. Horrorroman-Schreiber, und im Kern der Erzählung, an den man wie bei Zwiebelringen durch mehrfaches Schälen herankommt, steckt der Horrorroman Der Traum von Iwan Menschikow. Möglicherweise ist Iwan Menschikow ein Phantom. Nein, manchmal erscheint er auch wie eine reale Person, wobei der Leser nie

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mit Sicherheit ausmachen kann, ob er wirklich existiert oder tot ist; und wenn er tot ist, wie er dann gestorben ist; und wenn er noch lebt, ob er dann wirklich zu einer Selbstmordreise aufgebrochen ist. Auch kann der Leser nicht erfahren, warum sich die Dinge in Menschikows Zimmer bewegen, und wer im fünften Stock tanzt. Es ist Andrej, der dem Ich-Erzähler die Geschichte von Iwan Menschikow erzählt. Der Erzähler war 1994 als Austauschstudent in Sankt Petersburg. Zu der Zeit war Andrej 29 Jahre alt. Der Andrej von heute jobbt in einem Sushi-Restaurant und schreibt angeblich nachts Romane, und zwar Horrorromane. Und der berühmte Schriftsteller Iwan Menschikow soll sein Freund sein. Aber je mehr Andrej dem Ich-Erzähler von Menschikow erzählt, und je tiefer die Nächte von Sankt Petersburg werden, desto mehr leidet der Erzähler an Schlaflosigkeit und Halluzinationen. Um den Lesern bei der Lektüre behilflich zu sein, seien hier einige Zeilen aus den tagebuchartigen, der Erzählung in der Originalausgabe angefügten Aufzeichnungen, die der Autor 2007 machte, vorgestellt. „Es ist Abend. Ich sitze in einem Mehrfamilienwohnhaus in Sankt Petersburg in Russland. Es ist ein altes Gebäude, in dem ich die schwere hölzerne Eingangstür aufschieben und durch das dunkle, muffig riechende Treppenhaus hochsteigen muss. Die Tür geht erst auf, wenn ich die schweren Messingschlüssel in die drei dafür vorgesehenen Schlüssellöcher eingepasst habe. Und wenn ich auf dem alten Stuhl sitze, sickert das Knarren der Treppenstufen durch die Spalten der Wohnungstür herein. In dieser Stadt gibt es ein paar Schokoladenmuseen. Dort findet man Schokoladenfiguren des Revolutionärs Lenin. Da die Figuren verkauft werden, können die Reisenden sogar „süßen Lenin“ probieren. Schokoladen-Lenin. Nein, Schokolade in Lenin-Form. Popart, zubereitet aus den Zutaten des Sozialismus. Oder vielleicht eine komödienhafte Umkehr des einst unantastbaren, erhabenen Symbols.“

Lee hat wohl etwa zwanzig Tage in dem Haus in Sankt Petersburg gewohnt. Als er es verließ, schrieb er: Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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