TagesWoche_2012_35

Page 29

31. August 2012

Leben

Puristen radeln. Johannes aus Berlin und ich zollen unterwegs dem heraufziehenden Hungerast Tribut. Wir schlagen uns erst mal den Magen voll. Johannes kauft ein. Erdnussbutter, Bananen und Brot. Er ist Veganer. Ich bin nicht wählerisch. Am abendlichen Treffpunkt empfangen uns die Posaunenstösse von «Environmental Encroachment». Ein gutes Dutzend Frauen und Männer an ihren Tubas, Posaunen und Schlagwerkzeugen. Gekleidet in Badeoutfit, Bikini und dekoriert mit allerlei Tüll und Boafedern. «Very queer», sagen die einen und wippen verlegen mit dem Fuss. «Ä Gugge», brüllt «Strom», der zweite Basler vor Ort. Wir liegen uns in den Armen und singen selig «Z’Basel an mym Rhy» – was im allgemeinen Getöse nicht weiter auffällt. Später diskutiere ich mit Joséphine aus Lausanne über die Gefühllosigkeit der Amerikaner. Das berührt mich inhaltlich weniger, aber da ich gern Französisch rede, halte ich den Ball. Während nun die Schamanen mit Tuba und Pauke zur Höchstform auflaufen, beginnt auf der Tanzfläche eine Masse aus Dutzenden von nassgeschwitzten Leibern zu brodeln. Die Nacht wird lang. Main Race. Am nächsten Tag erscheinen am Hauptrennen drei Kategorien von Kurieren. Erst die, die direkt von der Tanzfläche kommen, immer noch

TagesWoche 35

prächtig gelaunt. Dann die Verkaterten, die nach ein paar Stunden Schlaf versuchen, die Peilung zu bekommen. Und schliesslich die, die man vorher weniger zu Gesicht bekommen hat: die Wettkämpfer. Der Parcours ist abgesteckt und dem Arbeitsalltag nachempfunden. Es gilt, in zwei Stunden möglichst viele Lieferungen zu den elf verschiedenen Posten zu transportieren. Es macht richtig Spass, auf diesem riesigen Parkplatz vor der Kulisse der Wolkenkratzer die Kurven zu ziehen und in den Geraden zu beschleunigen. Grosszügig sporne ich Joséphine beim Überholen mit «allez Lausanne!» an. Unter dem Strich sieht die Rechnung ganz anders aus: Joséphine wird Weltmeisterin und Dreizehnte in der Gesamtwertung. Ich lande auf Platz 206. Shit happens, da hab ich wohl was falsch gemacht. Am nächsten Tag packe ich mein Bündel. Verner kann nur noch ein leises «Take care» hauchen, seine Stimme ist der Organisation zum Opfer gefallen. Wir umarmen uns. Grow salad – not guns. Die letzte Etappe meiner Reise führt nach Detroit. Das Fahrrad zerlegt im Railbag, sitze ich im Zug. Sechs Stunden dauert die gemütliche Fahrt für etwas über 400 Kilometer. Ein Tagtraum nimmt mich in Beschlag: Die Gang der Velokuriere dreht in Tokio ihr Ding, Überfall auf einen Geldtransporter. In Chicago er-

beuten sie Einnahmen eines Drogendealers, in Basel schlagen sie auf ihren Rädern in der Uhren- und Schmuckmesse zu und in Helsinki erleichtern sie die Rolling Stones um ihre Konzerteinnahmen. Bis im finalen Tanz auf dem Asphalt meine Heldin Moa im Wettstreit mit der Polizei stirbt. Wiedergeboren in Schwarzweiss siedelt sie in Detroit und fährt auf dem Cargobike «Urban farming»-Produkte aus. Sie hat ein Haus, einen Mann und sie kümmern sich liebevoll um ihre zwei Kinder. Ist das mein Film «Ride on #151»? Noch bevor ich im Traum erfahre, wie die Geldgeber von der internationalen Produktion zu überzeugen sind, hält der Zug in Detroit.

Links: Ein Erinnerungsfoto mit der rasenden Lotsin Jerry-Lou in Chicago. Rechts: Vor und nach den Rennen der Cycle Messenger World Championship herrscht unter den Velokurieren aus aller Welt eine entspannte Atmosphäre. Fotos: Armin Biehler

tageswoche.ch/+azuvc

Sehen Sie die Audioslideshow mit allen Bildern und einem Gespräch mit Armin Biehler in der Online-Version dieses Artikels. Dort finden Sie auch die vollständige Fassung des hier gekürzt wiedergegebenen Artikels.

29


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.