TagesWoche_2012_18

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4. Mai 2012

Sport

«Der FC Basel ist ein idealer Weinberg» Wie Heiko Vogel die Mannschaft des FC Basel sanft auf den Kopf gestellt hat, von wem er sich inspirieren lässt und warum ihm Berater gestohlen bleiben können. Einsichten und Ansichten des Meistertrainers. Interview: Christoph Kieslich

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eiko Vogel, wie fühlt es sich mit etwas Abstand an, mit dem FC Basel Meister geworden zu sein? Das eindrücklichste Gefühl ist Dankbarkeit. Sehr viel Dankbarkeit auf ganz vielen Ebenen. Wacht man nach der Meisternacht morgens etwas verkatert auf, schaut in den Spiegel und klopft sich selbst auf die Schultern? Nein. Das alles, die Verarbeitung, wird wahrscheinlich erst im Urlaub noch mal hochkommen. Als stärksten emotionalen Moment haben Sie das zweite Tor gegen Manchester United, den Abpfiff dieses Spiels und damit das Weiterkommen in der Champions League bezeichnet. Da seien Sie den Tränen am nächsten gewesen. Wie war es am Sonntag, als die Meisterschaft endgültig vollbracht war? Im Moment auf dem Balkon habe ich gedacht: Schön, dass alle da sind. Da ist mir klar geworden, dass ich ganz vielen Leuten zu danken habe, stellvertretend den 20 000 auf dem Barfüsserplatz. Das war ein enormes Bild. Mal abgesehen davon, dass der FC Basel seinen Co- zum Cheftrainer gemacht hat: Was ist das spannendste Experiment, das in den letzten fünf Jahren auf Fussballplätzen versucht worden ist? Puh, was sind Experimente? Jede Zusammenarbeit eines Trainers mit einer Mannschaft ist ein Experiment. Egal, ob auf höchstem Niveau oder angefangen bei den Kleinsten. Das erfolgreichste Experiment der letzten Jahre war für mich Pep Guardiola mit dem FC Barcelona. Das kommt jetzt aus Ihrer FanPerspektive. War Mourinho bei Inter Mailand nicht auch ein Experiment? Doch, er hat mit seiner Mannschaft im Champions-League-Final gezeigt, wie ästhetisch man verteidigen kann.

Seit dem 13. Oktober 2011 Cheftrainer des FC Basel: der 36-jährige Heiko Vogel. Foto: Basile Bornand

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Oder Klopp und Dortmund? Finde ich sehr, sehr schön. Jürgen Klopp hat eine tolle Aura, mit der er junge Spieler nicht nur begeistern kann dafür, was sie ohnehin schon am liebsten tun, sondern er kann sie für sich und seinen Plan gewinnen. Er hat eine tolle Vorstellung von Fussball, und was

die Mannschaft spielt, das ist Klopp. Und das finde ich schön: Wenn man einen Stil zuordnen kann. Das ist nachhaltig. Sagen zu können: Das ist Barcelona unter Guardiola oder Athletic Bilbao unter Marcelo Bielsa. Das ist ein grosses Kompliment für einen Trainer. Aber es geht ja ums spannendste Experiment. Was Guardiola mit der Mannschaft zustande gebracht hat, hat weltweit viele Menschen in den Bann gezogen, Fans wie sogenannte Experten. Was sagen Sie zu seinem Rücktritt? Ich kann es verstehen, so wie es erklärt wird. Ich glaube, er hat unheimlich viel Energie investiert. Die Nachfolgeregelung mit CoTrainer Francesc «Tito» Vilanova müsste Ihnen sympatisch sein. (lacht). Das ist schön, das passt zu Barcelona. Welche historische Revolution auf dem Rasen prägt den Fussball bis heute? Arrigo Sacchi hat das Spiel grundlegend verändert. Weil er konsequent in der Raumdeckung gespielt hat. Und dadurch hat der Fussball eine fantastische Entwicklung genommen, hat die Athletik an Bedeutung gewonnen und die spielerische Qualität aller Spieler auf dem Feld zugenommen. Es gibt keine Wadenbeisser mehr, die dem Stürmer bis aufs Klo hinterherrennen. Heute spielt jeder im Raum. Sie haben kürzlich mal gesagt, wenn man glaubt, der FCB spiele ein 4-4-2-System, dann lassen Sie die sogenannten Experten in diesem Glauben. Fussball ist einfach, weil es nur drei Situationen gibt, auf die sich ein Spieler einstellen muss: Du hast den Ball, ein Mitspieler hat den Ball oder der Gegner hat den Ball. Und wenn du den Ball hast, dann: a) schiess ein Tor, b) ist das nicht möglich, geh dahin, wo du ein Tor schiessen kannst und c) spiel den Ball dahin, wo ein Mitspieler ein Tor schiessen kann. So viel muss man also gar nicht verstehen? Nein. Es hat aber schon etwas mit der Anordnung zu tun, im 4-4-2 stehen hinten vier und vorne zwei. Und wie sich die Mittelfeldspieler verhalten,

das ist Interpretation des Trainers. Für mich war das grösste Problem bei der Übernahme: Wie schaffe ich einen sanften Umbruch, der eigentlich ein Auf-den-Kopf-Stellen ist, ohne dass es die Mannschaft merkt? Auffallend ist, dass der FCB unter Ihnen weniger Gegentore erhält. Wir sind einmal Meister geworden mit 46 Gegentoren und einmal mit 44. Wenn man auf andere Ligen schaut, dann sieht man: Mit einem Eins-Komma-Schnitt an Gegentoren wird man normalerweise nicht Meister. Ich wollte Wege finden, um Worst-Case-Fälle abzusichern. Deshalb steht bei mir nur ein Aussenverteidiger hoch und einer der Innenverteidiger immer in der Mitte. Wir haben den Spielaufbau verändert, wenn die beiden Flügelspieler links weg sind, lässt sich ein Mittelfeldspieler fallen, weil die Seite immer geschlossen sein muss. So bekommt man eine Balance. Wir haben andere Schwerpunkte gelegt. Ich bin viel anspruchsvoller, die Spieler haben bei mir Stress im Training. Sie müssen immer denken, völlig unabhängig von der Position, bei jeder Übung, bei jeder Spielform. Wir sind viel variabler geworden.

«Ich bin anspruchsvoller. Bei mir haben die Spieler Stress im Training. Sie müssen immer denken.» Wie viele Schritte oder Pässe hintereinander können als Angriffsvariante einstudiert werden? Wir studieren da wenig ein. Es ist keine Passfolge vorgeschrieben. Ich versuche, die Spieler zu positionieren, ihnen Freiheit zu geben ... Was jetzt: Freiheit oder Position halten? Das ist das Gleiche: die Freiheit, sich zu positionieren. Hat das etwas mit der holländischen Fussballschule, dem Fussball total zu tun? Nein, den finde ich sehr statisch. Es geht um Überzahl und Unterzahl, und ich will überall auf dem Platz Überzahl haben – in beiden Phasen des Spiels, egal ob bei eigenem Ballbesitz oder bei Ballbesitz des Gegners.

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