Tod im Eichsfeld - Leseprobe

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Über die Autorin Astrid Seehaus, Jahrgang 1961, schreibt seit über zehn Jahren Kinder- und Jugendbücher, die sie seit 2003 erfolgreich in ihrem eigenen Verlag Undine veröffentlicht. Sie lebt mit ihrer Familie im Eichsfeld. »Tod im Eichsfeld« ist ihr erster Kriminalroman.

Sutton Verlag GmbH Hochheimer Straße 59 99094 Erfurt www.suttonverlag.de www.sutton-belletristik.de Copyright © Sutton Verlag, 2012 Gestaltung und Satz: Sutton Verlag ISBN: 978-3-86680-992-5 Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel


Meiner geliebten Familie



Plan Eichsfeld © HVE Eichsfeld Touristik e.V.

© HVE Eichsfeld Touristik e.V.


Die Geschichte ist fiktiv. Namen, Charaktere oder HĂśfe sind frei erfunden, Ă„hnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.


Prolog Das Thüringer Becken ist eine alte Kulturlandschaft. Der Weg von Erfurt nach Nordwesten führt durch weite Äcker. Apfelbäume säumen die Straße wie endlose Taktschläge, mächtige Lindenpaare geben den Grundrhythmus vor. Soldaten der preußischen und napoleonischen Heere haben mit den Linden die marschierten Kilometer gezählt. Von weitem leuchten die weißen Kirchtürme von Langensalza. Hier haben die Hannoveraner ein preußisches Heer geschlagen, um nur zwei Tage darauf vor der überlegenen preußischen Armee zu kapitulieren. Hinter Mühlhausen beginnt die Unstrut, sich in das Land einzuschneiden. Die Germanen haben das Sumpfdickicht »strödu« mit der Vorsilbe »un« zu »Unströdu« gesteigert, so unwirtlich war das Gebiet. Das Flüsschen wälzt sich träge durch die Landschaft, und der Wald, der sich nun am westlichen Horizont breitmacht, rückt vor und überspringt die Straße. Ein alter Turm, die Lengefelder Warte, beschützt eine Gaststätte. »Hier fängt das Eichsfeld an«, sagt der Wirt und lacht bei der Frage, wer wen beschützt habe. »Der Mühlhäuser Landgraben und der Wartturm sind nicht gebaut worden, um das Eichsfeld zu schützen, sondern die Reichsstadt Mühlhausen vor den Eichsfeldern.« Bis Dingelstädt ist das Land noch einmal weit wie ein Nachklang des Thüringer Beckens. Die Unstrut fließt jetzt tief im Tal, ihre Zuflüsse zwingen die Landstraße in dunkle Niederungen hinab. Das Land wird rau. Eine alte Bahn­ strecke windet sich auf hohen Dämmen und in tiefen Ein9


schnitten dem nächsten Tunnel entgegen. Die Straße nimmt die Steigungen leichter und muss doch ihren Tribut an das enge Bachtal zahlen, in dem sie wieder hinabsteigt. An der Abzweigung steht ein Bildstock, das Kreuz mit Jesus Christus. Die Eichsfelder stehen nicht im Ruf, besonders umgänglich zu sein. Das kam ihnen allerdings auch manches Mal zugute. Die Kruzifixe in den Klassenzimmern wurden nicht gegen Hitlerbilder ausgetauscht. Und der SED-Staat hat sich trotz Ansiedlung von Industrie und Kalibergbau letztlich die Zähne daran ausgebissen, aus Bauern und Handwerkern Proletarier zu machen. Was im Dorf passierte, hat der Pfarrer bestimmt, und tut es teilweise noch. Die Dörfer sind sauber und adrett mit liebevoll renovierten Fachwerkhäusern. Die Scheunen sind kleiner. So leicht hat man sein Brot hier nicht verdient. Heiligenstadt, die Perle des Eichsfelds. Ein Barockschloss aus rotem Sandstein erhebt sich im Leinetal. Von hier aus organisierten die Vertreter der Mainzer Erzbischöfe die Gegenreformation und zwangen die protestantisch gewordenen Eichsfelder mit Feuer und Schwert zurück zum rechten Glauben. Vielleicht haben sich die Menschen damals für eine Beständigkeit entschieden, die ihnen heute manchmal als Sturheit ausgelegt wird. Fährt man in das gut zwanzig Minuten entfernte Göttingen, ist es heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Vor nicht allzu langer Zeit hätte man diesen Versuch mit dem Leben bezahlt.

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Erfurt – 26. April Als Kommissar Frank Rothe die Tür öffnete, war es, als ob ihm jemand ins Gesicht schlüge. Wut und Verzweiflung tränkten die verbrauchte Luft. Unwillkürlich wurden seine Bewegungen langsamer, und er tastete vorsichtig nach dem Lichtschalter. Wie eine Raubkatze, die Gefahr witterte. »Jessi? Bist du hier?« Er lauschte in das Dunkel hinein. Er hörte sie atmen. Leise und regelmäßig. »Warum sind die Rollläden unten?«, fragte er irritiert, und seine Finger streckten sich, um das Licht anzuknipsen. »Nicht«, sagte die Stimme tränenerstickt. »Jessi, ich weiß –« »Du hast doch keine Ahnung«, unterbrach ihn das Mädchen. »Jessi! Schatz!«, versuchte er sie zu beruhigen, aber das metallische Klicken ließ ihn bestürzt innehalten. Er kannte das Geräusch nur zu gut, und eine schlimme Ahnung breitete sich in ihm aus wie fiebrige Hitze. Ohne ihre Bitte zu beachten, legte er den Lichtschalter um, und der Raum erhellte sich. Er blinzelte nur kurz, bis er die Situation erfasste. Seine 16-jährige Tochter hatte seine Pistole in der Hand, die Mündung fest gegen ihre Schläfe gepresst. Frank Rothe schluckte und dachte fieberhaft nach. »Jessi, das ist meine Dienstwaffe.« »Meinst du etwa damit, dass du entgegen den Vorschriften deine Dienstwaffe mit nach Hause genommen hast und sie hier herumliegen lässt? Oder dass ich diese, jene, welche gegen die Schläfe richte, nicht um dich in eine unangenehme Situation zu bringen, sondern um mich umzubringen?« Trotz seiner Bestürzung konnte er sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Jessi war so redegewandt. Angesichts dieser 11


Situation völlig unangemessen, aber Jessi war Jessi und konnte sogar einen Dackel bis zur Verzweiflung bequatschen, wenn sie nicht wollte, dass er sein Bein an ihrem Zaun hob. »Ich werde genau das tun, wovon du mich abhalten willst. Denn das schaffst du nicht!«, sagte Jessi. Ihre Stimme zitterte nur leicht, doch Rothe sah die Verzweiflung in ihren Augen. »Ich versuche es erst gar nicht«, tat er gelangweilt, lehnte sich an die Wand und begutachtete seine von der Garten­ arbeit erdverkrusteten Fingernägel. Er hatte mit Jessica über einen neuen Platz für die Rosenbäumchen sprechen wollen, aber, was viel wichtiger war, er musste mit ihr über den bevorstehenden Umzug reden. Seine Sinne waren in Alarmstellung, und so gelassen er auch wirkte, bereitete sich alles in ihm für den Sprung vor. Den Sprung, um ihr die Waffe zu entreißen. Um damit ihr Leben zu retten, und auch seines. Ohne sie wäre alles verloren, wofür es noch zu leben galt. Ohne sie wäre er ein Nichts, wäre er ein Haufen Mensch, der ein immerwährendes dunkles Tal zu durchschreiten hätte. »Natürlich wirst du es versuchen. Als Kripobeamter mit Psychomacke denkst du, es sei ein Klacks, einen Bankräuber davon abzuhalten, einen Bankraub zu begehen, und einen Selbstmörder davon, sich aus dem Fenster zu stürzen.« »Der Bankräuber hat sich in der Drehtür verfangen. Und was den Selbstmörder angeht, da hat schon seine Mutter dafür gesorgt, dass er nicht springt.« »Sie hat ihn angeschrien, dass er den Quatsch lassen soll.« »Ja«, antwortete er knapp. »Und du schreist nicht.« »Nein.« »Er hasste seine Mutter«, sagte sie schließlich, und er meinte, ein leichtes Zögern in ihrer Stimme zu hören. 12


»Und du hasst mich auch?«, fragte er leise und schaute in ihre großen braunen Augen. Bitte nicht!, hätte er am liebsten ausgerufen. Auf den Knien würde er sie anflehen, wenn es nur etwas brächte. Jessi war vor allen Dingen wütend. Wütend auf sich und die Welt. Aber er wusste, alles Betteln und Flehen würde nichts nützen, die Geste der Verzweiflung würde sie als Theater abtun. »Nein, natürlich nicht«, riss sie ihn aus den Gedanken und presste die Waffe noch fester an die Schläfe. »Das ist kein Spaß, Papa!« »Sehe ich so aus, als ob ich lachen würde«, entgegnete er und verstummte schlagartig. Die Situation war brenzlig. Er spürte, dass sie ihm etwas sagen wollte, möglicherweise ihm die Schuld geben wollte für das, was gerade geschah oder geschehen war, und dann? Würde sie abdrücken? Wenn sie ihrem Herzen Luft gemacht hatte? »Du willst dich töten, weil du deinen Vater liebst?« Die Frage sollte sie zum Widerspruch reizen. Er versuchte, sich die Regeln für den Umgang mit Selbstmördern vor Augen zu führen: Verwickle sie in ein Gespräch. Suche Gemeinsamkeiten. Veranschauliche, dass die Situation nur eine Phase ist, die vorbeigeht. Dass auf Regen Sonne folgt. »Nein, Papa. Ich werde nicht auf dich hören, ich werde mich jetzt nicht in ein Gespräch verwickeln lassen. Ich werde das hier nicht als Phase betrachten, weil bekanntlich auf Regen Sonne folgt.« Dabei drosch sie mit ihrer freien linken Hand auf das Rad ihres Rollstuhls, mit der rechten versuchte sie weiterhin, die Waffe an ihre Schläfe zu pressen. Ihr Arm wurde schwer und fing zu zittern an. »Ich werde dir gar nicht zuhören. Und ich werde überhaupt nicht befolgen, was du sagst, oder machen, was die Ärzte 13


sagen, oder überhaupt irgendetwas machen, was irgendjemand sagt.« Sein Blick klebte an seiner Tochter. An ihrem wunderhübschen Gesicht, das ihm immer wie das eines Engels erschien. Schon als kleines Mädchen hatte sie jeden um den Finger wickeln können, mit ihren dunklen Locken, ihrem hellen Lachen, ihrer unerwarteten Art, die Welt zu sehen. »Sind deine Haare heute grün?«, fragte er, für einen Moment abgelenkt. »Red doch keinen Stuss, Papa, die sind rot.« Er nickte und verdammte die Pubertät, die Mädchen dazu verleitete, sich zu verunstalten. Sich die Haare grotesk rot zu färben oder sich eine Waffe an die Schläfe zu halten. »Das klappt nicht, wenn du dir keine Mühe gibst.« Rothe unterdrückte ein Aufstöhnen. »Jess, ich gebe mir Mühe. Jeden Tag gebe ich mir Mühe und versuche, dir das Leben leichter zu machen.« »Aber du kannst nicht zaubern, nicht wahr? Ist es das, was du mir sagen willst?« Er hob verzweifelt die Hände. »Ist es das, was du mir sagen willst?« Er schluckte hart und zeigte auf den Rollstuhl. »Reicht das nicht?«, schrie sie ihn an. »Wie kannst du denken, dass es Nichts ist? Wie kannst du es nur wagen, mir zu sagen, wie ich mich fühlen soll, wo doch ich hier in diesem Stuhl sitze, und nicht du.« »Oh Jess, ich würde zu gerne für dich im Rollstuhl sitzen, wenn du dadurch wieder gehen könntest.« »Kann ich aber nicht! Und werde ich auch nie können. Und sie wird nie zurückkommen. Nie wieder! Nie mehr!« Jessica schluchzte auf. Ihre Lippen zitterten. Langsam ließ sie die Waffe sinken, und er machte eine Bewegung nach 14


vorne. Als ob sie darauf gewartet hätte, riss sie die Waffe wieder hoch und hielt sie sich, energischer als zuvor, an die Stirn. Würde er es denn nie lernen. Er war einfach zu schnell, zu ungeduldig. Er wollte nicht, dass sie sich etwas antat. Er wollte sie leben sehen, leben und lachen und einfach nur glücklich, wie es sich für ein Mädchen ihres Alters gehörte. Er konnte es kaum noch ertragen, wie sehr sie sich einigelte, immer seltener aus dem Zimmer kam, einsilbiger wurde, still und stiller wie der Tod. Er hatte seinen Jahresurlaub eingereicht, um mit ihr zusammen zu sein, und nicht, um sie zu Grabe zu tragen. »Jess!«, versuchte er es erneut. »Sie ist tot.« Es schmerzte ihn, seine Tochter anzuschauen, die dem Mädchen so ähnlich war, in das er sich damals als Teenager verliebt hatte. Aber Manuela war tot. Die Mutter seiner Tochter, die Frau seines Lebens. Auch nach so vielen Jahren tat es immer noch weh. Alle Regeln der Selbstmordpsychologie vergessend, wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Kein Rosenbäumchen mehr, Papa.« Jessi versteifte sich, und ihre Hand krampfte sich um die Waffe, bis sich die Knöchel weiß abzeichneten. »Keine Jahrestage!« »Jess!« »Ich will die Erinnerung aus dem Kopf haben, Papa! Ich will, dass die Bilder gehen! Sie kommen und quälen mich! Und ich will, dass es aufhört!« Ihr Gesichtsausdruck war leer, doch ihre Augen waren nass vor Tränen. »Jess! Bitte, Jess!«, brüllte er, und dann hechtete er auf sie zu. Sie drückte ab. Es klickte. Für einen Moment stand die Welt still. Wütend schrie sie auf: »Scheiße!« 15


Er entriss ihr die Waffe und keuchte: »Du magst mich ja manchmal für einen Volltrottel halten, aber natürlich liegt meine Dienstwaffe nicht schussbereit herum.« Er war überarbeitet. Müde und überarbeitet und er brauchte diesen Urlaub. Es wurde ihm alles zu viel. Vielleicht half der Ortswechsel über seine miese Stimmung hinweg, die man durchaus als Depression bezeichnen konnte. Wäre Jessi nicht, müsste er sich fragen, warum er morgens eigentlich noch aufstand. Jedenfalls war das hier der Schlussakkord einer Reihe von Unerfreulichkeiten, die ihm in letzter Zeit zusetzten. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich alt genug bin, um selbst zu entscheiden, wie mein Leben weitergeht«, sagte Jessi mit dem bisschen Würde, das ihr geblieben war. »Und wehe, du lachst mich aus! Von mir aus kannst du mich auch anschreien, aber dann schreie ich zurück!« Er starrte sie an, war tatsächlich versucht, sie anzuschnauzen für die Dummheit, die sie gerade eben noch begehen wollte, aber ihr trotziges Gesicht ließ ihn schweigen. »Jessica, wir werden umziehen. Und jetzt werde ich dich nach draußen in den Garten schieben.« Sie hob den Kopf, sprachlos, obwohl er genau wusste, dass sie ihm eine Menge Gemeinheiten an den Kopf werfen wollte, doch sein Gesichtsausdruck hielt sie davon ab.

Heilbad Heiligenstadt – ZWEI Wochen später Die Ampel sprang auf Rot. Der zähe Verkehr auf der Petristraße kam zum Stehen. Rothes Blick wanderte über die vor ihm haltenden Autos zu den Menschen auf den Bürgersteigen und hin zu den gläsernen Wänden, durch die man in einen Park sehen konnte. Dahinter lag das Krankenhaus. 16


Liebevoll renovierte Gründerzeitvillen, Fachwerkhäuser und moderne Architektur säumten die Petristraße und zeigten eine lebendige Stadt, und die groß ausgewiesenen Gewerbe­ gebiete vor ihren Toren zeugten vom Ehrgeiz, zu prosperieren. Jessica explodierte, nicht zum ersten Mal: »Ich habe hier nicht her gewollt! Ins Eichsfeld! – Das Eichsfeld? Was ist das überhaupt? Kenne ich es? Will ich es überhaupt kennen? Ich hasse es jedenfalls jetzt schon!« Rothe ließ die Litanei seiner Tochter stumm über sich ergehen, während er zwei Männer beobachtete, die vom Krankenhaus kamen. Der Ältere von ihnen humpelte, war mürrisch und gestikulierte verärgert. Trotzdem ließ sich der Jüngere nicht davon abhalten, dem Alten seine Hand hilfs­ bereit unter den Arm zu schieben und ihn zu stützen. Der eine trage des anderen Last, dachte Rothe und wurde von Jessi unterbrochen, die ihn anfuhr: »Also?« Er riss sich von den Männern los. »Also was?« »Du kannst gleich wieder nach Hause fahren. Ich gehe da nicht hin!« »Wohin gehst du nicht?«, fragte Rothe, obwohl er wusste, dass sie ihre neue Schule meinte. »Hörst du mir überhaupt zu?«, pampte Jessi. »Ich will da nicht hin.« »Privatunterricht können wir uns nicht leisten«, sagte Rothe ruhig und fuhr an, als die Ampel auf Grün sprang. »Was hat denn gegen die Schule in Erfurt gesprochen? Mussten wir gleich in eine extraterrestrische Galaxie ziehen? Nur weil du denkst, ich bräuchte eine Luftveränderung?« Jessica verschränkte die Arme vor der Brust und presste verärgert die Lippen zusammen. »Ich brauchte die Luftveränderung, mein Schatz«, entgegnete Rothe. »Und du wolltest auch in Erfurt nicht mehr zur 17


Schule gehen. Wenn es nach dir ginge, würdest du überhaupt nicht mehr in die Schule gehen.« »Ich hätte meinen Abschluss auch mit einer Fernschule machen können.« »Um dich dann ganz vor der Welt zu verschließen?«, fragte Rothe. »Ich verschließe mich nicht vor der Welt. Ich verschone nur meine Mitbürger mit meinem Krüppeldasein.« »Hör auf, so zu reden, Jess! Du weißt, ich mag das nicht. Du bist bildhübsch und intelligent, die Welt steht dir offen«, versuchte Rothe die Diskussion um ihre Behinderung abzukürzen, denn gleich wären sie bei der Schule, und er musste zum Dienst. »Die Welt steht nur den funktionierenden Zweibeinern offen. Leute wie mich schiebt man irgendwohin ab, in die Putzkammer oder so.« Jessi versuchte mit ihrer typischen Beharrlichkeit, ihren Vater davon abzuhalten, sie zur Schule zu bringen. »Der Schulleiter war ausgesprochen freundlich. Er hat nicht gesagt, dass der Unterricht in der Putzkammer stattfindet. Und es gibt einen Fahrstuhl.« »Ja, in der Berufsschule.« »Die gleich neben deiner Schule liegt. Die Räumlichkeiten sind miteinander verbunden. Die Flure sind groß und hell. Alles ist modern, so dass es keine Probleme mit irgendwelchen Treppen oder Stufen gibt. Und –« »Ach, sei doch still!«, schnitt Jessi ihm das Wort ab. Sie passierten eine handschellenähnliche Metallskulptur vor einem weiß verputzten Gebäude, die Rothe daran erinnerte, dass er sich beeilen musste, wollte er pünktlich seinen Dienst antreten. Als sie an der nächsten Kreuzung hielten, deutete Rothe auf die Häuserreihe auf der gegenüberliegen18


den Straßenseite. Jessi betrachtete sie skeptisch. Vier schmale, hohe Fassaden in den Farben Weiß, Apfelgrün und Blau klebten wie Schwalbennester aneinander, mit spitzen Dächern und runden Bullaugenfenstern, flankiert von einem runden Turm mit Miniglasdach. Putzig! Und das sollte die Schule sein? Rothe schien die Gedanken seiner Tochter zu lesen. »Das ist die Straßenansicht. Die Hauptgebäude liegen dahinter und werden dir gefallen. Alles ist hier ebenso historisch und geschichtsträchtig wie in Erfurt. Hier wandelst du auf Storms Spuren.« »Meinst du die Stormpassage?« Jessi wirkte plötzlich interessiert. Rothe verdrehte die Augen und presste mühsam hervor: »Heinrich Heine hat sich 1825 in Heiligenstadt taufen lassen. Ist das nicht spannend?« Mit gerunzelter Stirn musterte Jessi ihren Vater. Wer wollte hier wen überzeugen? Seitdem er sein Fernstudium in Psychologie abgeschlossen hatte, versuchte er, für alles mit einer Erklärung aufzuwarten. Erklärungen ja, aber keine Lösungen. Auch wenn er, wie sie, versuchte, über Muttis Tod hinwegzukommen, konnte er das Unglück zwar erklären, aber das Problem, wie man die Trauer bewältigen sollte, konnte er nicht lösen. Eine Trauer, die einen Jahr um Jahr in der Zange hielt und einem die Luft abschnürte, bis man starb, auch wenn der Körper lebte. Aber was für ein Körper! Nicht intakt! Nicht funktionstüchtig! Nicht erwünscht! Jessi war froh, dass sie aus Erfurt weg waren. Sie hatte es ihm nicht sagen wollen, aber für sie waren die letzten Wochen in der Schule furchtbar gewesen. Sie hatte sich ein Beispiel an ihrem Vater genommen, niemals aufzugeben. Er hatte es schon lange nicht mehr gesagt, aber früher, da war es ihr schon aus 19


den Ohren herausgekommen: Wenn du stolperst, versuche, nicht zu fallen. Und wenn du fällst, versuche, nicht liegen zu bleiben! Steh auf!, hatte er gesagt, wenn sie am liebsten liegen geblieben wäre. Steh auf und lauf weiter! Aber wie sollte sie das machen, wenn sie doch nicht mehr wusste, wie es ging? Sie hatte sich in den größten Schwarm der Schule verliebt, und der Typ hatte sie abblitzen lassen. Natürlich. Wer wollte schon mit einem Krüppel zusammen sein? Er hatte es zwar nicht gesagt, aber so, wie er sie angeschaut hatte, kam es aufs Gleiche raus. Mitleid war manchmal noch schwerer zu ertragen als Ignoranz. Sie hätte ihm nicht sagen sollen, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Für einen kurzen Moment hatte sie vergessen, dass sie anders war als die anderen. Hatte sich doch tatsächlich eingebildet, sie wäre eine Gleiche unter Gleichen, um dann gezeigt zu bekommen, dass sie eine Behinderte unter Gesunden war. Ihr Vater hatte die Veränderung gespürt, aber sie konnte es ihm nicht erklären. Er war ein Mann. Mit Mutti hätte sie darüber gesprochen. Sie fehlte ihr. Immer noch oder vielleicht sogar mehr als früher. Sie wusste es nicht genau. Sie fand, sechzehn war ein beschissenes Alter. Der Kreisel vor dem schönen Altbau ließ kaum Platz zum Parken, und Rothe sah vor dem inneren Auge schon die vielen Treppen. Ihn beschlich das Gefühl, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Er versuchte, seine Skepsis hinter einem Lächeln zu verbergen, und sagte: »Schau! Du wirst hier viel Spaß haben.« »Ha! Ha! Ha! Dass ich nicht lache. Du wirst mehr Spaß beim Jagen irgendwelcher Verbrecher haben.« Jessi zog einen Flunsch, doch ihre Augen blitzten freundlicher. Rothe stieg aus und holte den Rollstuhl aus dem Kofferraum, während seine Tochter die Beifahrertür öffnete und 20


an die Kante ihres Sitzes rutschte, um sich selbständig in den Rollstuhl zu hieven. »Du weiß, dass die Ärzte gesagt haben, dass du eigentlich laufen könntest, wenn du deine psychische Blockade –« »Wenn ich meine psychische Blockade überwinde? Ach komm, Papa, hör doch auf damit! Ich kann nicht laufen, oder? Sonst würde ich es doch tun.« Jessica wechselte geschickt den Sitzplatz und versuchte, die neugierigen Blicke einiger Mitschüler, die vor dem Gebäude standen und rauchten, zu ignorieren. »Kann ich helfen?«, fragte ein Junge, der sich aus der Gruppe gelöst hatte und Jessica anlächelte, so dass sich ihr Gesicht puterrot färbte. Sie schaute weg und antwortete brüsk: »Nein!«, während Rothe die Frage gleichzeitig bejahte. Der Junge lachte freundlich und meinte: »Ein Voyager Teen, mein Bruder sitzt auch im Rollstuhl. Und … äh, ja, ich heiße Matthias.« Rothe reichte ihm die Hand. Der Junge gefiel ihm. »Hallo Matthias, freut mich, ich bin Frank Rothe und ziemlich spät dran. Das ist Jessica, meine Tochter. Vielleicht könntest du ihr zeigen, wo der Fahrstuhl ist?« Matthias meinte entschuldigend: »Das ist hier der falsche Eingang. Da müssen Sie ganz um das Viertel herumfahren. Die Straße, die Sie gekommen sind, wieder zurück, links, vor dem Hotel Traube wieder links, die Leine entlang, und dann beim Landratsamt die Straße links rein. Hinter der weißen Mauer mit dem Ziegeldach …« »Wow«, sagte Rothe verlegen. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war sein erster Tag, und er würde zu spät kommen. »Das hört sich nach einer richtigen Expedition an, aber gerade heute ist es ganz schlecht. Könntest du vielleicht …?« 21


»Ich sage nur Putzkammer, Papa!«, knurrte Jessi. »Oh, mein Schatz …«, versuchte sich Rothe zu entschuldigen. Nicht in der Öffentlichkeit!, dachte sie und ihr Augen sprühten Funken. »’tschuldigung. Klar, ich zeige Jessica alles«, sagte Matthias ernst. »Das ist ja klasse! Ich bin begeistert! Wer wäre das nicht?«, schnappte Jessi, und Matthias wurde schlagartig noch ernster. »Entschuldigung! Ich meine, wäre es dir recht, ich könnte, natürlich … wenn du …« »Entschuldigst du dich ständig?«, fauchte Jessi ihn an. »Was ist denn das für ’ne Macke?« Rothe verschwand schneller in sein Auto, als man Feigling sagen konnte. Jessi war wirklich ein harter Brocken, sogar dem nettesten Jungen würde sie es unmöglich machen, ihren Panzer zu durchbrechen. »Ab und zu«, kam Matthias’ knappe Antwort. »Nun denn, ihr beiden, ich fahr dann mal!«, verabschiedete sich Rothe rasch und brauste davon. Seine Tochter starrte ihm böse nach. Wahrscheinlich bereute Matthias es schon, sie angesprochen zu haben, dachte Rothe. Nett war er und gut aussehend auch. Er beobachtete die beiden im Rückspiegel. Vielleicht war das der Grund, weshalb sich seine Tochter mit grimmigem Gesicht zum Eingang schieben ließ. Diesen Gesichtsausdruck kannte er nur zu gut. Nach außen hin unantastbar, innerlich verunsichert. Ach, meine Kleine, bleib nicht liegen! Steh wieder auf! Er war zu spät, wie er bereits befürchtete hatte, aber der Anblick eines wohl gerundeten Frauenhinterns und hübscher 22


Beine beim Betreten des Dienstzimmers senkte seine Nervosität, und er lächelte gewinnend, als sich die Frau umdrehte. Im Gegensatz zu seinem Lächeln glich ihres mehr dem einer Eiskönigin. Kühl, distanziert, wenn nicht sogar geringschätzig. Sein Lächeln erstarb. An sich war er es aufgrund seines Äußeren gewohnt, dass die Frauen auf ihn positiv reagierten. Er musste ziemlich abgebaut haben, wenn eine Frau das nicht tat. Und diese tat es eindeutig nicht. Sie reichte ihm die Hand und sagte förmlich: »Kommissar Rothe, es freut mich, Sie kennen zu lernen.« Schon lange nicht mehr war ihm etwas so wenig wahr vorgekommen. Er nickte schwach. »Ich bin Hauptmeister Simone Nolte. Die Kollegen werde ich Ihnen gleich vorstellen.« Stocksteif stand sie vor ihm. Sie war fast so groß wie er und sehr schlank. Ihre Figur war die einer Zwanzigjährigen, obwohl sie, nach den Fältchen um die Augen zu urteilen, eher Mitte dreißig sein musste, vielleicht sogar älter. Ihr aschblondes, schulterlanges Haar trug sie offen. Das Gesicht wirkte ein wenig spitz, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, was ihrer Attraktivität keinen Abbruch tat. Zwei Männer betraten den Raum und sahen den Neuen interessiert an. Simone Nolte stellte den Pittbull als Hauptmeister Sture Bäcker und den jüngeren Blondschopf als Obermeister Martin Neureiter vor. »Für den Namen kann ich nichts.« Bäcker reichte Rothe die Hand und sagte ernst: »Meine Eltern waren Skandinavienfans.« Der Blondschopf zog eine Grimasse, Bäckers Erläuterung hatte er wohl schon öfter gehört, und erklärte: »Und sein Onkel hat beim Standesamt gearbeitet, sonst wären seine Eltern niemals mit diesem Namen durchgekommen.« Er begrüßte Rothe ebenfalls mit einem energischen Handschlag. 23


»Kommissar Schneider müsste auch gleich kommen«, sagte Nolte und ging die Papiere durch, die auf einem der Schreibtische zu einem ordentlichen Ablagestapel aufgebaut waren. Ihre Gedanken flatterten wie Vögelchen hin und her. Sie hatte noch dringende Aufgaben zu erledigen, war aber auf der anderen Seite neugierig, wie sich der neue Kollege so anstellte. Sie hatte sich über ihn informiert, selbstverständlich, das war ihr Job. Er war zweiundvierzig, Witwer, eine Tochter, mit eins sechsundachtzig etwas größer als sie und, entgegen manchen anderen, die ihre Wampe stolz wie einen Bauchladen vor sich hertrugen, schlank und sportlich. Seine Augen waren wasserblau, so dass sie einen starken Kon­ trast zu den schwarzen Haaren bildeten, die er zwar kurz, aber modisch gestylt trug. Und – das brachte sie ein wenig aus dem Konzept – er strömte männliche Vitalität aus. Sie wehrte sich gegen das aufkeimende Interesse. Dieser Mann erschien ihr wie ein Wolf, mit einem hungrigen Blick, als ob sie die einzige noch verbliebene Frau auf Erden war. Animalische Ausstrahlung war etwas Verblüffendes, besonders, wenn man ihr überraschend ausgesetzt war, aber nichts, was sie gebrauchen konnte. Und sie gedachte nicht, den Wolf zu füttern. Simone Nolte beobachtete die drei Männer. Rothe hörte wortlos zu, während Martin wieder mal seine Klappe nicht halten konnte. Der Neue antwortete irgendetwas und der sture Sture konnte sogar lächeln, stellte sie verärgert fest. An ihrem ersten Arbeitstag hatte Sture sie noch nicht einmal begrüßt. Ihr Blick wanderte zurück zu Rothe. Solche Männer brachten Ärger, dachte sie und unterdrückte ein Seufzen. Und sie sollte diesen Unsinn jetzt ganz schnell lassen! Nolte riss sich zusammen und strich den Rock 24


glatt. Sie würde den Raum verlassen und sich ihren Aufgaben widmen, eine Minute länger, und ihr Herumgedruckse würde auffallen und zu bösartigen Kommentaren führen. »Dienstbesprechung in fünf Minuten«, sagte sie mit fester Stimme und marschierte hinaus, ohne die Männer noch eines Blickes zu würdigen. Sture und Martin beachteten sie nicht, Frank Rothe sah ihr nach. Hätte er die Spannung mit Händen greifen können, er hätte einen gewischt bekommen. Ob die Kälte von ihr ausging oder von den Kollegen, konnte er nicht genau sagen, nur dass es, als sie fort war, deutlich entspannter zuging. Bäcker kommentierte Neureiters Ausführungen gerade mit einem Augenrollen und wollte darauf antworten, als die Tür aufsprang und ein Mann den Raum enterte wie ein Pirat das Schiff. Schwungvoll und impulsiv. Schlagartig wich die angenehme Trägheit einer Energie, die Rothe verblüffte. Gerade eben noch mit den Kollegen plänkelnd, fand er sich auf einmal in einem zupackenden Händedruck mit dem Dazugekommenen wieder, dessen Gesicht er sofort erkannte. Vor ihm stand der Mann aus der Petristraße. Nur hatte er da nicht gelächelt, sondern mit verbissenem Gesicht und Engelsgeduld einen missgelaunten alten Mann gestützt. »Kollege Rothe, ich freue mich, Sie bei uns zu begrüßen! Tut mir leid, es ist heute ein wenig hektisch, gleich ist Dienstbesprechung. Den Einstand muss es später geben, Kollege.« Jonas Schneider zwinkerte gut gelaunt und gab, ohne seinen Redefluss zu unterbrechen, weitere Anweisungen an Neureiter: »Martin, du bleibst am Telefon! Erkundige dich nach folgenden Personen!« Er schob ihm eine Liste hin und wandte sich Rothe zu. »Kommen Sie, Kollege, ich stelle Ihnen die anderen vor. Oder hat die Nolte das schon getan?« 25


Bevor Rothe reagieren konnte, seufzte Schneider: »Ach, die Simone!«, und eilte voraus. Beim Abendbrot war die Stimmung zwischen Frank Rothe und seiner Tochter angespannt. Jessi sprach kaum ein Wort, und Rothe musste ihr alles aus der Nase ziehen. »Wie war denn so dein erster Schultag?« »Könntest du vielleicht mal nicht den Psychoonkel herauskehren?«, kam die patzige Antwort. »Ich habe dich eigentlich als Vater gefragt.« Er beugte sich über den Tisch, um sich eine Scheibe Brot zu nehmen, und schaute Jessi dabei tief in die Augen. »Bitte mach nicht aus jeder Frage eine Verhörsituation. Ja? Es muss möglich sein, Interesse an deinem Leben zu zeigen, ohne dass du gleich kiebig wirst.« Jessi stöhnte theatralisch auf. »Ich weiß, Papa.« »War es so schlimm?«, fragte Rothe mitfühlend. »Schlimmer!« Rothe wartete, ob seine Tochter noch etwas sagen würde. Doch sie ließ sich sehr viel Zeit, schweigend das Brot mit Butter zu beschmieren, eine Scheibe Käse darauf zu platzieren und es sorgfältig in dreieckige Häppchen zu schneiden. Sie wirkte dabei völlig ruhig, und er erkannte die Absicht, ihn auf die Folter zu spannen. Sie wusste, was für ein ungeduldiger Mensch er war. Und da er sich nicht provozieren lassen wollte, meinte er betont locker: »Ich habe Zeit.« »Das merkt man«, murmelte Jessi zwischen zwei Bissen. Rothe lächelte, wenigstens hatte sie ihren Humor nicht verloren, und er übte sich weiter in Geduld. Seine Gedanken glitten zu seiner attraktiven Kollegin Simone Nolte, und er versuchte herauszufinden, was genau zwischen ihr und ihm 26


an diesem Morgen gewesen war. Hatte nur er die Spannung gespürt? »Wenn die Schule keine Treppe hätte, wäre es für Behinderte einfacher«, platzte Jessi in seine Überlegungen. Rothe stutze. »Wieso? Waren keine Rampen da?« »Du kannst nicht für jede Treppe Rampen bauen.« »Ich hatte gesagt, dass die Schule, wenn sie behindertengerecht sein will, entsprechend vorsorgen soll. Das ist doch unmöglich! Kann man sich auf gar nichts mehr verlassen?«, polterte er plötzlich los. »Papa, jetzt beruhig dich wieder! Ich bin ja überall hingekommen, wo ich hin wollte.« Er zog die Augenbrauen zusammen und wartete auf Jessis Erklärung. »Die Lehrer haben mir geholfen.« »Die Lehrer? Wieso die Lehrer? Ich hatte doch mit dem Leiter vereinbart, dass alle Voraussetzungen für Rollstühle erfüllt sein müssen. Die haben doch einen Fahrstuhl. Nicht gehen zu können, heißt doch nicht, dass man nicht denken kann. Du bist ein intelligentes Mädchen, schlauer als so manche anderen, es muss doch möglich sein, dass du, auch wenn du nicht laufen kannst, auf jedes Gymnasium gehen kannst, auf das du möchtest.« Jessi schwieg. Seitdem sie vom Rollstuhl abhängig war, scheute er keine Diskussion über Barrierefreiheit. Und er hatte ja recht. Es gab viel zu viele Barrieren, und sie waren überall. Treppen, Stufen, Bordsteine, zu enge Türen, zu schmale Gänge, es war anstrengend als Rollstuhlfahrerin und lästig, wenn man um Hilfe bitten musste. »Und dieser Matthias? Hat er sich verdünnisiert?« Rothe schüttelte verärgert den Kopf. »Erst stellt er sich vor, und ich dachte schon, er ist ein netter Kerl, und dann so etwas. Was 27


ist überhaupt mit den ganzen Kerlen los? Früher hätten wir den anderen nicht im Stich gelassen, früher –« »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, unterbrach Jessi seinen Redeschwall. »Mir?«, stoppte er sich abrupt. Jessi zog die Augenbrauen zusammen und musterte ihren Vater in der gleichen Art und Weise, die er sich für jugendliche Straftäter vorbehielt, wenn sie kurz davor waren, zu gestehen, sich aber noch wie ein Wurm wanden. Dieser Blick half fast immer, die letzte Hürde von Aufbäumen und Verweigerung zu nehmen. »Öh! … Nun, ich denke, eigentlich nichts«, stammelte er und versuchte, sich Jessi zu verschließen. Jessi grinste ihn breit an. »Irgendetwas muss ganz bestimmt vorgefallen sein, wenn du so außer dir bist.« »Ich bin auf gar keinen Fall außer mir.« »Aber ein bisschen«, neckte sie ihn und Rothe zog eine Grimasse. »Mein erster Tag heute im Dienst. Ich denke, es war ähnlich langweilig wie bei dir.« »Och, es war nicht langweilig. Ich habe viele nette Lehrer kennen gelernt.« »Das ist ja prima!«, jubelte Rothe. »Und nette Klassenkameraden.« »Wie wunderbar!« »Papa, nun übertreib mal nicht! Du kannst auch ganz normal mit mir reden. Ich bin keine sechs mehr.« Rothe setzte ein reuiges Lächeln auf. Es stimmte. Um es ihr einfacher zu machen, hatte er maßlos übertrieben. Zustimmung half immer. Fast jedenfalls. Das Eis, das sich in letzter Zeit in ihrer Vater-Tochter-Beziehung gebildet hatte,

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war jedoch für diesen Abend gebrochen, und es entspann sich ein freundliches Gespräch zwischen ihnen. »Wie ist er so? Dieser Matthias.« Jessis Mund verzog sich zu einem strahlend-breiten Grinsen. »Er ist supernett. Er hat mich den ganzen Tag begleitet und ist mir nicht von der Seite gewichen. Er hat mich sogar die Stufen hochgetragen.« Rothe zog eine staunende Grimasse. »Wo du doch so fett wie ein Walross bist.« »Papa, dir darf man wirklich gar nichts erzählen. Erstens bin ich nicht fett und zweitens spielt Matthias Handball. Und drittens bilde ich mir ganz bestimmt nicht ein, dass er das nur gemacht hat, um mich zu beeindrucken«, seufzte sie und wusste um die Wechselhaftigkeit ihrer Gefühle. Sie befürchtete, ihr Vater könnte ihr direkt ins Herz sehen oder ihre Gedanken lesen. Matthias hatte einen Mund, der zum Küssen gemacht war, und ein Lächeln, das sie fliegen ließ, aber … Väter konnten echt nervig sein, wenn es um ihre Töchter ging, und ihrer war ein besonders anstrengendes Exemplar. Seitdem sie versucht hatte, sich zu erschießen, war er ständig um sie herum. Privatsphäre wurde seit diesem Zeitpunkt klein geschrieben. Er war sogar so weit gegangen, ihre Zimmertür auf Dauer aushängen zu wollen, damit sie sich nicht einschließen konnte. Zwei Tage hatte sie ihm die Hölle auf Erden bereitet. Ihn angeschrien, die Musikanlage bis zum Anschlag aufgedreht, dass die Bässe einen aus dem Bett warfen. Bis er aufgegeben hatte und die Tür wieder dahin gehängt hatte, wo sie hingehörte. Aber den Zimmerschlüssel hatte er ihr nicht zurückgegeben. Sie hatte sich vergessen und ihn angebrüllt: »Und wenn ich Sex haben will, willst du dann zugucken, oder

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was?« Wo­raufhin er mehr als entnervt gemeint hatte: »Wenn du Sex hast, verlasse ich die Wohnung und gehe ein Bierchen zischen.« – »Ein Bierchen wird nicht reichen, Papa!«, hatte sie wütend geantwortet, aber hinsichtlich des Schlüssels nichts ausrichten können. Eine Tür und keinen Schlüssel, das war Selbstbestimmung gleich null. Jessi seufzte: »Papa, Matthias ist toll. Aber … Vergiss es einfach! Er ist nicht an mir interessiert. Guck mich an!« Rothe wusste, was seine Tochter sagen wollte, und lächelte nachsichtig. »Du weißt, was ich meine?« »Ja, mein Schatz, ich weiß, was du meinst. Aber letztendlich kennst du ihn noch gar nicht richtig, oder?« Jessi sagte mit belegter Stimme: »Ich weiß es einfach, okay?« Rothe war sich nicht sicher, wohin das Gespräch führen würde, und fragte deshalb nicht, ob Matthias bereits eine Freundin hatte. So freundlich, wie der Junge gewirkt hatte, war er bestimmt schon vergeben, und Jessi, so hübsch sie auch aussah, würde es wohl kaum schaffen, eine mit gesunden Beinen auszustechen, also warum länger auf diesem Thema herumreiten. Er griff über den Tisch und nahm ihre Hand. »Das Leben ist wie es ist, und ich kann die Uhr nicht zurückdrehen. Jess, hör mir zu! Du bist wunderbar! Und irgendwann kommt der Junge, der dich ebenso wunderbar findet wie ich. Der deine Qualitäten sieht und nicht deine Schwächen. Der dich an dem misst, was du kannst, und nicht an dem, wozu du momentan nicht fähig bist.« »Papa, bitte, ich … ich will das nicht hören!« Jessi schluckte die Tränen hinunter und versuchte zu lächeln. Sie wollte nur zu gerne glauben, was ihr Vater gesagt hatte. 30


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Gewinner des Thüringer Krimipreises 2012 Während eines heftigen Sommergewitters wird Georg Stahl­ mann auf seinem Hof im beschaulichen Böseckendorf brutal mit der Mistgabel erstochen. Schnell ist klar, dass der Tod des wohlhabenden Großbauern, der 1991 aus dem Westen zurückgekehrt ist, so manchem in dem ehemaligen Grenzdorf gelegen kommt. Kriminalkommissar Frank Rothe, frisch von Erfurt nach Heiligenstadt versetzt, hätte sich nie träumen lassen, welche Abgründe sich hinter der friedlichen Fassade des Dörfchens auftun. Hass, Neid und Gier brodeln hier seit langem unter der Oberfläche. Fast jeder hat ein Motiv, doch wer ist der Täter? Wie tief in der Vergangenheit muss Rothe graben?

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