French 75 - Leseprobe

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»Das nennt sich im Volksmund Küchentischpsychologie.« »Ach, ja? Na, gut. Ich sage Ihnen, was ich mache: Ich nehme den Mitschnitt mit und lasse ihn von einem Experten untersuchen. Wenn es da etwas Verdächtiges gibt, dann wird mein Experte das sicher finden. Darauf können Sie sich verlassen. Leider wird das einen Tag dauern. Wir müssten also bei den drei veranschlagten Tagen bleiben, ohne dass ich weiß, ob da wirklich etwas ist.« Tina nickte: »Mir wäre es lieber, Sie könnten mich beruhigen. Solch ein Flüstern, das ist doch nicht normal.« »Für mich klang das nach Heiserkeit«, sagte Pawel Höchst. Er stand mit einem Ruck auf und fügte hinzu: »Mir wäre es aber auch lieber, Sie beruhigen zu können, das können Sie mir glauben.« Er nahm die Minikassette an sich und ging in den Flur, wo er sich kurz von ihr verabschiedete und die Wohnungstür von außen zuzog. Pawel wollte nicht in ein Gespräch verwickelt werden. Dazu wusste er noch zu wenig. Mit offenen Schnürsenkeln ging er eine Etage nach unten, ehe er sich auf eine Stufe setzte und die Schuhe gemächlich schloss. Auf der Straße sah er hoch, winkte Tina, die auf dem Balkon stand, und bedeutete ihr, er werde sie anrufen. Sie nickte, die jungen Brüste auf der sanierten Brüstung. War Rostock nicht eine schöne Stadt? Sagten das die Leute nicht immer wieder? Die Besucher wie auch die Einwohner? Sicherlich bestach sie nicht durch tausendjährige Bauten, dazu hatte ihr die Geschichte viel zu übel mitgespielt, aber was sie für einen ganz eigenen Menschenschlag hervorbrachte! Immer und immer wieder. Während Pawel zu seinem Auto ging, dachte er an die vielen Rostockerinnen und Rostocker, die ihm freundlich und sachlich geholfen hatten, die offen und vorsichtig auf ihn zugekommen waren, die so eigenartig umarmend und abwehrend sein konnten. Hatte der ewige Kampf gegen die Ostsee sie dazu gemacht? Als einzige deutsche Großstadt 26


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