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«Ich sah keine Zukunft»

«Heute sage ich: Die Schweiz ist meine zweite Heimat. Ich fühle mich sehr wohl hier und schätze besonders das geordnete, geregelte Leben, die Pünktlichkeit. Doch geplant war ein Leben in der Schweiz eigentlich nie. Ich wurde in der sogenannten Süd-Region von Eritrea, in der Nähe der Stadt Mendefera, geboren und wuchs mit acht Geschwistern auf. Meine Familie hatte viele Kühe, Schafe, Ziegen, Hühner und baute Gemüse und Getreide an.

Als ich achtzehn wurde, musste ich in den Militärdienst. Aber das wollte ich auf keinen Fall. Ich versteckte mich und übernachtete monatelang draussen bei den Tieren auf abgelegenen Weiden. Um meine Familie nicht zu gefährden, ging ich schliesslich in eine andere Stadt. Nach einem Jahr fand mich die Militärpolizei und brachte mich in die Kaserne.

Die fünf Jahre im Militärdienst waren schwierig für mich. Besonders schlimm war, dass ich kein Ende und keine Zukunft sah. Ich hatte während der Dienstzeit geheiratet und war Vater einer Tochter geworden. Doch konnte ich Frau und Kind immer nur kurz im Heimaturlaub sehen. Eines Tages konnte ich nicht mehr. Ich flüchtete aus dem Militärdienst, um zunächst nach Äthiopien zu gehen.

Zusammen mit einem anderen Mann wollte ich die Grenze zu Äthiopien überqueren. In der Dunkelheit machten wir uns auf den Weg, wurden jedoch von eritreischen Soldaten entdeckt. Als sie anfingen zu schiessen, lief ich so schnell ich konnte. Eine Kugel verfehlte mich nur knapp, sodass ich noch ihre Wärme an meinem Kopf spürte. Ich lief so lange weiter, bis ich das Gefühl hatte, in Sicherheit zu sein.

Was mit dem anderen Mann passiert ist, weiss ich nicht, ich denke, er wurde festgenommen. Den Rest der Nacht verbrachte ich, um mich vor Hyänen zu schützen, unter einem grossen Stein und überquerte bei Tagesanbruch den Fluss, der die Grenze bildet.

In Äthiopien lebte und arbeitete ich fast zwei Jahre. Ich half Bauern bei der Ernte, um Geld für die weitere Flucht zu verdienen, denn Menschen aus Eritrea können nicht legal in Äthiopien leben. Schliesslich entschied ich mich für die Flucht über den Sudan, Libyen und das Mittelmeer nach Europa.

Bei der Überfahrt hatte ich ein weiteres Mal grosses Glück: Ich sass mit vielen anderen in einem kleinen Boot, und schon nach kurzer Zeit war der Motor kaputt. Hätte es an dem Tag hohe Wellen gehabt und hätte uns nicht ein Helikopter gesehen, der ein italienisches Rettungsschiff alarmierte, wäre ich jetzt nicht hier – hier in der Schweiz mit meiner Frau, unserer Tochter und unseren zwei Söhnen.

Weil mir in Sizilien viele geraten hatten, nicht in Italien zu bleiben, kaufte ich mit dem letzten Geld ein Zugticket in die Schweiz und stellte hier im Sommer 2014 mein Asylgesuch. Vom Bundesasylzentrum Altstätten wurde ich wenig später nach Bern transferiert, in die unterirdische Flüchtlingsunterkunft im Berner Länggass-Quartier. Das Leben dort war nicht einfach, es gab fast täglich Streit. Deshalb war ich froh, als ich von Surprise hörte und schon bald die Tage draussen mit dem Heftverkauf verbringen konnte.

Mittlerweile verkaufe ich seit fast neun Jahren Surprise in Bern am Casinoplatz und seit einigen Monaten auch bei der grossen Migros in Ostermundigen, wo ich mit meiner Familie wohne. Meine Frau und unsere mittlerweile dreizehnjährige Tochter konnten mir zum Glück 2016 im Familiennachzug in die Schweiz folgen, die beiden sechs- und vierjährigen Buben sind hier zur Welt gekommen.

Surprise verkaufe ich heute noch nebenbei, ich arbeite hauptsächlich in einem Altersheim in der Reinigung. Den Kontakt zu den älteren Menschen schätze ich sehr, und ich könnte mir auch vorstellen, in der Pflege zu arbeiten. Doch leider fehlen mir die nötigen Sprachkenntnisse, vor allem die schriftlichen. Aber wer weiss, vielleicht hole ich das irgendwann noch nach.»