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Notschlafstellen für alle?

In vielen Schweizer Notschlafstellen werden Einheimische bevorzugt, so eine neue Studie. Das sei ungerecht, aber auch nachvollziehbar, meint Autorin Sabine Furrer Bill.

Sabine Furrer Bill, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit in der Schweiz ist marginal, sie betrifft 0,02 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Wieso braucht es dennoch Notschlafstellen?

Sabine Furrer Bill: Weil es immer Menschen gibt, die unter prekären Bedingungen leben und kein Dach über dem Kopf finden. Einige von ihnen sind nur vorübergehend in dieser Lage, andere sind seit Jahren obdachlos. Für sie alle sind Notschlafstellen oft der letzte Ort, wo sie Schutz oder Ruhe finden. Darüber hinaus erfüllen Notschlafstellen eine wichtige gesellschaftspolitische Rolle. Gäbe es sie nicht, müssten diese Leute zum Beispiel in Parks, auf der Strasse oder in Hauseingängen schlafen. Und daran würde sich die dort wohnhafte Bevölkerung sicher stören.

Was umgekehrt bedeutet, dass Notschlafstellen die Obdachlosigkeit unsichtbar machen?

Diese Gefahr besteht, und es ist sicher so, dass gewisse politische Kreise Notschlafstellen für ihr Bild einer «sauberen» Schweiz benutzen. Das ist aber gut so, denn dadurch haben Notschlafstellen einen breit abgestützten Rückhalt in der Bevölkerung. Denn was wäre die Alternative? Obdach- und Wohnungslosigkeit sind oft strukturell bedingt, und diese Strukturen aufzudecken ist wichtig, wenn man das Phänomen bekämpfen will. Das aber können Notschlafstellen nicht leisten. Für die betroffenen Menschen – oder jedenfalls die meisten von ihnen – sind Notschlafstellen jedenfalls die weitaus bessere Alternative, als draussen schlafen zu müssen.

In der Schweiz gibt es zwischen 35 und 40 Notschlafstellen, Sie haben 28 davon empirisch untersucht. Gibt es so etwas wie die typische Notschlafstelle?

Nein, Notschlafstellen sind sehr individuell. Die einen bestehen seit über vierzig Jahren, andere öffnen nur drei Monate im Winter. Manche werden vom Sozialdienst der Stadt betrieben, andere haben eine Anbindung an Kirchen, wieder andere wurzeln in der Jugendbewegung der 1980er-Jahre. Wenn man die Notschlafstellen in der Schweiz dennoch einteilen wollte, so gibt es auf der einen Seite des Spektrums solche, die dem Betreuten Wohnen recht nahe kommen und nur ausgewählte Personen aufnehmen. Auf der anderen Seite des Spektrums bewegen sich Notschlafstellen, die niederschwellig arbeiten und im Prinzip für alle offen sind.

Sie sagen «im Prinzip». Wie sieht es in der Praxis aus?

Niederschwelligkeit als Konzept der Sozialen Arbeit bedeutet ja eigentlich eine Inklusion der Exkludierten, also: Niemand soll ausgeschlossen werden. In der Praxis sind soziale Angebote ohne jede Schwelle aber wohl eine Utopie. Die allermeisten Notschlafstellen haben Hürden.

Trifft es zu, dass während Corona gewisse Menschen in Notschlafstellen bevorzugt behandelt und andere gar nicht erst eingelassen wurden?

Mit Corona wurde die Obdachlosigkeit sichtbarer, weil alle zuhause blieben – ausser diejenigen, die eben kein Zuhause hatten. Einlassregeln gab es aber schon vorher, und es gibt sie noch immer. Von den 28 untersuchten Institutionen gaben lediglich zwei an, sie hätten keine solchen Bestimmungen.

Um welche Regeln handelt es sich dabei?

Vielleicht lohnt es sich, an dieser Stelle zunächst eine Unterschei- dung einzuführen, nämlich jene zwischen Vorgaben, Einlassregeln sowie Kriterien. Vorgaben können durch politischen Druck oder durch die Geldgeber*innen auf die Notschlafstelle wirken. Die jeweilige Notschlafstelle legt dann in einem Regelkatalog fest, wer die Notschlafstelle nutzen darf oder wer in Fällen von Platzmangel vor den anderen bevorzugt wird. Dafür werden Kategorien wie Geschlecht, Alter oder Aufenthaltsstatus gebildet. Nebst diesen Einlassregeln gibt es noch einen Handlungsspielraum für die einzelnen Mitarbeitenden, und dieser wird durch Kriterien bestimmt.

Können Sie ein Beispiel für solche Kriterien nennen?

Angenommen, eine Notschlafstelle legt in den schriftlichen Regeln fest, dass nur Personen aus dem Kanton zur Anspruchsgruppe gehören. Trotzdem kann es sein, dass die Mitarbeitenden abends an der Tür noch weitere Kriterien auf diese Gruppe anwenden und zum Beispiel einer Person den Vorrang geben, die erkrankt ist, oder dass sie eine Person abweisen, die zu stark alkoholisiert ist.

Besteht damit nicht die Gefahr der Willkür?

In gewisser Hinsicht schon. Allerdings muss man sich immer wieder vor Augen führen: Diese Einlassbestimmungen kommen meistens nur dann zum Zuge, wenn zu viele Menschen vor der Tür stehen, es also zu wenig Platz hat.

Zurück zur Frage, welche Kategorien am meisten greifen. Bedürftigkeit oder Krankheit dürften naheliegen.

Die Untersuchung hat etwas anderes aufgezeigt: 20 der 28 Notschlafstellen priorisieren nach Aufenthaltsstatus, die meisten führen die Kategorie «Menschen aus Stadt/Kanton» und grenzen diese von «Ausserkantonalen», «Ausländischen Reisenden» sowie «Sans-Papiers» ab. Nur sehr wenige führen auch andere Einlasskategorien wie Geschlecht, Alter oder Krankheit auf.

Ist die Priorisierung nach Aufenthaltsstatus nicht diskriminierend?

Tatsächlich gibt es in der Schweiz eine Art «Papierismus»: Es kommt sehr darauf an, ob jemand Papiere hat und was drinsteht. Tatsächlich hat die Auswertung gezeigt, dass in fast der Hälfte der untersuchten Notschlafstellen Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus keinen Zutritt haben. Allerdings lässt sich die Priorisierung von ortsansässigen Menschen ein stückweit nachvollziehen.

Inwiefern?

Für mich gibt es hier zwei Ebenen. Die erste ist eine menschliche: Die meisten von uns schauen zunächst zu den «eigenen» Leuten, zur Familie, zu Freunden und Nachbarn. Sie sind uns näher als andere, und Nähe verpflichtet. Die zweite Ebene ist eine soziale: Wer unter prekären Umständen leben muss, ist oft umso mehr auf ein soziales Umfeld angewiesen, und dieses Umfeld ist meistens dort, wo die Person sich aufhält. Für Menschen auf der Durchreise mag es dagegen keine allzu grosse Rolle spielen, ob sie in dieser Notschlafstelle unterkommen oder in einer anderen.

Wird die Kategorie des Aufenthaltsstatus am Ende pragmatisch gewählt – weil sich recht leicht herausfinden lässt, wo eine Person ansässig ist?

Das trifft sicherlich zu. Allerdings fällt auf, dass es einen grossen Unterschied zwischen den Sprachregionen gibt. In der Deutschschweiz wird der Aufenthaltsstatus ungleich mehr gewichtet als in der Romandie, wo auch Kategorien wie Alter und Bedürftigkeit aufgeführt werden. Gleichzeitig kommt es in den Notschlafstellen der Deutschschweiz kaum zu Überlastungen, in der Westschweiz hingegen fast jeden Tag. Ein Grund besteht darin, dass hierzulande über die Hälfte aller von Obdach- und Wohnungslosigkeit Betroffenen Sans-Papiers sind und sich die meisten von ihnen aufgrund von Herkunft und Sprache in der Romandie aufhalten. Die unterschiedliche Einlasspolitik in der Deutsch- und Westschweiz hat in diesem Fall also nichts mit Pragmatismus oder «Ideologie» zu tun, sondern schlicht mit der Sprache sowie der Tatsache, dass die Romandie auf die dort stärker ausgeprägte Obdachlosigkeit reagieren muss.

Dennoch entnehme ich Ihren Aussagen, dass Sie die Einlasspolitik nach Aufenthaltsstatus in Notschlafstellen ungerecht finden. Ich möchte darüber nicht urteilen, sondern nur Tatsachen aufzeigen. In den Medien ist immer wieder davon die Rede, dass ausländische Menschen von Schweizer Notschlafstellen profitieren würden. Das stimmt allerdings nicht. Und bei Notschlafstellen, die ihnen Zutritt gewähren, werden weitere Steuerelemente angewendet, die für sie Hürden bedeuten. Zum Beispiel bezahlen «Einheimische» in manchen Notschlafstellen CHF 6 pro Nacht, alle anderen aber CHF 40. Ungeachtet dessen bin ich allerdings der Meinung, dass es am Ende ohnehin keine gerechte Lösung des Problems gibt. Allenfalls gibt es Ansätze, die gerechter sind als andere.

Wie sehen diese aus? Zum Beispiel könnte man sagen, es solle das Los entscheiden. Alle sind bedürftig und hätten so dieselbe Chance.

Ich denke nicht, dass dies eine gute Lösung wäre, denn die Annahme, alle seien gleichermassen bedürftig, ist sehr theoretisch. In der Realität wird es immer Unterschiede oder Grade geben. Am gerechtesten ist es wohl, wenn man im Sinne des Chancengleichheitsprinzips versucht, die Unterschiede auszugleichen und Schlechtergestellten den Vorrang einzuräumen. Doch wie gesagt, das ist alles ziemlich theoretisch und kaum umsetzbar. In der Praxis liegt die Lösung viel näher.

Nämlich?

Die Obdachlosigkeit hat in der Vergangenheit stetig zugenommen und wird weiter zunehmen. Es braucht daher mehr Notschlafstellen und temporäre Winterangebote, und zwar über die ganze Schweiz verteilt. Hat es genügend Platz, benötigt man keine diskriminierenden Einlassregeln mehr. Es spielt dann keine Rolle, wie alt eine Person ist, ob sie männlich oder weiblich ist, woher sie kommt oder wo sie sich gerade aufhält.

Sabine Furrer Bill, 46, arbeitet seit 2012 in der niederschwelligen Sozialarbeit. 2022 hat sie den Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhochschule Bern mit der Arbeit «Triage an der Tür – Die Einlasspraxis in Schweizer Notschlafstellen» abgeschlossen. Die Arbeit wurde im Soziothek-Verlag veröffentlicht und kann dort gratis heruntergeladen werden. soziothek.ch/triage-an-der-tuer