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Beat Sterchi

Der Kurde, der Gehörlose und Monsieur La Chaux-de-Fonds

TEXT BEAT STERCHI

Das Bein ist in einer Schiene. Kann mich nicht auf die Seite drehen. Das Bein ist das Bein, welches jetzt mit einem Titanteil in meinem linken Hüftgelenk steckt. Und Monsieur La Chaux-deFonds schnarcht. Aber ich, ich kann nicht wieder einschlafen. Wo ist die Urinflasche? Es ist kurz vor drei. Jemand hat doch gesagt: Weisst du, das tut nicht weh. Wer war das schon wieder? Und alle seien froh, dass sie es gemacht haben, bereuten lediglich, dass sie sich nicht früher zu der Operation entschlossen hätten. Wenn es nur mit etwas weniger Entbehrungen jeder Art gehen würde. Dieses Nichtschlafen-Können. Auch der immer wieder ganz plötzliche Harndrang ist in der Bewältigung so was von erniedrigend und schmerzhaft. Schon im Aufwachraum wurde ich gefragt: Heit dir Schmärze? Wie würdet dr se iischtuefe uf ere Skala vo null bis zäh? Null isch kenni Schmärze u Zäh isch unerträglech? Und noch gestern hatte jemand gefragt: Wenn chunsch unger ds Mässer? So ein blöder Spruch. Ich wurde zwar sehr wohl aufgeschnitten, die Narbe hier links fiel nicht vom Himmel, zugange war man aber vor allem mit einer Knochenfräse und einem Hammer. Das habe ich gesehen. Jetzt hat Monsieur La Chaux-de-Fonds aufgehört zu schnarchen. Er stöhnt. Er schreit unverständliches Zeug. Aber wozu musste er mich mit seinem blöden Telefon so abrupt aus dem Tablettenschlaf reissen! Noch nie was gehört von Handy ausschalten? Dieses endlose Drambambalambambampallampalaver. Klar, dann machte ich mit dem Bein auch noch eine verbotene Bewegung. Wie würdet dr Schmärze iischtuefe uf ere Skala vo ...? Dieses Viererzimmer ist viel zu klein. Eigentlich der Horror. Schon wieder: Drambambalambambamparadambambam. Wie das nervt. Und ich liege da im Halbdunkel. Mit diesem idiotischen Haarschnitt auf meinem Gring. Bei jedem Bett blinken grüne und rote Kontrolllichter. Einen Hahnenkamm hat mir der Rüpel von einem Kurdenfriseur verpasst. Kahl geschorene Seiten mit einem Büschel Wildwuchs obendrauf. Ich bin doch kein Fussballprofi, auch nicht mehr zwanzig. Diese Frisur passt überhaupt nicht auf deinen Kopf, hatte Anna gesagt. Als hättest du dir die Haare selbst geschnitten. Weil ich von der Rolle fiel, sobald der Operationstermin endgültig festgelegt war. Ich konnte noch knapp erledigen, was im Haushalt anstand. Immer humpelnd, klar. Und zum Coiffeur gehen. Aber nimm noch die leeren Flaschen mit, ist doch am Weg. Also humpeln wir auch da noch hin. Vor der Sammelstelle stand dann dieser Lastwagen, und ein stämmiger Mann mit einer roten Zipfelmütze war gerade bemüht, den verstopften Schlund des Büchsenzerquetschers frei zu machen. Der stämmige Mann war offensichtlich auch für den Abtransport der Glascontainer zuständig. Ja, der lachte und war freundlich. Nicht wie der Coiffeur. Hörst du! Der war freundlich! Wie die Pflegerinnen hier. Freundlich! Der war anständig, zivilisiert, trug auch kein idiotisch beschriftetes T-Shirt und schon gar nicht Tarnanzughosen wie du. Der trug Arbeitshandschuhe, überhaupt angemessene Arbeitskleidung. Oh, es mache sehr wohl Sinn, die Flaschen sorgfältig nach Farbe getrennt einzuwerfen, sagte er, nachdem er mir erklärt hatte, wie das geht mit dem Abtransport der Sammelcontainer. Weil er aber mit einer eigenartig akzentuierten Stimme gesprochen hatte, war ich neugierig geworden, wollte ihn fragen, woher er komme oder was für ein Landsmann er ursprünglich gewesen sei. Jetzt stöhnt und keucht Monsieur La Chaux-deFonds wieder, als würde er gefoltert. Er schaut am Fernsehen Skispringen und lässt dazu seine doodelige Zupfmusik so laut sprudeln, dass ich mir das Kissen auf die Ohren drücke. Der könnte sich doch eigentlich den Kommentar anhören und sprachlich was dazulernen. Wenn er bloss nicht wieder telefoniert. Bamsalamtamtambaralambambamplemplem! Auch ihm werde ich die Geschichte von Kosinsky nicht erzählen. Weisst du, hätte ich dem Coiffeur sagen können, Sprachen lernt man, indem man zuhört und spricht. Anstatt mir über den Mund zu fahren, müsstest du dich um das Gespräch bemühen. Ich hätte ihm sagen können, dass es da diesen Polen gab, der zu seinem Bruder nach New York kam, ohne dass er auch nur ein Wort Englisch sprechen konnte. Und wie sollte er Englisch lernen, wo er doch in New York nur seinen Bruder kannte? Dieser Bruder war nämlich Tag und Nacht mit seinem Taxi unterwegs, kam er aber mal zurück in die Wohnung, war er so hundemüde, dass er nur schlafen wollte. Weisst du, wie dieser Pole, der Kosinsky hiess, dennoch Englisch lernte? Das hätte ich diesen Kurdenfriseur fragen können, aber dieser Kurdenfriseur hat ja seinen Blick kaum von seinem Handy wegbekommen, war verärgert, fühlte sich gestört, belästigt, alles andere als erfreut über einen Kunden. Wäre ich besser zu Fuss gewesen, hätte ich mich gleich umgedreht und wäre wieder die Treppe hoch. Dann hat er mich im Spiegel ewig mit offenem Mund total herablassend fixiert, eigentlich richtig frech, jedenfalls doof und überheblich. Und dies bloss weil ich gefragt hatte: Vermissen Sie Kurdistan? Ist doch nicht die dümmste Frage, die man stellen kann. Aber er fuchtelte und schnapperte mit der Schere in seiner Hand, als wollte er mir gleich an die Gurgel damit. Und ich versuchte ihn zu besänftigen: Ich meine, fehlt Ihnen Kurdistan? Immerhin hatte ich vorher ja gefragt, wie es ihm hier gehe und ob er Familie habe. Man kann ja nicht einfach so in einem Coiffeurkeller sitzen und schweigen wie auf einem Zahnarztstuhl. Man kann doch reden mit den Leuten. Aber er schnauzte mich an: Natürlich vermisse er Kurdistan, das sei doch normal! Und ich unter diesem ekligen schwarzen Fetzen aus elektrisch geladener Kunstfaser mit dieser juckenden Krempe am Hals musste hören, wie er mit der Schere weiter ganz nahe an meiner Kehle rummachte. Wobei er das überhaupt nicht so gesagt hatte, er konnte ja nur rumstammeln und die Wörter höchstens brockenweise wie Schlagzeilen ausspucken. Alle Heimat vermissen! Warum wollte der nicht reden? Üben. Rede doch mit den Kunden! Alle Heimat vermissen? Wie lernt man denn sonst eine Sprache? Weisst du, hätte ich sagen können, dieser Pole in New York, der Kosinsky, weisst du, was der gemacht hat? Und wieder schreit im Bett nebenan Monsieur La Chaux-de-Fonds so laut, dass gleich

drei Pflegerinnen auftauchen und jetzt noch eine und das mitten in der Nacht, aber Monsieur La Chaux-de-Fonds schreit noch lauter, die Pflegerinnen tuscheln und ihre Schutzanzüge rascheln. Sie geben ihm eine Spritze ins Knie, eine weiter oben ins Bein. Der arme Monsieur La Chaux-de-Fonds. Schon in den ersten Sekunden, als er das Krankenzimmer betrat, hatte er mir leid getan, weil er diesen schrägen Blick drauf hatte, als fürchtete er, zu kurz zu kommen. Mach dir mal keine Sorgen, hätte ich ihm sagen müssen, siehst du nicht, wie freundlich und kompetent hier alle sind? Diese Pflegerinnen sind unglaublich. Du bist in guten Händen. Aber er schrie gleich eine volle Stunde lang in sein blödes Telefon: Bambramtamtamsalabamtamtambumpamlabambum! Konnte einfach nicht mehr aufhören. Und am Morgen: Ich manövriere mein Becken möglichst behutsam an den Bettrand und das Bein langsam darüber hinaus auf den Boden. Wie würdet dr uf ere Skala vo null bis zäh … Ich suche die Krücken zusammen, stülpe die Schlarpen über die Füsse, stehe auf und will mich ins Bad schleppen, da muss mir Monsieur La Chaux-de-Fonds auf seinem Handy unbedingt Bilder einer mir unbekannten gastronomischen Spezialität zeigen. Aus Sri Lanka, sagt er. Und dann Bilder von Pizzen, die er alle gebacken hat dort oben in La Chauxde-Fonds. Mein Bein schmerzt, aber ich frage: Vous êtes donc cuisinier? – Oui, oui, depi vengt ans! Ich konnte ihn wirklich kaum verstehen, aber er zeigte mit den Fingern, wie dünn der Boden einer guten Pizza sein muss. Und dass er jetzt weg will von La Chaux-de-Fonds! sagt er. Einfach zurück, er habe genug, La Suisse, no meci, c’est fini! Dort sitze ich mit dem fürchterlichsten Harndrang auf der Bettkante und Monsieur La Chaux-de-Fonds hält mir sein Handy unter die Nase, obschon mir schwindlig ist, so schwindlig, dass ich alles verschwommen sehe, wie mir auf der Fahrt vom Aufwachraum zurück auf die Abteilung schwindlig gewesen war. Vor mir hatte ich nur verschwommen den wippenden Rossschwanz der Pflegerin gesehen, die mein Bett durch die Gänge zog. Die über mir hängenden Flaschen wackelten wie wild, forsch war die Fahrt, die Schläuche mit den roten, blauen und grünen Ventilen tänzelten. Überall wurden andere Betten umhergeschoben, Pflegerinnen und Pfleger und Ärzte und Putzequipen sah ich verschwommen und doppelt, und als mein Bett in den Lift geschoben wurde, holperte es wie über Schlaglöcher. Wie hiess bloss die Pflegerin am Kopfende? Isufi oder Isifu oder vielleicht Usufa? Und wie hiess bloss der Kurdenfriseur? Und wie heisst die Pflegerin mit dem Rossschwanz? Hat die vielleicht eine freundliche Stimme: Heit dir Schmärze? Wie würdet dr se iischtuefe uf ere Skala vo null bis … Und warum hätte ich den freundlichen Mann mit der roten Zipfelmütze, der bei der Glassammelstelle den verstopften Schlund des Büchsenzerquetschers frei machte, nicht fragen sollen, woher er stamme? Er hatte wirklich eigenartig gesprochen, auch nahm er mir meine Frage überhaupt nicht übel, im Gegenteil: Es war, als freute er sich, dass sich jemand für seine Arbeit und für ihn interessierte. Er war überhaupt nicht unfreundlich wie der Kurdenfriseur. Er sagte nur, er sei von hier. Aber indem er einen Handschuh ans Ohr hielt, sagte er noch: Aber ich gehörlos. Ich staunte: Sie lesen also von meinen Lippen? Genau, gehörlos, sagte er nochmals. Gehörlos! Wie bitte! Sie lesen also von meinen Lippen, antworten mir und hören selbst nicht, was Sie sagen? Genau, so ist es, und dies sagte er höchst freundlich, hörst du? Du dort im Keller unten? Aber natürlich hört der nichts, will ja nichts hören, will lieber mit seinem Handy gamen, rumballern, deshalb habe ich ihm auch nicht erzählt, wie der Kosinsky in New York Englisch lernte. Der Kosinsky war nämlich anders drauf als du! Der wollte mit den Leuten reden, und nur weil er keinen kannte und kein Englisch konnte, liess er sich nicht davon abhalten. Der sass nicht einfach dort in der Wohnung, in der sein Bruder nur schlafen wollte, der griff zum Festnetztelefon, das es damals noch überall gab, und wählte Nummern. Der wählte einfach Nummern, bis er mal durchkam, und als jemand Hello? sagte, die Leitung auch gleich wieder unterbrochen wurde, weil er nicht gleich antwortete, hatte er ein Wort gelernt, das man also sagen konnte. Hello? Hello! sagte er dann, als er wieder Nummern gewählt hatte, bis er durchkam, und jemand sagte auch Hello und er wieder Hello? Also: Hello? Hello? Hello? Bis die Leitung wieder unterbrochen wurde, aber darauf liess sich aufbauen. Und jetzt wieder Drambambalambambamsalabambam. Bloss weg, humpelnd flüchte ich ins Bad, wo ich im gnadenlosen Spiegel wieder meiner blöden Frisur gegenüberstehe. Kein Wunder, dass Anna entsetzt gewesen war. Das ist auch gar keine Frisur, das ist eine Tonsur. Hätte ich mir die Haare selber geschnitten, könnte ich nicht schlimmer aussehen. Ich bin doch kein Punk. Aber auch Monsieur La Chaux-de-Fonds werde ich nie erzählen, wie sich Kosinsky dort in New York am Telefon in die englische Sprache hineinhörte. Er konnte schon Hello? sagen, bald aber auch, weil es wiederholt gehört hatte: Who is there? und What you want? und Verwirrung hatte er gestiftet, hatte auch Flüche kassiert, aber er hörte und lernte, Wort für Wort, und hielt die Leute immer länger am Apparat. Who is there? und What’s your name? Immer wach, immer da, sodass er schon nach ein paar Stunden kleine Wortwechsel hinkriegte, kleine, absurde Gespräche, die er nur teilweise verstand, aber es dauerte nur ein paar Tage, und er konnte unter die Leute gehen, konnte mit ihnen in Kontakt kommen und lernte und lernte, hörst du, du Kurdenfriseur? Natürlich war Kosinsky freundlich, während er versuchte, jemanden am Apparat zu halten. Ja, freundlich! Nicht so wie du! Wie kommst du überhaupt dazu, mir eine solche Frisur auf den Kopf zu bauen? Alle Heimat vermissen! Au! Heit dir Schmärze? Wie würdet dr se iischtuefe uf ere Skala vo null bis ... Um Gottes willen Monsieur La Chaux-deFonds! Drambambalambambam! Null isch kenni Schmärze u zäh isch unerträglech.

BEAT STERCHI, geboren 1949, Gründungsmitglied des Spoken-Word-Ensembles Bern ist überall. Vor «Capricho» (Diogenes 2021) veröffentlichte er die Reisereportage «Going to Pristina!» (essais agités 2018) und den Lyrikband «Aber gibt es keins» (Der gesunde Menschenversand, 2018). Den vorliegenden Text hat er eigens für Surprise geschrieben.