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Ukraine

Unser Bild vom Krieg

Ukraine Die breite Solidarität mit der Ukraine birgt die Gefahr, kollektiv in eine Freund-Feind-Logik zu verfallen. Wir müssen uns anstrengen, die Fähigkeit zu differenzieren nicht aufzugeben.

Kommentar

Heroisierung des Kampfes

Das Video hat mittlerweile wohl jede*r gesehen: Volodymyr Zelensky im Kreise seiner Berater. Die Handyaufnahme, offenbar selbstgedreht, zeigt ernste, smarte Männergesichter, die im Halbdunkel in informell-militärisch-sportlichen Klamotten um den ukrainischen Präsidenten stehen. Zelensky inszeniert sich als einer der Kleineren, steht zwar im Zentrum, aber er holt die Anwesenden der Reihe nach ins Bild. Selbst wenn man nicht direkt versteht, was er sagt, wirken die repetitiven Worte eindringlich: Ich bin hier, meine Berater sind hier, Führung und Volk stehen zusammen, um die Unabhängigkeit der Ukraine zu verteidigen. «Ehre den Verteidigern der Ukraine.» Es ist nichts Heldenhaftes am Töten von Menschen. Das weiss auch Volodymyr Zelensky. Es spielt dabei keine Rolle, ob man sich im Recht wähnt oder nicht. Es macht etwas mit dem Tötenden, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Nicht umsonst bewerten wir Mord in Friedenszeiten als etwas Ungeheuerliches und bestrafen diesen hart. Und doch überhöhen wir Menschen als Held*innen, die in den Krieg ziehen oder daraus zurückkehren – solange sie etwas verteidigen, das wir als verteidigungswürdig ansehen. Wir bezeichnen sie je nach Kontext sogar als Märtyrer, bauen ihnen Denkmäler, verleihen ihnen Medaillen und Orden. Wir versuchen, sie zu entschädigen. Im wortwörtlichen Sinne. Denn sie sind geschädigt, für ihr Leben gezeichnet. Hierzulande wissen wir, wie schrecklich Krieg ist. Nur selten aus Erfahrung, sondern aus der Literatur, aus Filmen, aus Erzählungen anderer, vielleicht noch aus der eigenen Familiengeschichte. Was Soldat*innen tun müssen, was sie sehen, aushalten und mitverantworten, können wir kaum erfassen. Aber wir kennen die Geschichten über Veteran*innen, die nicht wieder aus der Kriegswelt herausfinden, die nicht mehr im friedlichen Leben andocken können. Manche machen den Krieg zum Beruf, andere gehen zugrunde oder nehmen sich das

Leben. Nahezu alle möchten vergessen. Nur wenige können. Manch einer wird die Diskrepanz zwischen der Heroisierung durch die Gesellschaft nicht zu vereinen wissen mit den eigenen schrecklichen Erfahrungen. Weil das Töten etwas macht mit den Menschen. Über Generationen. Denn die erlittenen Verletzungen zeitigen Folgen und prägen nicht selten in Form von Gewalt Familien über Generationen. Ist eine Gesellschaft in der schrecklichen Lage wie nun Millionen von Ukrainer*innen, angegriffen zu werden, haben vor allem die Männer nur wenig Wahl. Es wird erwartet, dass sie den Übertritt der Grenze zum Töten diskussionslos in Kauf nehmen, dass sie zu den Waffen greifen und sich, ihre Familie, ihre Stadt oder ihr Land verteidigen. Natürlich gibt es auch Menschen, die ihre eigene Unversehrtheit (frei)willig eintauschen gegen den Kampf. Dafür gibt es Gründe: von Opferbereitschaft, national(istisch)em Pflichtgefühl, ideologischer Überzeugung, von Fatalismus über Naivität oder den fehlenden Glauben an eine kriegsEs werden neue freie Lösung, von Rachereflexen und Hass bis zur Flucht vor persönlichem Unglück. Doch und nur schwer auch eine freiwillige Entscheidung für den Kampf hinterlässt versehrte Seelen, so sie wieder abzubau- denn zurückkehren. ende Feind- Aufgrund unserer tradierten Bilder von Männlichkeit und der (angeblichen) Unverzichtbilder zementiert. barkeit nationaler Identitäten gestehen wir nur denen die legitime Flucht zu, die wir (mit derselben patriarchal geprägten Brille) SARA WINTER SAYILIR als zu schwach oder ungeeignet für den Kampf ansehen: Frauen, Kinder, Alte. In der Logik des Krieges wird ausgeblendet, dass es für viele Zivilist*innen im Kriegsgebiet zunächst eine untergeordnete Rolle spielt, was politisch folgt, Hauptsache, der Beschuss und die Bomben hören auf, das Sterben und die rohe Gewalt (siehe Reportagen zur Ostukraine im Surprise Nr. 476 und 521). Je länger die Kampfhandlungen andauern und weil die russische Taktik offensichtlich auch die gezielte Vernichtung ziviler Bevölkerungsteile beinhaltet, werden neue, schwer wieder abzubauende Feindbilder geschaffen und zementiert. Wir sollten vorsichtig sein mit den romantisiert-heroischen Bildern und Erzählungen – wie denen der heiratenden Ukrainer*innen in Tarnuniformen – und dem unkritischen Mittragen der Mobilisierungskampagne. Vor allem in den Medien, die ja für Einordnung und kritische Distanz zuständig sind, werden sie reproduziert, aber auch im privaten Bereich. Auch

und gerade wenn wir uns solidarisch fühlen mit der Ukraine. Schon ist die ukrainische Fahne zum allgegenwärtigen Symbol eines scheinbar gerechten, «gemeinsamen» Kampfes geworden, zahlreiche Menschen tragen gelb-blau, die Flagge flimmert im Namen von «corporate solidarity» über digitale Billboards und ziert Produkte. Wir haben längst den Überblick verloren, mit wem wir da eigentlich alles Seit an Seit stehen. Angesichts der russischen Kriegsverbrechen ist es vielen verständlicherweise auch erstmal gleich.

Aber Übergriffe auf russischsprachige Menschen in Deutschland zeigen, wie schnell sich Menschen ausserhalb des Kriegsgebiets ermächtigt fühlen, ebenfalls Gewalt anzuwenden. Und wie schnell Hass sich verselbständigt. Schon fällt das Differenzieren schwer, wird mancherorts ein bedingungsloses Bekenntnis gefordert, als befänden wir uns bereits alle im Krieg. Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky kann seine Botschaft über zahllose Kanäle (fast) ungefiltert verbreiten, Videos, Bilder und Verlautbarungen werden häufig direkt eingebunden in den Strom der Berichterstattung. Schon haben sich selbst die grossen, mächtigen Betreiberfirmen der sozialen Netzwerke in der Mehrheit auf der ukrainischen Seite positioniert und erlauben sogenannte Hassrede, solange sie sich gegen die richtige Seite, gegen den russischen Präsidenten richtet.

Wir müssen uns anstrengen, eine differenzierte Haltung zu bewahren, während wir uns klar gegen den Krieg positionieren. Und aufpassen, mit wem wir ins selbe Horn stossen. Schon hat der Krieg eine erneute Aufrüstung zur Folge. Nicht nur wer schon lange mit Geflüchteten arbeitet, kämpft damit, diesen Moment nicht zynisch zu betrachten. Wo vorher nur wenig gesellschaftliche Solidarität mit Kriegsgeflüchteten zu spüren war, ist plötzlich ein Überangebot von Hilfe da. Spürbar ist: Vor allem weil wir uns direkt selbst bedroht fühlen, stehen wir so vereint. Wie viel das nun mit der Ukraine und tatsächlicher Solidarität mit den Menschen, die jetzt zu uns kommen und Schutz suchen, zu tun hat, wird sich erst noch herausstellen.

SARA WINTER SAYILIR

Kommentar

Launisches Mitgefühl

Manchmal braucht das Unfassbare ein Bild. Eines, das sich in unseren Köpfen festsetzt, das aufwühlt und uns all das, was wir nicht glauben mögen – weil es so grausam ist oder absurd oder fremd – näherbringt. Diese Tage erreichen uns zehntausende Bilder aus der Ukraine, manche zeugen von Bomben und Trümmern, andere von Angst und Ohnmacht. Sie schaffen Nähe und erwecken unser Mitgefühl. Auch davon ist jetzt viel

zu hören und zu spüren: von dieser schier unbedingten Hilfsbereitschaft Menschen gegenüber, die vor Krieg aus der Ukraine flüchten müssen. Mich bewegt diese Solidarität, denn ich bin überzeugt: wo Mitgefühl ist, da ist auch Menschlichkeit. Und doch bleibt ein Unbehagen. Warum eigentlich sind uns Menschen, die wir nie zuvor gesehen haben und denen wir vermutlich auch nie begegnen werden, plötzlich so nah? Geografische Nähe wird es nicht sein. Nicht wenige von uns wussten bis vor drei Wochen nicht genau, wo auf der Landkarte sich diese Ukraine befindet. Liegt es am Lebensstil, der Religion, dem Aussehen der Ukrainer*innen? Man will es nicht glauben, aber genauso stand es in den vergangenen Wochen in internationalen wie auch Schweizer Medien: Die Ukraine ist eben kein «Drittweltland», und die da flüchten müssen sind «Christ*innen Was ist, wenn wie wir»; sie haben «dieselbe Kultur» wie wir, sind «europäisch» und «zivilisiert»; die die Geflüchteten Männer gelten als «wehrfähig und stark», die Frauen haben «blondes Haar», ihre Kinder nicht dem Bild «blaue Augen». entsprechen, Braucht es wirklich diese Art von Nähe, damit sich Empathie und Hilfsbereitschaft das wir von ihnen einstellt: dass die Geflüchteten so sein müssen wie wir, dass sie uns ähneln müssen–zeichnen? und wir ein Bild von ihnen zeichnen, das unser eigenes sein könnte? Was aber ist dann mit jenen, die diesem Bild nicht entsprechen KLAUS PETRUS und angeblich anders sind? Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán reiste dieser Tage höchstpersönlich an die ungarischukrainische Grenze, um den Geflüchteten zu versichern: «Wir werden alles tun, um euch zu helfen.» Eine bemerkenswerte Geste, wenn man bedenkt, dass Orbáns Regierung in den vergangenen Jahren eine rigide Migrationspolitik betrieben hat, erst mit dem Bau eines 175 Kilometer langen Zauns an der ungarisch-serbischen Grenze, dann und bis heute mit oft gewaltsamen Rückschiebungen von Geflüchteten. Betroffen sind davon vor allem Geflüchtete aus dem Nahen und Mittleren Osten. Ein Widerspruch? Nein, denn für Orbán ist das zweierlei: hier Ukrainer*innen, die dem ungarischen Volk nah sind und vor Krieg fliehen müssen, dort illegale Migrant*innen, die Europa stürmen wollen. Oder wie er ausdrücklich sagte: «Den Geflüchteten werden wir helfen, die Migrant*innen müssen gestoppt werden.» Das Beispiel zeigt: Beruht Solidarität auf dem Prinzip der Ähnlichkeit oder einem «wir hier, sie dort », so kann sich Empathie leicht als launisches, willkürliches Gefühl entpuppen. Immerhin war das schon mal, im Herbst 2015: eine Willkommenskultur, die berührte. Heute sind uns die, die uns damals nah waren, wieder fremd geworden. Vielleicht liegt mein Unbehagen genau darin: in der Sorge, dass für uns in ein, zwei Jahren die ukrainischen Geflüchteten die Afghan*innen von heute sein werden. KLAUS PETRUS