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Damoklesschwert Staatsschulden

Für die Pandemie-Hilfen hat die Schweizer Regierung sich neu verschuldet. Auf Schulden folgt deren Abbau, so will es die traditionelle Wirtschaftslehre, die in Politik und Wirtschaft dominiert. Sie irrt womöglich.

TEXT SARA WINTER SAYILIR

Geht es um Staatsfinanzen, sprechen wir über Geldmengen, die wir uns nur schwer vorstellen können: Milliardensummen. Stapelt man 1000-Franken-Noten zu Stapeln im Wert von 100 000 Franken, werden sie 1 cm hoch. Eine Milliarde Franken ergäben 100 Meter. Nun haben die Pandemie-Hilfen die Staatsverschuldung der Schweiz laut Bundeshaushalt im Jahr 2020 um 15,3 Milliarden steigen lassen. Das wäre in unserem Stapelmodel also ein Tausend-Franken-Geldschein-Turm von 1,53 Kilometern, fast doppelt so hoch wie der Burj Khalifa, das höchste Gebäude der Welt.

Allein diese unglaublichen Dimensionen machen die Diskussionen um den Staatshaushalt und die Frage, ob wir uns beispielsweise Extraausgaben wie die Pandemie-Hilfen eigentlich leisten können, so schwer zu verstehen. Zudem scheinen sich auch die Expert*innen in Wirtschaft und Politik nicht einig zu sein, wie mit dem Phänomen der steigenden Verschuldung umzugehen ist. Wir können doch nicht immer mehr Schulden machen. Oder doch?

«Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen», wird Christoph Schaltegger, Ökonom an der Universität Luzern, in den Medien zitiert. Das klingt nicht gut. Schliesslich liegt die Verschuldung des Bundes, also die Summe aller aufgenommenen und noch nicht zurückgezahlten Schulden, momentan bei 103,6 Milliarden. Sie erinnern sich an den Stapel mit den Tausendernoten. Der wäre damit über 10 Kilometer hoch.

Die klassische liberale Wirtschaftstheorie, von der Politiker wie Finanzdepartementsvorsteher Ueli Maurer geprägt sind, steht Staatsschulden grundsätzlich kritisch gegenüber. Sich als Regierung zu verschulden, sehen sie zwar als unvermeidlich an, denn wie sonst sollte man grosse Investitionen beispielsweise in die Infrastruktur tätigen? Aber Staatsschulden sind letztlich ein Übel. Und entsprechend wird auch darüber gesprochen. Es täte Ueli Maurer fast körperlich weh, weitere schuldenfinanzierte Hilfspakete zu sprechen, war beispielsweise in der Aargauer Zeitung zu lesen, und in der NZZ war vom «Schlamassel» die Rede, den die nächste Generation womöglich «ausbaden» müsse, und von Steuererhöhungen, die nun «drohen». Frank Marty von Economiesuisse forderte gar einen Abbau innerhalb der nächsten zehn Jahre. «Die Schweiz sollte den Ehrgeiz haben, spätestens nach zehn Jahren wieder auf den Pfad der finanzpolitischen Tugend zurückzukehren.»

Der Reflex, das Schuldenmachen als verwerflich darzustellen, fusst auf dem Glauben daran, dass man auch als Staat wie in einem Familienhaushalt nur ausgeben könne, was man auch eingenommen habe. «Solides Haushalten» nennt man es, wenn sich Einnahmen und Ausgaben des Staates über einen Konjunkturzyklus ausgleichen. Und weil die Angst so gross ist, die Regierung könnte sich dann irgendwie doch nicht daran halten, beschlossen Bundesversammlung und Volksabstimmung die sogenannte Schuldenbremse: ein finanzpolitischer Mechanismus, der die Ausgeglichenheit von Einnahmen und Ausgaben über einen Konjunkturzyklus seit 2003 in der Verfassung festschreibt. Zwar sind Ausnahmen im Falle unvorhergesehener Ereignisse zugelassen – worunter auch die Corona-Hilfen fallen –, die Grundrichtung ist aber klar vorgespurt.

Schulden abbauen – aber wie?

Wir erinnern uns: Finanzpolitische Tugend wird gefordert. Abbau innerhalb von zehn Jahren. Möglicherweise hat man sich in Bezug auf die Pandemie-Hilfen schon ein wenig davon überzeugen lassen, die Ausgaben dafür seien ok – denn auch die Liberalen sind nicht sicher, ob wir ohne die Hilfsgelder nicht noch viel schlechter dastünden. Ihre Überzeugung aber, ein Abbau der Staatsschulden sei unvermeidlich, bleibt bestehen.

Es gibt verschiedene Mittel und Wege, Staatsschulden abzubauen. Im Idealfall werden sie weniger, ohne viel zu tun – ermöglicht durch ein entsprechendes Wirtschaftswachstum. Häufiger sind jedoch schmerzhaftere Optionen. Eine wurde schon angedeutet: Steuererhöhungen. Eine andere: Sparrunden. Bei dieser Art Massnahmen stellt sich unvermeidlich die Folgefrage: Wen wird die Hauptlast des Schuldenabbaus treffen? In der Regel schlagen die Vertreter*innen der klassischen Theorie des Marktes im Falle unpopulärer Massnahmen vor, «solidarisch» zu sein. Also über Mechanismen zu sparen, die alle treffen. Natürlich sitzt da auch die Vorstellung im Hinterkopf, wir hätten alle über unsere Verhältnisse gelebt, also müssten wir entsprechend den Gürtel enger schnallen. Im Falle der Pandemie sässen wir dieser Argumentation folgend alle im selben Boot.

Nun sind die Menschen in den unteren Einkommensschichten nachweislich stärker von den Folgen der Pandemie betroffen. Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust können Existenzängste nach sich ziehen. Gesamtgesellschaftlich ansetzende Sparmassnahmen wie beispielsweise eine Erhöhung der Einkommenssteuer würde genau diese Menschen noch einmal empfindlich treffen. Das wäre so, als würde man nach der Rasenmäher-Methode bei allen Budgetposten des Haushaltes den Rotstift ansetzen: überall 5 Prozent weniger hiesse dann auch 5 Prozent weniger im Sozialen, bei der Bildung, im Gesundheitswesen.

Warum denn nicht das Geld für den Schuldenabbau bei denen holen, die in Zeiten der Pandemie an den Finanzmärkten noch reicher geworden sind – trotz Wirtschaftskrise und Rezession? Die klassische Antwort: Weil die Reichen ihr Geld ja dafür brau-

chen, in die Wirtschaft zu investieren, womit dann wieder Einkommen und Arbeitsplätze entstünden – und das kommt allen zugute. Sofern sie denn investieren, in die Schweizer Wirtschaft, und nicht im Ausland. Oder ihr Geld gar im globalen Casino des Finanzmarktes einsetzen, nur um noch mehr daraus zu machen.

Bei Menschen, die sehr wenig haben, kann diese Argumentation zu Unzufriedenheit und Resignation führen. Vor allem dann, wenn nicht nur die höchsten Einkommen ansteigen, sondern zeitgleich die unteren absinken (siehe Interview Seite 16). Eine solche Entwicklung kann bei einem Teil der Bevölkerung zu der Wahrnehmung führen, ihre Stimme und ihr Schicksal zählten nicht mehr. Das wiederum kann zur Radikalisierung und einem Rechtsrutsch führen, wie man in verschiedenen Ländern Europas beobachten kann, aber auch zum Rückzug ganzer Bevölkerungsteile aus der gesellschaftlich-politischen Teilhabe. Wer arm ist und womöglich auch noch Schulden hat, sieht sich schnell abgehängt (siehe Teil 2 der Schulden-Serie, Heft 502).

Rückt man ab von der traditionell liberalen Denkart, gibt es durchaus Stimmen, die eine Verschuldung ohne direkte Abbaupläne für möglich halten. Zumindest in der derzeitigen Wirtschaftslage und bei der komfortablen Situation, in der sich die Schweiz befindet. So rechnet Michael Graff von der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich vor, dass selbst bei einem starken Anstieg der Schweizer Schuldenquote – diese beschreibt das Verhältnis von Schulden zum Bruttoinlandsprodukt – die Schweiz im internationalen Vergleich immer noch sehr niedrig verschuldet wäre (siehe Grafik «Schuldenquote»).

Es geht um Zinsen

Die USA sind derzeit mit über 108 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung, die Länder der Eurozone mit rund 100 Prozent und Japan sogar mit fast 235 Prozent verschuldet. (Japan ist anders als viele andere Länder in erster Linie im Inland verschuldet. Das bedeutet, dass die Schulden lediglich auf die zukünftigen Generationen von Japaner*innen übertragen werden und das Land nur wenig von der Gunst ausländischer Gläubiger abhängt.) Für die Schweiz liegt der Wert in diesem Modell bei knapp 30 Prozent. Das bedeutet, dass wir von allen Einkommen, die innerhalb eines Jahres in der Schweiz generiert werden, ein Drittel für die Rückzahlung der Schulden aufwenden müssten, wenn man alles auf einmal zurückzahlen wollte. Und weil die Schweiz in den letzten 25 Jahren stetig Schulden abgebaut hat, wird die Bonität – so nennt man die Kreditwürdigkeit von Schuldner*innen – von Schweizer

Schuldenquote

in Prozent des Bruttoinlandproduktes

USA Eurozone Schweiz

140%

120%

100%

80%

60%

40%

20%

0%

1995 2000

E ektive Zinszahlungen

in Prozent der Staatsschulden

USA Eurozone Schweiz

8%

7%

6%

5%

4%

3%

2%

1%

0% 2005 2010 2015 2020

Staatsanleihen nicht unter der Neuverschuldung leiden. Ein Grundsatz für die Bestimmung, ob die Staatsverschuldung im problematischen Bereich liegt, ist die Fähigkeit, die Zinsen zu bezahlen. Sobald ein signifikanter Teil der Steuereinnahmen für Zinszahlungen draufgeht, kann es sogar dazu kommen, dass ein Staat sich neu verschulden muss, um seine laufenden Kosten decken und die Zinsen bezahlen zu können. Derzeit leben wir jedoch in einer Phase der Negativzinsen. Das bedeutet, dass den Schweizer Staat die neu aufgenommenen Schulden gar nichts kosten. Im Gegenteil, er verdient sogar noch daran. Können wir also doch immer mehr Schulden machen?

Derzeit wird «umgeschuldet»: Dabei werden alte Schulden mit hohen Kreditzinsen mittels neuer Kredite zurückgezahlt, die tiefer verzinst werden. Stellen Sie sich einmal vor, Sie bitten Ihre Freundin darum, Ihnen 100 Franken zu leihen. Sie gibt Ihnen 105 Franken, Sie schulden ihr aber nur 100. So könnte man das darstellen. Es lohnt sich also, jetzt Schulden zu machen. Über den Mechanismus der Umschuldung, der Neuauflage ausstehender Staatsschulden zu aktuellen Konditionen, sinken auch die Zinszahlungen alter Schulden automatisch weiter (siehe Grafik «Effektive Zinszahlungen»). Und sollten die Zinsen mal wieder steigen, würde dieser Mechanismus auch bewirken, dass die Zinszahlungen sich nur allmählich verteuern. «Der vielfach geforderte schnelle Schuldenabbau ist damit schwer zu begründen, allzumal bereits eine Rückkehr zu einem zukünftig über den Zyklus ausgeglichenen Staatshaushalt die Schuldenquote dank tiefen Zinsen und zu erwartendem Wirtschaftswachstum schnell senken würde», schliesst Graff.

Macht Schulden!

Im Allgemeinen herrscht unter Ökonom*innen keine Einigkeit darüber, ab welcher Höhe Staatsschulden zum Problem werden. Im Euroraum legt der Maastricht-Vertrag eine Obergrenze von 60 Prozent fest, derzeit haben aber zahlreiche Länder diese wegen der Pandemie ausgesetzt. Aus der empirischen Forschung halten andere Forscher*innen einen Wert von 80 Prozent für noch tolerabel, wobei die Beispiele USA und Japan zeigen, dass es sich auch auf viel höheren Schuldenbergen leben lässt.

Es gibt sogar Argumente, die gewissermassen für das Schuldenmachen sprechen: Die ausgegebenen Staatsanleihen oder Obligationen, wie sie auch genannt werden, bieten eine gute, sichere Anlagemöglichkeit für unsere Pensionskassen. Könnten diese unser eingezahltes Geld nicht dem Schweizer Staat überlassen, müssten sie sich andere, womöglich weit risikoreichere Anlagemöglichkeiten suchen – und damit unsere Pensionsgelder aufs Spiel setzen.

Entscheidend ist auch, was mit dem Geld angefangen wird, das der Staat sich leiht. Bei den Pandemie-Hilfen ist wohl inzwischen einigermassen unstrittig, dass es Sinn gemacht hat, krisengebeutelten Unternehmer*innen unter die Arme zu greifen, Kurzarbeit zu finanzieren und selbständig erwerbende Menschen davor zu bewahren, in Existenznot zu geraten. Sicher wird noch zu analysieren sein, ob die finanziellen Mittel ausreichend waren und an den richtigen Orten eingesetzt wurden. Jedenfalls herrscht über die Tatsache ihrer Vergabe weitgehend Konsens. Doch auch jenseits von Pandemie-Hilfen ist die Frage nach dem richtigen Einsatz der Kredite von Bedeutung. Schulden zu machen ist nämlich auch nach klassischer Lesart akzeptiert, wenn mit dem Geld Investitionen getätigt werden, die sich in der Zukunft und über lange Zeit auszahlen. Das kann eine neue S-Bahn sein, die in den nächsten Generationen Güter und Menschen von A nach B transportiert, aber auch ein neues Institut an der ETH, wo hochausgebildete Forscher*innen sinnvolle Erfindungen für die Zukunft tätigen. Bildung garantiert höhere Einkommen, das bedeutet auch mehr Steuern für den Staat in Zukunft, um es sehr vereinfacht zu sagen. Schulden sind also nicht nur als Kostenpunkt «die Steuern von morgen», sondern bedeuten auch eine Investition in künftige Einnahmen. Problematisch sehen Ökonom*innen Schulden dann, wenn davon laufende Kosten gedeckt werden, die keine Wertschöpfung in der Zukunft versprechen, wie Beamt*innen-Gehälter beispielsweise. In den Bereich der Ideologie hingegen gehört wohl die Überzeugung, private Investitionen in die Wirtschaft seien per se besser als staatliche.

Das Wohl aller im Blick haben

Schulden werden also immer dann als grundsätzlich tragbar angesehen, solange damit sinnvolle Investitionen in die Realwirtschaft getätigt werden und die Wirtschaft wächst. Und das Wirtschaftswachstum an sich brauchen wir, um Wohlstand zu generieren. Nicht nur für uns, sondern für alle Menschen. Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit steht dabei auf einem anderen Blatt und ist eine politische. Fakt aber ist, dass wir beispielsweise von 2000 bis 2015 die globale Armut halbieren konnten – auch wenn die Pandemie uns nun wieder ein grosses Stück zurückwirft. Auch die Frage der Qualität des Wachstums, zum Beispiel in Bezug auf Klimaschädlichkeit, ist im BIP nicht abgebildet (siehe auch Interview Seite 16). Gehen wir mal davon aus, wir wachsen klimafreundlich und sorgen dabei für mehr Verteilungsgerechtigkeit, dann wissen wir immer noch nicht, welche Wirtschaftspolitik eigentlich geeignet ist, Wachstum zu fördern. Amüsant dazu der Schlusssatz eines Berichts der Wachstumskommission der Weltbank von 2006: «Nach 2 Jahren Arbeit durch eine Kommission von 21 Vordenker*innen und Expert*innen, einer 11-köpfigen Arbeitsgruppe, 300 Forscher*innen, 12 Workshops, 13 beratenden Treffen und einem Budget von rund 4 Millionen US-Dollar ist unsere Antwort auf die Frage, wie man signifikantes Wirtschaftswachstum bewirkt: Wir wissen es nicht, aber vertrauen Sie den Expert*innen, wir werden es herausfinden.»

Möglicherweise ist es tatsächlich so, dass viele derzeitige politische Entscheidungsträger*innen ihre wirtschaftspolitischen Ideen aus veralteten Theorien ausrichten – oder zumindest an solchen, die nur begrenzt anwendbar sind in der hochvernetzten Welt, in der wir leben und in der die Geschwindigkeit des Handels die des politischen Handelns längst um ein Vielfaches überholt hat. Bleibt zu hoffen, dass derzeit in den Wirtschaftswissenschaften auf Basis empirischer Forschung ganz neue Erkenntnisse gewonnen werden über das, was Wirtschaft ist und wie sie funktioniert – und dass mithilfe der immer schnelleren Verarbeitung grosser Datenmengen neue Modelle entwickelt werden.

Und vielleicht finden wir darüber auch zu einem Umgang mit Staatsschulden, der auf mehr als Ideologien basiert und das Wohl der Allgemeinheit im Fokus hat.