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Freies Schauspiel Ensemble »Ver-rückt.de«
Bettina Kaminski und Hans-Peter Schupp in VOLKSFEINDIN © Felix Holland

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raus aus der Finsternis
Freies Schauspiel Ensemble: »Ver-rückt.de« (10.–25. September) wird eine Standortbestimmung mit Werkschau, Premiere, Diskussionen, Kaffee & Kuchen
So viel Theater um das Theater gab es lange nicht mehr in den deutschen Medien, ausgelöst von leer bleibenden Sitzen, Sälen und Rängen nach der dritten Corona-Welle fragt sich alle (kulturelle) Welt, was das zu bedeuten hat. Sollte das Theater nicht mehr systemrelevant und unverzichtbar sein? Eine Aufmerksamkeit, die das Freie Schauspiel Ensemble in Frankfurt jetzt auf eigene Weise nutzen will. Mit seiner ersten Werkschau, einer Premiere und vielen Diskussionen um das, was ein sich politisch verstehendes Theater leisten kann in der Gesellschaft und in einer Welt, die sichtlich aus den Fugen geraten. »Ver-rückt.de« bezeichnet diesen Zustand im Zuge der globalen Krisen, und noch viel mehr unsere Wahrnehmung von ihm. Für Bettina Kaminski und Reinhard Hinzpeter macht sich letzteres an einem folgenreichen Rückzug ins Private fest, der sich nicht nur in leeren Sitzen ausdrückt, sondern auch in einem Verlust der Diskussionskultur. Das Theater sollte der Ort sein, der diesem Druck zur Eindeutigkeit, dem Pro oder Contra widersteht, und differenzierende Diskussionen zulässt. »Was kann Theater?« heißt es denn auch auf dem Podium einer zentralen Diskussion am 16. September, die auf Erfahrungen von Theatermachern wie dem ExVolksbühnen-Dramaturgen und Christoph-Schlingensief-Partner Carl Hegemann, der Studio-NaxosRegisseurin Carolin Millner und der Mainzer Dozentin Yana Prinsloo rekurriert. Eine praktische Antwort wird mit der zweiwöchigen Werkschau versucht, die mit acht Stükken aus dem Repertoire der Bühne und mit einer Premiere Beispiele politischen Theaters mit höchst unterschiedlichsten Themen, Formaten und Ästhetiken präsentiert. Es hat einen gewissen Charme, dass diese Standortbestimmung im Bockenheimer Titania mit dem Titel »Finsternis« eröffnet wird. Das Monodrama von Davide Enia basiert auf dessen eigenem kleinen autobiographischen Roman »Schiffbruch vor Lampedusa« (2017). Der sizilianische Autor verbindet in seinem Werk auf ungemein einfühlsame Weise die auf der Insel in Nahsicht erfahrenen und recherchierten Tragödien von Flüchtenden und ihren Helfern mit der ganz persönlichen Erfahrung einer Wiederannäherung an seinen Vater und dem schleichenden Krebstod des geliebten Onkels Beppo. Schiffbruch, aber auch Finsternis, erleben alle in diesem Stück, das im Mai dieses Jahres im Münchner Residenztheater erstmals aufgeführt worden ist. Reinhart Hinzpeter inszeniert das Solo »Finsternis« mit dem Schauspieler Moritz Buch und wird, auch weil der Autor jede Art von Schaustellung untersagt hat, den Ich-Erzähler mittels einer WebCam zusätzlich auf eine Leinwand projizieren. Es bleibt dem Publikum überlassen, der überdimensionalen Abstraktion des Gesichts oder dessen leibhaftigen Profil zu folgen. Dem großen Thema Flucht gilt denn auch die Abschlussveranstaltung. »Menschen auf der Flucht – Schotten dicht?« mit Politikern und Vertretern von humanitärer Organisationen. Im Fokus nicht zuletzt der Fragestellung, wie Theater der Realität begegnen kann und soll, wird die von der Bundesrepublik wesentlich initiierte Politik der europäischen Abschottung stehen, die unter der Maßgabe, Asylsuchende von den europäischen Grenzen fernzuhalten (Stichwort: Frontex) schwerste Menschenrechtsverletzungen und Hunderte, Tausende von Tote in Kauf nimmt. Ebenfalls im Programm ist die Prekariatssatire »Glaube Liebe Hoffnung« nach Ödön von Horváth mit Bettina Kaminski in allen Rollen, die die Protagonistin Elisabeth als Karrieristin enttarnt. Das schiere Gegenteil gibt Reinhard Hinzpeter als Herman Melvilles zeitloser Verweigerer Bartleby in »Ich möchte lieber nicht«. Stückentwicklungen wie das Rosa-Luxemburg-Porträt »Ich werde sein« und die Betrachtung der erstickten deutschen Revolution von 1918 »Die Unvollendete«, verarbeiten historische Quellen. Auf politische Zeitromane beziehen sich »Ein Mensch brennt« (Nicol Ljubic) und »Wer hat meinen Vater umgebracht/Das Ende von Eddy« (Édouard Louis), während »Diplomatie« (Cyril Gely) und das an Ibsen anlehnende »Volksfeindin« Theaterstücke aufgreifen. Vor jeder Vorstellung eröffnet der Maler Niklas Fiedler dem Publikum die Möglichkeit, an einem »LivePainting« teilzuhaben, nach jeder Vorführung stellen sich Ensemble und Regie zur Diskussion.

Winnie Geipert Vom 10. bis 25. September: Informationen unter www.freiesschauspiel.de