Die ungeschriebenen Regeln

Page 1

Die ungeschriebenen Regeln Ein Märchen über Freundschaft, Mut und Prinzen, die keine sein wollen

KATHRIN HÄSELI UND LILIAN CHEYENNE NÄGELI




WEGE ENTSTEHEN DADURCH, DASS MAN SIE GEHT. ­– FRANZ KAFKA


Die ungeschriebenen Regeln ERZÄHLT VON LILIAN CHEYENNE NÄGELI ILLUSTRIERT VON KATHRIN HÄSELI


Die Hauptpersonen der Geschichte Prinzessin Tia

Was Tia mag: Malen, Bogen schiessen, Lesen (abenteuer BĂźcher), Natur, Schwimmen, Reiten, Ringe schmieden, Essen Was Tia nicht mag: Sich wie eine Prinzessin benehmen, unbequeme Kleidung, Stillsitzen, Sticken, bĂśse Menschen, Befehle 6


Prinz Yawe Was Yawe mag: Schauspiel, Reiten, Ritter spielen, Verkleiden, Schwimmen Was Yawe nicht mag: Aggressive Menschen, seine Stiefmutter, Scharfes Essen

Nora Was Nora mag: Zahlen, Schokolade, Spiele im Garten Was Nora nicht mag: Vorurteile, Ungerechtigkeit, Fleisch

7


Die ungeschriebenen Regeln Ein Märchen ßber Freundschaft, Mut und Prinzen, die keine sein wollen


Vor langer Zeit lebte in einem fernen Land eine Prinzessin namens Tia. Tia hatte rote, lange Haare und trug diese stets zu einem Zopf geflochten, der aber nie ihre ganze Haarpracht einfangen konnte. So hingen immer kleine Haarsträhnen in ihr von Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht. Das kleine Krönchen auf ihrem Haupt war aus Plastik, weil die echte, goldene Krone schon zu oft beim Spielen verloren gegangen war. Trotz ihrem berstenden Kleiderschrank voller Röcke und Kleider, mochte Tia ihre schwarze Hose am liebsten. Sie war bequem. Und ausserdem konnte Tia in ihr viel schneller rennen. Und das musste sie, weil sie sonst beim Räuber und Ritter Spiel verlieren würde.

9


Leider durfte Tia ihre Hose nur in der Freizeit anziehen, denn eine richtige Prinzessin ist nun mal in Samt und Seide gehüllt. Eine richtige Prinzessin musste sticken, stillsitzen und durfte auf keinen Fall Grimassen ziehen. Tia hasste diese Tage, sie hasste sticken, stillsitzen und Kleider tragen. Doch dies waren die Regeln für Prinzessinnen, da konnte sie nichts ändern, egal wie sehr sie sich das wünschte.

Wenn Tia zur Abwechslung mal nicht Prinzessin sein musste und freie Zeit hatte, spielte sie mit den anderen Kindern, schwamm im See oder ritt auf ihrem Pferd. Oft übte sie auch das Bogenschiessen. Tia liebte es, die Sehne bis hinters Ohr zu ziehen, die Augen zusammen zu kneifen, einzuatmen und loszulassen. Wenn der Pfeil dann in die Ferne flog und auf der anderen Seite die Zielscheibe traf, verfiel Tia in ihr Siegesrufen. Ein Schrei, der wie das Geheul eines Wolfes über das Land fegte.

10


Der Tag, an dem sich Tias Leben für immer ändern sollte, fing ganz gewöhnlich an. Wie so oft sass sie in der Ecke und las ihre Lieblingsgeschichte, anstatt still dazusitzen und zu sticken. Die Geschichte handelte von einer Räubertochter mit weissen Haaren, die von den Reichen stahl und es den Armen gab. Tia war beeindruckt von mutigen Personen und diese Räubertochter, ja, die war echt cool. Während sie las, hörte sie im Hintergrund ihre Eltern streiten. Ihre Mutter behauptete, der König sei zu dick geworden und brauchte deshalb ständig neue Kleidung in Sondermassen. Worauf der König konterte, dass er einfach zu klein sei, für die Kraft, mit der er gesegnet worden war. Und ausserdem solle die Königin nicht so tun, denn auch sie brauchte ihre Kleidung in Sondermassen, weil sie so gross und hager sei.

11


Plötzlich pochte es laut an der Türe. Vor Schreck zuckte Tia zusammen und liess ihr Buch sinken, um zu sehen, was los war. Zwei Frauen wurden in den Saal geführt. Sie stellten sich als Gesandte aus dem Land Balei vor. Sofort wusste Tia, weshalb die Frauen gekommen waren. So oft schon hatte sie über dieses Land nachgedacht und mit ihren Freunden darüber gesprochen. Balei war das Land ohne Regeln. Alle Menschen waren frei und konnten so leben, wie sie wollten. Tia hatte sich immer wieder gefragt, wie ihr Leben in diesem Land wohl aussehen würde. Sie musste schlucken und ihr wurde plötzlich ganz heiss. Drei Wochen waren seit diesem Tag vergangen. Tia war ständig draussen im Wald und versuchte sich abzulenken. Sie war aufgeregt und schlafen konnte sie am Abend nur, nachdem Magda, ihre Zofe, ihr heisse Schafsmilch mit Wildhonig gebracht hatte. Tia wusste, dass sie bald mit den beiden Frauen nach Balei reisen würde. Dort sollte sie dann den jungen Prinzen Yawe kennenlernen, um ihn im besten Fall zu heiraten. Dieses Abkommen hatten ihre Eltern vor langer Zeit mit dem Vater von Yawe getroffen. Ihren Eltern war wichtig, dass der Frieden zwischen den beiden Ländern bestehen blieb. «Ausserdem braucht eine Prinzessin einen Prinzen», meinten ihre Eltern. Tia zuckte dann immer mit den Schultern, für sie war diese Aussage sehr altmodisch. Sie glaubte nicht wirklich, dass sie irgendeinen Prinzen brauchte. Die Vorstellung, ohne ihre Eltern weit weg in einem fremden Land zu sein, machte ihr Angst. Als der Tag der Abreise gekommen war, fühlte sich Tia wie in einem Traum. Der Abschied fiel kurz aus und schon war sie auf dem Weg in ein Land, das sie noch nie zuvor betreten hatte. Ein Land, das ganz anders war als das, was sie bisher kannte.

12


Nach einer zweiwöchigen Reise war sie in Balei angekommen und fiel völlig erschöpft in ihr neues Bett. Sie schaute an die Decke des Raumes und liess dann langsam ihre Augen durchs Zimmer schweifen. Links und rechts vom Bett standen zwei steinerne Säulen, daneben hingen zwei in gold gerahmte Spiegel. Es war ein schönes Zimmer. Nach und nach wurde sie schläfrig. Aber plötzlich klopfte es an der Tür und Tia war schlagartig wieder wach. Einen Moment später trat ein Mädchen ein. Es war etwa im gleichen Alter wie Tia und hatte rund um ihre blonden, schulterlangen Haare ein buntes Haarband geschlungen. Aus ihren grünen, schmalen Augen blitzte das Mädchen Tia verschmitzt an und stellte sich als Nora vor. Sie war Tias neue Zofe und brachte ihr frische Handtücher. Nora fragte Tia, ob sie noch Wünsche hatte, was Tia dankend verneinte. Als sie wieder allein im Zimmer war, fühlte sie sich sehr klein und einsam.

13


Früh am nächsten Morgen klopfte es erneut an der Tür und die hellen Haare und die grünen Augen von Nora erschienen zögerlich im Türspalt. Als Nora sah, dass Tia schon angekleidet an ihrem kleinen Pult sass und sie freundlich anlächelte, trat sie ganz hinter der Tür hervor und räusperte sich. «Der Prinz hatte sich erkundigt, ob du nach dem Frühstück mit ihm Ausreiten möchtest.» Tia blickte Nora in die Augen, atmete tief ein und nickte zögerlich. Nora lächelte aufmunternd und verliess das Zimmer. Langsam schritt Tia die Treppen zum Hof hinunter. Immer wieder blickte sie kurz aus den kleinen Zinnenfenstern und versuchte, einen Blick auf die arbeitenden Leute im Hof zu erhaschen. Sie hatte gehört, dass all die Leute freiwillig arbeiteten und gut bezahlt würden. Komisch dieses Land, aber irgendwie auch aufregend, dachte sie sich. Fast wäre sie gestolpert, denn ihr Kleid schleifte bei jedem Treppenschritt hinter ihr her und blieb überall hängen. Ihr Korsett drückte in ihren Bauch. Wieder einmal stellte Tia fest, wie sehr sie diese Prinzessinnenmode verabscheute und sie freute sich noch weniger auf den kommenden Ausritt. Unten angekommen erspähte Tia schon von weitem ihre wunderschöne, weisse Stute mit den schwarzen Ohren. Sie grinste und war froh, dass sie wenigstens ihr Pferd von Zuhause hatte mitnehmen dürfen. Zu ihrer Überraschung sah sie schon wieder Nora, die gerade den Sattel auf ihrer Stute richtig befestigte. Als Tia das warme Fell der Stute berührte, bemerkte auch Nora die Prinzessin. Bevor Nora ihre Röcke raffte und hastig Richtung Stall lief, zwinkerte sie Tia noch zu. Tia schmunzelte,

14


Nora gefiel ihr irgendwie. Dann wandte sie sich wieder der Stute zu. Kurz darauf hörte sie mehrere Stimmen und fröhliches Gelächter aus dem Schloss. Hinter der Stute stehend, blickte sie in die Richtung und sah, wie ein junger Mann mit gebräunter Haut und dunklen, mandelförmigen Augen auf sie zulief. Er war ganz in orange gekleidet und hatte einen gekrümmten Säbel über den Rücken geschnallt. Das musste Yawe, der Prinz, sein.

Als er sich vor ihr verbeugte und sie willkommen hiess, setzte Tia ihr Prinzessinnenlächeln auf, obwohl ihr eigentlich gar nicht nach Lachen zumute war. Während Yawe sein eigenes Ross holte, erzählte er Tia von sich und seinem Land, als wären sie schon lange Freunde. Es stimmte, dass all die Menschen ihre Arbeit freiwillig erledigten 15


und sich gegenseitig halfen, so gut es ging. Lachend erzählte er, dass er sich auch nicht wirklich wie ein Prinz fühlte, denn eigentlich seien fast alle Menschen in Balei gleich. «Wir sind frei und glücklich hier, ich hoffe du fühlst dich auch bald wie Zuhause», sprach er. Tias Nervosität verflog durch seine Offenheit sehr schnell und als die beiden zusammen in den Wald galoppierten, stimmte sie sogar in sein fröhliches Pfeifen ein. Als sie an einer Lichtung angekommen waren und von den Pferden stiegen, fluchte Tia leise vor sich hin. Ihr tat alles weh von der unbequemen Kleidung und der edle Stoff brachte sie ungewohnt zum Schwitzen. Yawe sah sie an und musste lachen. «Du musst ja nicht so ein unbequemes Ding anziehen, in Hosen würde ich mich auch nicht so anstellen», funkelte sie ihn an. «Dann zieh doch eine Hose an», antwortete Yawe lächelnd, «für mich benötigst du keine so prächtige Garderobe. Prinzessinnen sind frei in ihrer Kleiderwahl.» Was echt? Das ist ja cool! Entzückt dachte Tia an ihre schwarze Hose. Zum Glück hatte sie nicht auf ihre Mutter gehört und ihr Lieblingskleidungsstück heimlich eingesteckt. Am Abend gab es ein grosses Bankett zu Ehren der neu angekommenen Prinzessin. Der ganze Hof war versammelt und liess sich köstliche, exotische Mahlzeiten schmecken. Tia hatte noch nie so viele Früchte und Süssigkeiten gesehen und war begeistert. Dann betraten der König und die Königin den Saal und alle Anwesenden klatschten. Ein wenig später beobachtete Tia, wie Yawe mit seinen Eltern etwas besprach und dann mit angespanntem Gesicht aus der Halle lief. Sie folgte ihm und fand

16


ihn auf dem Balkon wieder. Nora war bei ihm und lächelte Tia zu, als sie sie sah. Tia stellte sich zu den Beiden und hörte gespannt zu. Sie erfuhr, dass der König ein Alkoholproblem hatte. Denn in Balei funktionierte das meiste so reibungslos, dass es für den König kaum Aufgaben gab. Aus Langeweile hatte er vor geraumer Zeit mit dem Trinken angefangen. Yawe machte sich Sorgen um seines Vaters Gesundheit. Und ausserdem missbrauchte die Königin, seine Stiefmutter, die Situation, um Yawe ihre Regeln aufzuzwingen. Als Tia mehr wissen wollte, wich Yawe aus und versprach, er werde es ihr ein anderes Mal erzählen. Nachdenklich ging Tia an diesem Abend zu Bett. Die nächste Zeit verbrachten Yawe und Tia die Tage im Wald. Sie jagten mit Pfeil und Bogen, schwammen in Seen und Flüssen, lagen in der Sonne, spielten Ritter und Jäger, bauten Hütten und redeten viel über ihre Vergangenheit. Manchmal war auch Nora dabei. Sie war eher schweigsam, aber wenn sie dann mal etwas sagte, war es so witzig, dass die drei stundenlang ausgiebig lachen mussten. An einem späten Nachmittag regnete es in Strömen und die drei Freunde entschlossen sich, eine verstaubte Truhe in Tias Zimmer zu erforschen. Da sie viele alte Kleidungsstücke fanden, wurde die Entdeckungsreise schnell zu einer wilden Kostüm-Party. Irgendwann hielt Yawe ein grünes Samtkleid in den Händen und war völlig fasziniert von den feinen Stickereien und dem üppigen Faltenwurf des Kleides. Er drückte sich das Kleid an den Körper und drehte sich lachend im Kreis. Ohne weiter nachzudenken schrie Tia begeistert, dass Yawe das Kleid anprobieren solle. 17


Yawe hielt inne und auf Tias anfeuerndes Nicken, zog er das Kleid an. Auch Nora und Tia hatten schon verschiedene Kleiderstücke in wilden Kombinationen an und stolzierten durch das Zimmer. Yawe schloss sich ihnen an und sie posierten und präsentierten ihre neue Mode. Während Yawe noch nach Accessoires suchte, fassten sich die Mädchen an den Händen und tanzen wild, bis sie sich erschöpft und prustend auf das Bett fallen liessen.

Ihre Hände immer noch ineinander verschlungen schauten sie sich an. Tia wurde rot und kicherte. Nora strich ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht und zwinkerte ihr wieder einmal zu. Plötzlich liess sie ein leises Schluchzen aufhorchen. Yawe stand vor dem Spiegel und Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Die beiden Mädchen stellten sich neben ihn.

18


«Yawe, was ist denn los?», Tia berührte sanft seine Schulter und er zuckte zusammen. «Dieses Kleid ist so schön. So wunderschön und ich werde es nie tragen können. Ich in einem Kleid, das geht nicht», schluchzte Yawe. Er drehte sich weg vom Spiegel, zog sich um und verliess das Zimmer, ohne einen Gruss. Tia und Nora schauten sich an. Als Tia ihren Mund öffnete, um Nora zu fragen, was gerade passiert sei, blickte diese unsicher zu Boden. Als ob Nora Tias Frage erahnt hätte, erklärte sie zögerlich: «Seit der König die neue Frau, die Königin, geheiratet hat, hat sich viel für Yawe verändert. Yawes Stiefmutter kommt aus einem sehr strengen Land und kann deshalb mit den Freiheiten in Balei nicht gut umgehen. Und gegen diese Ohnmacht kämpfte sie fortan an, indem sie Yawe unterdrückt und ihm vorschreibt, was er zu tun und zu lassen hat. Die ungeschriebenen Regeln, wie Yawe sie nennt. Und da der König immer zu betrunken ist und die Königin sehr liebt, erkennt er nicht, wie sehr Yawe unter diesen Regeln leidet. Das macht ihn schon lange traurig.» 19


Als Tia am Abend ins Bett ging, konnte sie nicht schlafen. Der Tag hatte sie zu stark aufgewühlt. Sie wollte nicht, dass Yawe unglücklich war. Am nächsten Tag wich Yawe Tia aus, als sie aufeinandertrafen. Er tat beschäftigt und so als hätte er keine Zeit für sie. Und als dieses Verhalten den ganzen Tag so weiter ging, fasste sie sich ein Herz und klopfte zur späten Stunde an seine Zimmertür. «Yawe, rede mit mir, bitte», sagte Tia. Nach erneutem Klopfen öffnete sich endlich die Tür und Yawe liess sie eintreten. «Ich schäme mich. Ihr hättet mich nicht so sehen sollen. Ich bin ein Prinz und Prinzen tun solche Dinge nicht», wisperte Yawe leise. Fragend sah Tia ihn an. «Aber Yawe», entgegnete sie, «du hast selbst gesagt, dass hier in Balei alle Menschen tun und lassen können, was sie wollen. Noch dazu bist du der Prinz!» «Das stimmt nicht ganz, Tia. Die Königin sagt, ich muss ihre Regeln befolgen.» - «Dann sag mir doch endlich, was die Regeln sind, Yawe, nur so kann ich dir helfen», sprach ihn Tia energisch an. Da begann Yawe zu erzählen. «Tia, weisst du, ich darf nicht über mein eigenes Leben bestimmen. Ich will nicht heiraten. Ich möchte nur mit den Leuten sein, die ich mag und meine Zeit geniessen.» «Oh», erwiderte sie, «das wusste ich nicht.» «Versteh mich nicht falsch, ich habe dich sehr gerne, aber heiraten möchte ich nicht. Unsere Eltern haben dieses Abkommen vor Jahren gemacht, aber sie können ja nicht einfach über unsere Köpfe entscheiden. Mein Vater hatte mir in diesem Punkt eigentlich einmal zugestimmt, aber meine Stiefmutter interessiert das nicht und hat mir befohlen, dich kennenzulernen. Naja, aber eigentlich ist das auch nicht mein grösstes Problem.» 20


«Was liegt dir denn noch auf dem Herzen?», fragte Tia verwirrt. «Ich wäre gerne eine Prinzessin. Ich möchte glitzernde Röcke und Kleider tragen, schöne Halsketten und Spitzenschuhe anziehen. Ich fühle mich nicht wohl als Prinz. Mein Vater weiss von diesem Wunsch und hatte mir versprochen, dass ich mit dem Erwachsenwerden selbst entscheiden kann, wer oder was ich sein möchte. Doch dann lernte mein Vater meine Stiefmutter kennen und vergass sein Versprechen», erklärte Yawe traurig. «Als ich meiner Stiefmutter von meinem Wunsch erzählte, lachte sie mich bloss aus und erwiderte, ich solle mich nicht blamieren und das schleunigst vergessen. Seither muss ich ihren ungeschriebenen Regeln folgen und wenn ich Vater davon erzähle, nimmt er mich nicht ernst.» Tia setzte sich auf einen Stuhl und rieb sich das Gesicht. Die Sache war verzwickt. Obwohl die nächsten Tage wieder voller Sonnenschein und toller Erlebnisse waren, dachte Tia jeden Abend an das Gespräch mit Yawe und wie sie ihm helfen könnte.

21


An einem Abend erfuhr Tia, dass Yawe bald Geburtstag hatte und es ein grosses Fest geben würde. Plötzlich kam ihr eine geniale Idee. Sie war richtig aufgeregt, aber sicher, dass das der richtige Weg sein würde. Als sie Nora einweihte, klatschte diese in die Hände und war genauso begeistert wie Tia. Noch am gleichen Tag weihten sie Yawe in den Plan ein. Anders als erwartet, war er nicht so überzeugt davon wie die Mädchen.

«Das geht nicht», wiedersprach er, «ihr kennt die ungeschriebenen Regeln». Er liess die Schultern hängen. «Yawe», sagte Tia, stellte sich vor ihn und richtete seine Schultern wieder auf, «das ist deine Chance. Weisst du noch, als ich in Balei angekommen war, hast du mir gesagt, ich kann eine Hose anziehen und tun und lassen, was ich will. Genau das sage ich dir jetzt auch. Du wirst es schaffen, du bist ein Prinz, mutig, grosszügig und wortgewandt. Ausserdem hast du Nora und mich. 22


Wir werden dir helfen. Yawe, du willst das, oder?» «Ja», murmelte er zögerlich. «Dann muss es sein», verkündete Tia. Mit einem mulmigen Gefühl stimmte Yawe dem Plan zu und die Vorbereitungen begannen. Ab diesem Tag gingen die Mädchen täglich zum König, unterhielten sich und machten Spiele mit ihm. Am Anfang war er genervt, aber mit der Zeit fing er an, Gefallen an der neuen Unterhaltung zu finden. Betrunken war er jeden Tag weniger und als er seinen grünen Daumen wiederentdeckte, war er jeden Tag im Garten beschäftigt und so glücklich, dass er gänzlich mit dem Trinken aufhörte. Yawe traf sich gleichzeitig mit den Gelehrten des Landes und besprach sein Vorhaben. Sie waren empört, als sie erfuhren, was die Königin Yawe antat und dass der König nichts dagegen unternahm. Yawe hatte sie schnell überzeugt, ihn zu unterstützen. Zu dritt suchten sie Malea, die beste Schneiderin des Landes, auf und erzählten ihr, was sie vorhatten. Sie war Feuer und Flamme und hatte eine tolle Idee, wie sie die Freunde unterstützen könnte.

23


Am Tag vor Yawes Geburtstag spielten sie mit dem König Boule. Alle lachten, nur Yawe war bedrückt und angespannt. «Yawe», der König tätschelte Yawes Schulter und wollte wissen, «Warum amüsierst du dich nicht mit uns?» - «Es ist nichts», wehrte Yawe ab und tat sich schwer, die Lüge zu verbergen. Der König zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schief. «Du kannst immer zu mir kommen, wenn dich etwas bedrückt, das weisst du. Jetzt, da ich aus dem Nebel der Trunkenheit erwacht bin, möchte ich, dass es allen so gut geht wie mir. Wir sind frei hier und das Leben ist wunderschön.» Yawe schluckte, aber es machte ihm Hoffnung.

Der Tag war angebrochen und die drei Freunde erledigten die letzten Vorkehrungen. Alle waren nervös. Nicht einmal Noras Scherze konnten die Stimmung auflockern. Sie wussten, ihr Vorhaben war riskant. 24


Als Malea das Kostüm für Yawe vorbei brachte, war sie sichtlich berührt und umarmte Yawe. «Ich bin so stolz auf dich», sagte sie strahlend, und drückte ihm ihre Arbeit in die Hand. Das Kostüm, das sie ihm genäht hatte, passte perfekt. Yawe stand vor dem Spiegel in Samthosen und Hemd und begutachtete sein Spiegelbild. Besonders begeistert war er von dem türkisen Schleier an seinem Rücken, der bei jeder Bewegung die kleinen, glitzernden Steinchen funkeln liess. Tia und Nora waren entzückt, wie gut Yawe aussah und bedankten sich bei Malea. Bevor sie ging, zeigte Malea Yawe noch die Schleife, die er im richtigen Moment ziehen musste. Beinahe hätten die Mädchen die Zeit vergessen und rasch zogen auch sie sich ihre neuen Kleider an. Tia freute sich über ihre neue Hose und Nora schaute sich bewundernd im Spiegel an. Malea hatte ihr ein Kleid genäht, das wunderschön mit ihren blonden Haaren harmonierte. Der Ball hatte begonnen. Tia und Nora trafen sich, um Yawe in seinem Zimmer abzuholen. Yawe stand schon vor seiner Zimmertüre und winkte den zwei heraneilenden Mädchen aufgeregt zu. «Ich hoffe, es funktioniert alles», sagte er. «Das wird es», versicherten sie ihm. Vor den Türen des grossen Ballsaals zupfte Tia noch die letzten Details an Yawes Kostüm gerade und nickte ihm zu. «Wir sind an deiner Seite», flüsterte sie ihm zu, als die Türen aufgingen. Yawe trat stolz ein, links und rechts Tia und Nora. Erhobenen Hauptes gingen sie durch die Menge der Gäste, die auf die Seite gewichen war. Alle waren erfreut und winkten ihnen zu. Am anderen Ende des Saals sassen der König und die Königin auf ihrem Thron und erwarteten die Drei.

25


26


27


Doch dann blieb Yawe in der Mitte des Saales stehen. Die Ballbesucher wurden unruhig, denn niemand wusste, was vor sich ging. Der König stand auf und bedeutete ihnen, näher zu kommen. Yawe schüttelte den Kopf, er schaute zu Tia, dann zu Nora und beide nickten ihm nochmals zu. Er holte tief Luft und begann zu sprechen: «Mein lieber Vater, liebes Volk; Wir sind hier in Balei, dem schönsten Land der Welt. Was uns ausmacht, ist die Liebe zueinander. Alles in diesem Land beruht auf dem guten Willen der Mitmenschen. Wir sind füreinander da, helfen einander und das funktioniert in keinem anderen Land so gut wie hier. Alle dürfen sein, wie sie wollen, und alle dürfen tun, was sie wollen.» «So ist es», sprach der König und es ging ein Hurra durch den Ballsaal. «Doch», redete Yawe weiter und alle verstummten wieder, «doch für mich, gelten Bestimmungen, unter denen ich schrecklich leide. Diese ungeschriebenen Regeln hat mir die Königin auferlegt. Sie erschweren mir mein Leben und lassen meine Lebensfreude verblassen. Mir ist verboten worden, mich selbst zu sein und genau dafür steht doch unser Land. Ich möchte kein Prinz sein, ich fühle mich nicht wohl als Prinz. Ich bin eine Prinzessin und will auch endlich so leben dürfen. Ich liebe es, Kleider zu tragen, mit schmucken Halsketten meinen Hals zu verzieren und in Samtschuhen mit Absätzen durch die Gänge zu tanzen. Aber schon mein halbes Leben lang, wird mir vorgeschrieben, dass ich so nicht sein darf, dass ich nicht sein darf, wie ich bin. Das muss nun ein Ende haben.»

28


«Das geht nicht, du wirst nie eine Prinzessin sein», schrie die Königin erbost und sprang von ihrem Stuhl. Sie zeigte mit ihrem Zeigefinger auf die drei Freunde und sagte: «Yawe, was glaubst du eigentlich, dass du tun und lassen kannst, was du willst? Ich und dein Vater haben immer noch das sagen über dich. Schäme dich, uns so zu entehren und mich derart blosszustellen.» Rufe der Bestürzung gingen durch den Saal und auch der König sah seine Frau mit erstaunten und schockierten Augen an. «Ich habe mich mit den Gelehrten des Landes getroffen und ihnen meine Lage geschildert, ihre Unterstützung habe ich», erwiderte Yawe mit bebender Stimme. «Es ist schwer gegen den Befehl der Eltern und dann noch gegen königliche Eltern zu handeln, das ist mir bewusst, und doch ist es mir mein grösstes Anliegen, endlich ich selbst sein zu können. Und wenn ihr nicht damit leben könnt, dass ich von einem Prinzen zu einer Prinzessin werde, dann», Yawe holte noch einmal Luft, «dann bin ich eben Prinzin Yawe.»

29


Mit diesen Worten löste Yawe die kleine Schleife an seiner Hose und wallende Stoffbahnen erschienen aus seinem Schleier. Was zuerst wie Hemd und Hose ausgesehen hatte, wurde jetzt zur Hälfte zum Kleid. Die Kleidungsstücke ergänzten sich grossartig. Ein tiefes Raunen ging durch den Saal und es rührte sich keine Menschenseele, bis sich der König räusperte. Alle Blicke richteten sich auf ihn.

«Yawe, ich liebe dich», begann er, «und es tut mir unendlich weh, dass ich all die Jahre dein Leiden verdrängt habe.» Langsam schritt er in die Saalmitte. «Es macht mich richtig traurig, musste es soweit kommen, dass du das Gefühl hattest, auch ich will dir dein Leben erschweren und dich unterdrücken in einem Land, wo genau das nicht sein sollte.» Nun stand er vor Yawe. «Deshalb verkünde ich, dass du ab dieser Sekunde alles was du sein willst, sein darfst, und alles was du tun möchtest, tun darfst 30


und niemand wird dich jemals wieder einschränken können.» Mit diesen Worten umarmte er Yawe. «Prinzin Yawe!», fing der ganze Saal an zu jubeln. «Nun», fragte der König noch, «was ist mit Tia und dir? Wollt ihr nicht heiraten?» «Nein, Vater», erwiderte Yawe lächelnd, «Tia ist mir eine wundervolle Freundin geworden, aber heiraten wollen wir beide nicht.» - «Dann soll es so sein», verkündete der König. Die Musik fing an zu spielen und es bildeten sich Paare zu einem fröhlichen Tanz. «Ohne euch hätte ich das nie geschafft», Yawe drehte sich zu Tia und Nora um und sie umarmten sich. Verlegen wischte Tia sich ein paar Tränen aus den Augen und stimmte ein befreites Lachen an, in das die anderen einfielen. So standen sie noch lange in der Mitte des Saales. Als Yawe dann von anderen Freundinnen und Freunden beglückwünscht wurde, wandte sich Tia mit einem schüchternen Lächeln an Nora. «Möchtest du mit mir tanzen?», grinste sie. Nora nickte, beugte sich zu Tia und gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sich die beiden an den Händen nahmen und anfingen zu tanzen.

Ende 31


Nachwort Die Königin verliess noch am gleichen Tag das Land, was jedoch niemanden interessierte. Nora und Tia wurden ein Liebespaar und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute. Malea und Yawe gründeten das Modehaus «Prinzin» und der Hosenrock wurde zum Trend der nächsten Jahrzehnte.

32


© 2020 HÄSELI & NÄGELI AG. KATHRIN HÄSELI LILIAN CHEYENNE NÄGELI DIE UNGESCHRIEBENEN REGELN ALL RIGHTS RESERVED. NO PART OF THIS PUBLICATION MAY BE REPRODUCED, STORED IN A RETRIEVAL SYSTEM OR TRANSMITED IN ANY FORM OR BY ANY MEANS, ELECTRONIC, MECHANICAL, PHOTOCOPYING, RECORDING OR OTHERWISE WITHOUT THE PRIOR PERMISION OF THE PUBLISHER OR IN ACCORDANCE WITH THE PROVISIONS OF THE COPYRIGHT, DESIGNS AND PATENTS ACT 1988 OR UNDER THE TERMS OF ANY LICENCE PERMITTING LIMITED COPYING ISSUED BY THE COPYRIGHT LICENSING ANGENCY. WRITTEN BY: LILIAN CHEYENNE NÄGELI, CO-WRITER KATHRIN HÄSELI ILLUSTRATED BY: KATHRIN HÄSELI, CO-ILLUSTRATOR LILIAN CHEYENNE NÄGELI





Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.