Soziale Medizin 4/09

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Die Zeitschrift im Gesundheits- und Sozialwesen. Kompetent und kritisch. Seit 1974.

Übergriffe in Pflegesituationen Was ist «eHealth»? Neue Pflegefinanzierung Schranken für die Sterbehilfe? Gesundheitskompetenz: Informiert handeln Abstimmung Humanforschung vom 7. März Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» Abschaffung der Kinderprämien!

Soziale Medizin, Nr. 4.09, Dezember 2009, 36. Jahrgang, vierteljährlich im Abo Fr. 79.– | www.sozialemedizin.ch

4.09 / soziale medizin

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Bild: Dani Winter

sgsg tagung • gesundheit hat ihren preis

Referent Hartmut Reiners (links) und Gesprächsleiter Daniel Gelzer. In den nächsten Ausgaben werden wir inhaltlich auf die Tagung eingehen.

Impressum

Koordinator Redaktion: Ruedi Spöndlin, Bachlettenstr. 72, 4054 Basel Tel. 061/281 02 56 ruedi.spoendlin@sozialemedizin.ch

www.sozialemedizin.ch Soziale Medizin, Postfach, 4007 Basel Tel./Fax: 061 691 13 32 E-Mail: info@sozialemedizin.ch Geschäftsleitung / Heftproduktion: Stefan Witschi

Redaktion: Riccardo Bonfranchi (Dr. phil., Heilpädagoge), Käti Ensner (Kinder- und Jugendpsychologin FSP), Daniel Gelzer (Dr. med., Hausarzt), Ruth Mascarin (Dr. med., Allgemeinmedizin FMH, Hausärztin), Alex Schwank (Dr. med., Innere Medizin FMH, Hausarzt),

Günter Spaar (lic.phil.), Ruedi Spöndlin (lic.iur./ Journalist BR), Ruth Waldvogel (Dr. sc. nat. ETH et lic. phil.I, Psychotherapeutin), Thomas Wahlster (Diplom-Sozialpädagoge), Fritz Witschi (Dipl. Architekt HTL), Erika Ziltener (Pflegefachfrau und Historikerin) Herausgeberin: Schweizeizerische Gesellschaft für ein Soziales Gesundheitswesen (SGSG) Konzept & Gestaltung: satzladen, 4007 basel Druck: Ropress Zürich Auflage: 1‘800, Vierteljährlich Inserate: www.sozialemedizin.ch Abonnemente: Normal 79.– ; Reduziert 49.– Unterstützungsabo 150.–; Einzelnummer 21.–

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Datum medizin / Unterschrift: soziale / 4.09 .................................................................................... Bitte einsenden an: Soziale Medizin, 4007 Basel

Herausgeberbeirat: Rudolf Balmer (Dr. med., FMH Psychiatrie/Psychotherapie, Basel) Charlotte Braun-Fahrländer (Prof. Dr. med., Epidemiologin, Basel) Franco Cavalli (Prof. Dr. med., Bellinzona) Theodor Cahn (Dr. med., Basel) Remo Gysin (Dr. rer. pol., Basel) Patrick Haemmerle (Dr. med., Chefarzt service pédo-psychiatrie, Fribourg) Pia Hollenstein (Berufsschullehrerin im Gesundheitswesen, St. Gallen) Carlo Knöpfel (Dr. rer.pol. Caritas Schweiz) Iris Ludwig (Pflegeberaterin MA, Erziehungswissenschafterin) Ueli Mäder (Professor für Soziologie, Basel) Emilio del Pozo (Prof. Dr. med., Bern) Andreas Saurer (Dr. med., FMH Médecine interne, Genève) Rita Schiavi (lic.phil. Soziologin, Vizepräsidentin Gewerkschaft Unia) Lenka Svejda-Hirsch (lic. phil., MAS, Sozialwissenschafterin, Ethnologin, Basel)


inhalt • soziale medizin 4.09

Gestaltung: Stefan Witschi Foto: bethykae | Flickr

Messies 17 Wenn die Sammelleidenschaft Leiden schafft Rosmarie Hauser

19 Psychosoziale Probleme auf dem

Magazin & Rubriken

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Übergriffe in Pflegesituationen

Kurznachrichten Volksinitiative ‚Ja zur Hausarztmedizin’ Daniel Gelzer

Wohnungsmarkt Ruedi Spöndlin

25 Bei uns muss man ein gewisses Chaos

ertragen können Gesprächsrunde mit Regine Dubler, Hansrudolf Schaller und Ruth Mascarin (Ruedi Spöndlin)

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Kolumne: Frieden schaffen! Dani Winter

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Brauchen wir Prävention? Gian Bischoff, VUA

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IV-Abstimmung vom 27. September: Befriedigung, aber keine Euphorie Daniel Gelzer

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Kundgebung gegen Zürcher Lohnteilrevision AGGP

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53 Wie viel (elektronische) Offenheit darf es sein?

Abschaffung der Kinderprämien! Ruedi Spöndlin

10 Med in Switzerland: Gesundheitsmigration Thomas Schwarz

12 ‚Kafi Klick’ in Zürich eröffnet

„eHealth“ 46 Versichertenkarte, elektronisches

Lenka Svejda-Hirsch

Gesundheitskompetenz 54 (Sich) informieren, kommunizieren,

IG Sozialhilfe

14 Infos aus der Genwelt

Basler Appell gegen Gentechnologie

16 Gesetzliche Schranken für die Sterbehilfe Ruedi Spöndlin

66 Rezensionen und Veranstaltungen 67 Inserate 68 Forschung mit Kindern Ruedi Spöndlin

entscheiden und handeln Therese Stutz

Migration 61 Prävention und Gesundheitsförderung stärken –

21 Neuordnung der Pflegefinanzierung Thomas Wahlster

Patientendossier und medizinische Onlinedienste Gespräch mit Adrian Schmid (Ruedi Spöndlin)

gemeinsam mit der Migrationsbevölkerung Andy Biedermann, Thomas Pfluger, Corina Salis Gross

64 Gesundheitskompetenz im Migrationskontext Corinna Bisegger

SGSP Info 27 Info der Schweizerischen Gesellschaft für

Sozialpsychiatrie (SGSP)

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magazin • kurznachrichten

Organspende

Rückkehr zur Widerspruchsregel? Einen Wechsel von der heutigen Zustimmungsregel zur Widerspruchslösung bei der Entnahme von Spenderorganen fordert die nationale Organzuteilungsstelle ‚Swisstransplant’ in einer Medienmitteilung vom 12. September. Dies nur knapp zwei Jahre nachdem mit dem neuen eidgenössischen Transplantationsgesetz die erweiterte Zustimmungsregel eingeführt worden ist. Diese besagt, dass ein Organ einem toten Menschen nur entnommen werden darf, wenn dieser selbst oder seine Angehörigen ausdrücklich zugestimmt haben. Die früheren kantonalen Gesetze über die Organentnahme enthielten hingegen meistens die Widerspruchsregel, laut der ein Organ entnommen werden durfte, wenn der Spender oder seine Angehörigen nicht ausdrücklich dagegen protestiert hatten. Mit dem Übergang zur Widerspruchsregel hofft ‚Swisstransplant’ die relativ geringe Spendebereitschaft zu fördern. Laut einem Kommentar auf der Website der Sozialen Medizin lässt sich diese aber nur durch den Aufbau von Vertrauen steigern, was für die Beibehaltung der Zustimmungsregel spricht. Vollständiger Kommentar www.sozialemedizin.ch/?p=666.

Krankenversicherung

Schweizer System als Exportartikel Präsident Obama will nach einem ähnlichen System wie in der Schweiz eine Krankenversicherung für die gesamte Bevölkerung der USA schaffen. Und die neue schwarz-gelbe Regierung Deutschlands will ebenfalls zu Kopfprämien und individuellen Prämienzuschüssen wie in der Schweiz übergehen. Hierzulande stösst das schweizerische System

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aber auf Kritik. Innerhalb der Sozialdemokratie wird wieder über eine Einheitskrankenkasse diskutiert. Und auch das populistische ‚Mouvement citoyens genèvois’, welches mit seinen fremdenfeindlichen Parolen bei den Genfer Wahlen im Oktober einen grossen Erfolg feiern konnte, will offenbar Ende Jahr eine Volksinitiative für eine Einheitskrankenkasse lancieren. Im Gegensatz zur Einheitskasseninitiative von 2007 wird die Forderung nach einer Einheitskasse jetzt von niemandem mit derjenigen nach einkommensabhängigen Prämien verknüpft. Eine Auslegeordnung der Vor- und Nachteile des heutigen Krankenversicherungssystems findet sich unter: www.sozialemedizin.ch/?p=888

HIV/AIDS

Sexualkontakte entkriminalisieren! Die schweizerische Strafjustiz fährt im internationalen Vergleich einen harten Kurs gegenüber Menschen mit HIV/ Aids, die ungeschützte sexuelle Kontakte pflegen. Kurt Pärli und Peter Mösch haben eine Studie dazu vorgelegt und fordern eine Entkriminalisierung ungeschützter Sexualkontakte von Menschen mit HIV/Aids. Mit einer Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung und Verbreitung gefährlicher Krankheiten müssten Menschen mit HIV/Aids in der Schweiz rechnen, wenn sie ungeschützte Sexualkontakte pflegen. Ob der Sexualpartner oder die -partnerin damit einverstanden sind, spiele keine Rolle. Dies obwohl die schweizerische Rechtslehre normalerweise davon ausgehe, dass eine strafbare Körperverletzung nur vorliegt, wenn die verletzte Person nicht damit einverstanden war. Auch das Strafmass für ungeschützten Sex mit HIV/Aids ist gemäss der Studie von Pärli und Mösch in der Schweiz relativ hoch, in der Regel mit einer Freiheitsstrafen von 2 – 4 Jahren. Die Soziale Medizin hat die Absicht, in einer

ihren nächsten Ausgaben genauer auf das Thema einzugehen. Mehr dazu http://www.sozialemedizin.ch/?p=734.

Urs Schwaller

Forderung nach Leistungskatalog Der Ständerat hat im September einen Vorstoss von Urs Schwaller (CVP) überwiesen, der die Einführung eines Leistungskatalogs der Krankenversicherung fordert. Ob sich der Nationalrat diesem Entscheid anschliessen wird, war noch offen, als diese Ausgabe der Sozialen Medizin in Druck ging. Mit seiner Motion verlangt Schwaller, die Grundversicherung solle nur noch für ausdrücklich auf einer Positivliste aufgezählte Leistungen aufkommen. Dies um die so genannte Mengenausweitung einzudämmen. Die Liste solle alle zwei Jahre überprüft werden. Der Bundesrat sprach sich dagegen aus, weil ein Positivkatalog einen unverhältnismässigen administrativen Aufwand zur Folge hätte. Ein Kommentar auf der Website der Sozialen Medizin lehnt den Positivkatalog ebenfalls ab, weil er gewisse PatientInnen vom medizinischen Fortschritt ausschliessen würde. Zudem wäre er innovationsfeindlich und würde einer schematischen „Kochbuchmedizin“ Vorschub leisten. Heute gibt es keinen Leistungskatalog der Krankenversicherung. Die Artikel 24-40 des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) halten fest, Behandlungen durch Ärztinnen, Ärzte, Spitäler und Angehörige gewisser anderer Gesundheitsberufe seien grundsätzlich von der Grundversicherung zu bezahlen, sofern sie zweckmässig, wissenschaftlich und wirtschaftlich sind. Das Departement des Innern (EDI) kann die Voraussetzungen zur Kostenübernahme in umstrittenen Fällen genauer umschreiben. Ein Spezialfall sind Analysen und Arzneimittel, welche die Grundversicherung nur bezahlt, wenn sie sich auf einer vom EDI erstellten Liste befinden. Ausführlicher Kommentar unter: www.sozialemedizin.ch/?p=687


standpunkt • daniel gelzer, basel

Ein ehrgeiziges Ziel

Lancierung der Volksinitiative ‚Ja zur Hausarztmedizin’

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m 1. Oktober hat die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM) die Volksinitiative ‚JA zur Hausarztmedizin’ lanciert. Diese hat zum Ziel, die hausärztliche Versorgung schweizweit sicherzustellen und die dazu notwendigen Voraussetzungen (attraktives Arbeitsumfeld, Ausbildung und Forschung) zu schaffen.

Mehr Selbstbewusstsein der HausärztInnen Die SGAM hat in den letzten fünf Jahren einiges erreicht, aber auch Niederlagen einstecken müssen: Der auf dem Land bereits spürbare Mangel an HausärztInnen und der fehlende Nachwuchs wurde von einem Insiderthema zum Allgemeinplatz. Ebenso die Arbeitsbedingungen (Notfalldienst und Entlöhnung). Der 1. April 2009 bleibt mit der Ärztedemonstration auf dem Bundesplatz und der Übergabe einer Petition mit über 200’000 Unterschriften als Hausärztetag in Erinnerung. Das Selbstbewusstsein der HausärztInnen nahm zu, das Auftreten des Verbands professionalisierte sich. Dass der internationale Hausärztekongress (Wonca Basel 2009) im September in der Schweiz stattfand und sehr erfolgreich war, bestätigt diese Entwicklung. Der eben beschlossene Zusammenschluss der

Dr. med. Daniel Gelzer ist Hausarzt in Basel und Mitglied der Redaktionsgruppe der Zeitschrift Soziale Medizin.

GrundversorgerInnen (Allgemeinmediziner, Allgemeininternisten und Kinderärzte) zum Verband Hausärzte Schweiz (HACH) wird die Position der HausärztInnen weiter stärken. Auf der anderen Seite steht der verlorene Kampf gegen die Senkung der Labortarife. Dies kann nur als Zeichen verstanden werden, dass die für die gesundheitspolitischen Weichestellungen Verantwortlichen die Dringlichkeit der Situation noch nicht erfasst haben. Vor diesem Hintergrund entschied sich die SGAM, das Mittel der Volksinitiative zu benutzen. Das Ziel ist ehrgeizig: Bis zum 1. April 2010 sollen die 100’000 erforderlichen Unterschriften gesammelt sein. Dies dürfte auch gelingen, handelt es sich doch um ein populäres Anliegen und viele ÄrztInnen werden auch bei ihren PatientInnen sammeln.

durchaus vorhanden. Doch darf man nicht erwarten, dass dann alles einfach läuft, wie die SGAM sich das wünscht oder erhofft. Obwohl die Alpeninitiative 1994 angenommen wurde, warten wir heute noch auf eine befriedigende Verlagerung des alpenquerenden Verkehrs weg von der Strasse. Natürlich setzt eine gewonnene Initiative Druck auf, doch dass nach einer Annahme der Grossteil der StaatsexamensabsolventInnen HausärztInnen werden wollen, ist kaum zu erwarten. Dazu braucht es weiteren Druck. Daher wünschen wir der SGAM für die erste Etappe bis zum 1.April viel Kraft und Erfolg!

Abstimmungskampagne ist kein Sonntagsspaziergang Dass eine gut funktionierende Grundversorgung mit gut ausgebildeten ÄrztInnen Voraussetzung für ein kostengünstiges Gesundheitswesen ist, zeigen die Länder, wo diese vorhanden ist (Holland oder Schweden) oder eben nicht (USA). Dank der Initiative wird das Thema Hausärztemangel in nächster Zeit in der öffentlichen Diskussion präsent bleiben. Doch eine Initiative lancieren ist das Eine, einen Abstimmungskampf führen das weit Aufreibendere. Eine Volksinitiative durchzuziehen ist kein Sonntagsspaziergang und bindet viele Kräfte. Die Chancen einer Annahme der Initiative sind

Neue Website Unsere Website wurde vor einigen Wochen gehackt und wir mussten sie für kurze Zeit abschalten. Aus der Not haben wir eine Tugend gemacht und den Webauftritt neu gestaltet. Das Resultat können Sie auf www.sozialemedizin.ch begutachten. Wir setzen alles daran, alle Beiträge bald wieder aufzuschalten. In der Zwischenzeit können Sie sich z. B. mit eine Abonnement über die Zeit retten... Bestellung: info@sozialemedizin.ch Tel. 061 691 13 32

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magazin • kolumne

Brauchen wir Prävention? Oder: Wenn ein FDP-Bundesrat plötzlich zu links wird Am 30. September hat der Bundesrat seinen Entwurf für ein Bundesgesetz für Prävention und Gesundheitsförderung (Präventionsgesetz) verabschiedet. Die Kritik liess nicht auf sich warten. Der abtretende BR Pascal Couchepin hinterlasse damit seinem Nachfolger ein heikles Erbe, die Wirtschaft ärgere sich, die Bürgerlichen würden gar ein Referendum erwägen, so war zu lesen. Der (neoliberal aufgefrischte) Tages-Anzeiger überschrieb seinen Kommentar mit: Zuviel Prävention schadet . Grundtenor: Der Spass am Leben wird uns vergällt durch Gesundheitsfanatiker, welche uns belehren wollen, auf was wir alles verzichten müssten, damit wir gesund bleiben. Der Kommentar ist ein Hohn auf all diejenigen, welche unter wirklichen krankmachenden Risikofaktoren auch in unserem Land leiden. Und die sind nicht das falsche Joghurt, die fehlende Salbe oder ein kleines Alltagslaster. Krank machen in erster Linie Armut, Arbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven und psychosozialer Stress. Eine Prävention, welche wirklich etwas bewegen will, muss hier ansetzen. Und wer wird bezweifeln, dass hier tatsächlich Handlungsbedarf besteht? Natürlich darf Prävention nicht Feigenblatt sein (und schon gar nicht Mittel zur Repression!). Ein paar schöne Plakate, welche uns darauf aufmerksam machen, dass wir uns mit einer Krankheit anstecken könnten, reichen in keiner Weise. Auch Ausgrenzung von falschem Verhalten im Sinne einer in diesen Zusammenhängen gerne beschworenen Selbstverantwortung ist sicherlich nicht der richtige Weg. Sie verändert Verhalten nicht nachhaltig, sondern bürdet den Leidtragenden nur zusätzlichen Druck durch (finanzielle, soziale) Bestrafung auf. Denn jedes Risikoverhalten – es ist eine Binsenwahrheit – weist im Hintergrund tiefere Ursprünge auf. Diese gilt es zu verstehen und anzugehen und dafür lohnt es sich alleweil, Geld auszugeben. Die Frage lautet, wie diejenigen Menschen, welche auch in unserer Gesellschaft unter die Räder geraten,

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kolumne

Frieden schaffen

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atürlich wäre eine Welt ohne Waffen viel friedlicher. Sie wäre nicht zwingend gerechter, denn der Stärkere könnte dem wehrlosen Schwächeren ja alles wegnehmen. Aber es gäbe weniger gewalttätige Auseinandersetzungen. Waffen töten und verstümmeln. Ohne Waffen keine Kriege. So einfach ist das. Für die Pazifisten. Nachdem sie mit der Abschaffung der Armee nicht durchgekommen sind, wollen sie jetzt eben den Kriegsmaterialexport verbieten. Wenn es so einfach wäre. Ist es natürlich nicht. Denn: Waffen bedeuten nicht nur Tod und Elend. Sondern auch Arbeit und Lohn. Wenn die Schweiz keine Waffen exportieren könnte, würden rund 5000 Arbeitsplätze verloren gehen. Sagen die betroffenen Rüstungsfirmen Ruag, Pilatus, Mowag und Rheinmetall Air Defense. Deshalb können sich auch die Gewerkschaften nicht einig hinter die «Initiative gegen Kriegsmaterial-Exporte» stellen, über die wir am 29. November abstimmen. Zu Ende gedacht würde die Abschaffung der Kriege weltweit riesige Heere von Arbeitslosen schaffen. Und wen würde es treffen? Die Ärmsten, wie immer. Die Berufsarmee der USA ist Arbeitgeberin insbesondere von jungen Männern und Frauen aus der Unterschicht. Viele Latino-Familien dürfen nur deshalb in den USA leben, weil sie ein Kind für die Armee abgestellt haben. Und auch wenn es zynisch klingt: All die Kriegsopfer, die bei einem anhaltenden Weltfrieden

aus sozialen Netzen fallen oder gar nicht erst integriert werden können, unterstützt und in ihrem Gesundheitsverhalten beeinflusst werden können. Dazu braucht es Forschung, praktische Ansätze, neue Ideen, Schulung, Weiterbildung, finanzielle Anreize und vieles andere mehr. Und immer wieder den Willen über den eigenen Tellerrand hinauszusehen und die Probleme anderer Menschen

nicht sterben würden, bräuchten ebenfalls einen Job. Aber die Abschaffung der Armeen und Kriege ist ja sowieso eine Utopie. Der Mensch ist gezwungen, Böses zu tun. Es ist unser Karma. Die Erbsünde. Wir sind zu schlecht für den Frieden. Darum hat sich ja auch der Kapitalismus durchgesetzt. Selbst wenn sich die Schweiz komplett entmilitarisieren würde, gäbe es immer noch Heere und Kriege. Wenn ein Land angegriffen wird, hat es das Recht sich mit Waffengewalt zu verteidigen. Sagt Bundesrätin Leuthard. Aber womit? Pakistan zum Beispiel, der wichtigste Abnehmer von Schweizer Rüstungsgütern im Jahr 2008. Wie soll die Regierung den Krieg gegen die Taliban gewinnen? Oder soll sie die Atomraketen einfach den Fundamentalisten überlassen? Ja, die Schweiz hat eben nicht nur Dunants und Pestalozzis hervorgebracht, sondern auch die Tinners. Ohne die Pakistan heute vielleicht keine Atombombe hätte. Es hat sie aber. Die Tinners, die nach Pakistan auch den Libyern zur Bombe verhelfen wollten, werden ihre Geschäfte mit ähnlichen Argumenten rechtfertigen wie ihr Mutterland. «Wir brauchten das Geld. Und wenn wir es nicht getan hätten, hätte es ein anderer gemacht.» Ein Argument, das bei Gangstern seit jeher grosse Beliebtheit geniesst, seien es Nazi-Schergen oder Heroin-Dealer. Dani Winter

wahrzunehmen, welchen wir tagtäglich auf der Strasse begegnen. Dies sei auch dem Autor des besagten Kommentares gewünscht. Gian Bischoff

VUA, Vereinigung unabhängiger Ärztinnen und Ärzte, PF 2309, 8031 Zürich www.vua.ch / sekretariat@vua.ch


fhabulous | flickr

magazin • iv-finanzierung

die unser Arbeitsmarkt keine Verwendung mehr hat, ist hingegen zurzeit kein Thema. Die 6. IV-Revision zielt darauf ab, laufende IV-Renten wieder aufzuheben. Der Bundesrat hat die Absicht, rund 16‘000 Menschen ihre Rente zu entziehen, Diese sollen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden (vgl. Soziale Medizin 3.09 S. 20). Das tönt gut, ist aber komplett unrealistisch.

Keine Illusionen betreffend Wiedereingliederung

IV-Abstimmung vom 27.September:

Befriedigung, aber keine Euphorie

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och einmal gut ausgegangen ist die eidgenössische Volksabstimmung über die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung. Die Abstimmungskampagne hinterlässt jedoch einen schalen Nachgeschmack und die meisten Kommentare interpretieren das Ergebnis als Aufforderung für harte Sanierungsschritte. Eine Mehrheit von 54.5 Prozent der Stimmenden hat die zusätzliche Finanzierung der Invalidenversicherung (IV) durch eine befristete Mehrwertsteuererhöhung am 27. September gutgeheissen. Die meisten Kommentare betonten jedoch, der Abstimmungsausgang sei knapp (bei anderen Abstimmungsresultaten betonte das allerdings kaum jemand, obwohl diese genau so knapp oder sogar noch knapper waren). Ebenfalls nicht ganz glücklich verlief der Abstimmungskampf. Dieser wurde leider dominiert von den Themen ‚Sparen bei der IV und den Sozialleistungen’ und ‚Missbrauch’, u.a. mit diffamierenden Inseraten. Wahrnehmbar in der Kampagne waren vor allem die BefürworterInnen aus dem Kreise der Be-

hindertenorganisationen, die u.a. mit mitleiderregenden Plakaten präsent waren.

IV weniger verankert als angenommen Eine politische Kampagne, welche die Notwendigkeit einer gut funktionierenden Sozialversicherung für eine moderne Gesellschaft in den Vordergrund stellte und für einen sorgfältigen und sparsamen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln eintrat (wofür wir uns ja alle mit grosser Selbstverständlichkeit einsetzen, womit wir uns auch gegen Missbräuche wenden), fehlte fast vollkommen! Diese passive Haltung vieler Mitte-Links-Kreise zeigt, dass die IV doch weit weniger verankert ist, als angenommen und notwendig. Das knappe Resultat wurde in den meisten Kommentaren als dringender Auftrag zur weiteren Sanierung der IV aufgefasst, insbesondere zur raschen Realisierung der 6. IV-Revision. Was mit den vielen Menschen geschehen soll, für

Man stelle sich vor: Eine 55-jährige Frau hat seit zehn Jahren eine IV-Rente bezogen. Nun kommen die zuständigen IV-Organe zum Schluss, ihr Gesundheitszustand lasse eine Erwerbstätigkeit durchaus zu und sprechen ihr den Rentenanspruch ab. Also muss die Frau eine Stelle suchen. Es wird jedoch keinen Arbeitgeber geben, welcher sie anstellt. Denn sie ist sich ja überhaupt nicht mehr gewohnt, einen Beruf auszuüben. Also muss sie sich über kurz oder lang bei der Sozialhilfe anmelden. Die Aberkennung laufender IV-Renten wird so auf eine weitere Kostenverschiebung von der IV zur Sozialhilfe hinauslaufen. Die finanziellen Lasten fallen damit vermehrt bei den Gemeinden an. Die grossen Städte und Agglomerationsgemeinden mit „Banlieue“-Charakter werden dadurch stärker belastet, bevorzugte Wohngemeinden mit eher wohlhabender Einwohnerschaft hingegen entlastet. Dieses Hin- und Herschieben von nicht Erwerbstätigen im Dreieck zwischen Arbeitslosenversicherung, IV und Sozialhilfe findet seit langem statt. Die 6. IV-Revision wird es verschärfen. Wohlverstanden: Der Grundsatz ‚Eingliederung vor Rente’ ist richtig. Die IV-Organe können und sollen ihre Eingliederungsbemühungen noch verbessern. Allzu hohe Erwartungen an die Integration sind aber unrealistisch. Das Hauptproblem der IV und aller anderer Erwerbsausfallversicherungen ist auch nicht der Missbrauch, sondern die Tatsache, dass nicht voll leistungsfähige Menschen auf unserem Arbeitsmarkt immer weniger gefragt sind. Dies muss in der anlaufenden Debatte über die 6. IV-Revision zum Thema werden. Daniel Gelzer 4.09 / soziale medizin

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Bild: aggp.ch

magazin • lohnpolitik

Wo bleibt die Wertschätzung? AGGP-Kundgebung gegen die Lohnteilrevision in Zürich Am 15. September hat die ‚Aktion Gsundi Gsundheitspolitik’ (AGGP) mit einer Kundgebung gegen die Geringschätzung der Pflegefachpersonen mit höherer Fachausbildung bei der Lohnrevision im Kanton Zürich protestiert. aggp. „Qualität kostet“, war an der AGGP-Kundgebung vom 15. September 2009 vor der kantonalen Finanzdirektion auf einem Transparent zu lesen. Entgegen der Vorstellung der Finanzdirektion, welche die Lohnkosten der Gesundheitsangestellten – ein typischer Frauenberuf - möglichst tief halten will. Um zu sparen, werden die beanspruchten interaktiven und geistigen Leistungen der Pflegenden zunehmend abgewertet und gekürzt. Im konkreten Fall

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der protestierenden Gesundheitsangestellten: In der laufenden kantonalen Lohnteilrevision (Teilprojekt 3/TP3) werden die geistigen Anforderungen der Pflegefachfrau HF als „grösstenteils ausführende Tätigkeit“ und „ohne anspruchsvolle Kontakte“ bewertet. Dies zieht in besonderem Masse den neuen Frauenberuf der FaGe sowie eine ganze Reihe weiterer Gesundheitsberufe wie Hebammen FH, Ergo- und PhysiotheraupeutInnen FH in der Lohneinreihung hinunter (siehe dazu auch Artikel in der Sozialen Medizin 2.09).

worden?“, rief die Pflegefachfrau Sch. in die Menge, die laut ihre Empörung erwiderte. Die Pannen und Verantwortungslosigkeiten, die passieren würden, wenn die Pflegefachleute ihren Beruf nur gemäss der behördlichen Bewertung ausüben würden, führte der Pflegefachmann S. den beistimmenden KundgebungsteilnehmerInnen vor Augen. Und die Pflegefachfrau und Lohnexpertin Isabel Tuor betonte, dass die Regierung sich fahrlässig über die Gleichstellung hinwegsetze. So werde beispielsweise eine Pflegefachfrau mit höherer Fachausbildung hinsichtlich der geistigen Anforderungen tiefer bewertet als ein Materialverwalter oder ein Chauffeur m.b.A. Die Komplexität der Pflegesituationen und die Arbeitslast hätten in den letzten Jahren massiv zugenommen, und der Pflegepersonalmangel werde sich in den nächsten Jahren verschärfen. „Wir wollen die Reduktion der Arbeitslast durch genug Stellen und Betten, die korrekte Bewertung unserer Berufe und damit Anerkennung und Lohn-Gleichstellung“

Care-Arbeit nicht rationalisierbar Die Hebamme. A. schlug den Bogen zum Slogan „Qualität kostet“. CareArbeit lasse sich nicht wie die industrielle Güter- und Dienstleistungsproduktion unbeschränkt rationalisieren. Kinder beispielsweise lassen sich nicht immer schneller zur Welt bringen, hingegen Industrieprodukte in immer kürzerer Zeit herstellen. Dies ist der Hauptgrund, weshalb Gesundheitsleistungen im Verhältnis zur industriellen Produktion teurer werden. Finanzdirektorin und Regierungsrätin Ursula Gut, die den Reden der Gesundheitsangestellten zuhörte, nahm als Geschenk die detailliert beschriebenen Tagesabläufe einer Pflegefachfrau und einer Hebamme dankend entgegen. Sie versprach, die Tagesabläufe und das Gehörte genau zu studieren und zu überdenken und in die TP3-Entscheidfindung einzubeziehen.

Tiefer bewertet als ein Materialverwalter „Wo ist die Wertschätzung der Pflegefachfrau? Wann ist sie wegrationalisiert

Informationen zur AGGP finden Sie auf: www. aggp.ch


alejandro morales | flickr

magazin • krankenversicherung

rungen realisierbar und mehrheitsfähig sein. Sie wurde auch schon von bürgerlichen Politikern erhoben, etwa vom gescheiterten CVP-Bundesratskandidaten Urs Schwaller. Und jetzt macht sich CVP-Regierungsrat Carlo Conti aus Basel dafür stark. Soziale Reformen sind in der Schweiz immer nur möglich, wenn nebst der Linken auch Teile des bürgerlichen Lagers dafür eintreten. Somit gilt es jetzt, die erforderlichen Allianzen zu schmieden.

Umverteilung von wem zu wem?

Prämienschock

Abschaffung der Kinderprämien! Seit Anfang Oktober sind die Krankenkassenprämien für nächstes Jahr bekannt. Auffallend ist der überproportionale Aufschlag für Kinder und junge Erwachsene, der sozialpolitisch quer in der Landschaft liegt. Die Forderung nach Abschaffung der Kinderprämien ist somit aktueller denn je.

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ie Redaktionsgruppe unserer Zeitschrift ‘Soziale Medizin’ hat seit einigen Jahren immer wieder vorgeschlagen, Kinder und Jugendliche von den Krankenkassenprämien zu befreien. Damit wäre das sozialpolitische Problem der hohen Prämienbelastung weitgehend gelöst. Unerträglich ist diese heute vor allem für Familien mit

Kindern und mittlerem Einkommen. Wer sehr wenig verdient, wird schon heute durch die individuellen Prämienzuschüsse wirkungsvoll entlastet. Und wer keine Kinder hat und zumindest ein mittleres Einkommen erzielt, kann die heutigen Prämien in der Regel ohne grössere Probleme bezahlen. Überschritten wird die Grenze der Belastbarkeit hingegen bei Familien mit Kindern, deren Einkommen zu hoch ist, um Prämienzuschüsse beanspruchen zu können.

Mehrheitsfähig und einfach realisierbar Im Gegensatz zur Forderung nach einkommensabhängigen Prämien dürfte diejenige nach Abschaffung der Kinderprämien ohne allzu starke Systemände-

Noch zu diskutieren ist die Frage, wer die Krankenkassenkosten der Kinder und Jugendlichen übernehmen soll. Das sozialste Modell wäre, die wegfallenden Prämien durch Steuergelder zu ersetzen. Weniger sozial wäre die Variante, diese auf die Gesamtheit der Versicherten zu überwälzen. Dann würden die Kinderlosen die Familien mit Kindern quer subventionieren. Politisch realistisch ist wohl am ehesten ein Mischmodell. Nicht akzeptabel wäre jedenfalls eine Lösung, die zu einer Umverteilung von weniger gut gestellten Singles zu Familien mit Kindern führt. Dies würde auch politische Ressentiments schüren, die zu einer Polarisierung in der Familienpolitik führen.

Kartellabsprachen der Krankenkassen? Dass die Krankenkassen die Rabatte für Kinder und Jugendliche reduzieren, überrascht auf den ersten Blick. Bis jetzt versuchten sie immer, junge Menschen und Familien mit Kindern durch eine attraktive Prämiengestaltung an sich zu binden. Offenbar hat sich das aber nicht ausbezahlt. Das Problem könnten auch hier die Billigkassen sein, zu welchen junge Erwachsene abspringen, sobald sie ihre Prämien selbst bezahlen müssen. Dass fast alle Versicherer die Jugendund Kinderrabatte reduzieren, erweckt den Verdacht einer Absprache. Das überrascht aber nicht wirklich. Mit ihrem Dachverband ’santésuisse’ sind die Krankenkassen untereinander sehr stark vernetzt und treten auch oft gemeinsam gegen aussen auf. Ruedi Spöndlin 4.09 / soziale medizin

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med in switzerland • redaktion medicus mundi

Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Die Rolle der Schweiz in der Migration von Gesundheitsfachkräften

Qualifiziertes Gesundheitspersonal wandert aus ärmeren Ländern in reiche Länder ab. Die Auswanderung mag für die einzelne Fachkraft und ihre Angehörigen zu höherem Verdienst und zu einem besseren Leben führen – und dagegen ist nichts einzuwenden. In ihrem Herkunftsland trägt der Verlust der oft teuer ausgebildeten Fachkraft jedoch oft zur Verschärfung der Gesundheitskrise bei. Die WHO will mit einem „Verhaltenskodex für die internationale Rekrutierung von Gesundheitsfachkräften“ für etwas Ordnung sorgen. Die Schweiz tut sich schwer mit dem Thema.

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enn wenigstens 2.3 gut ausgebildete Gesundheitsfachkräfte pro 1000 Menschen zur Verfügung stehen, können 80 Prozent oder mehr der Bevölkerung mit qualifizierter Geburtshilfe und Impfungen für Kinder erreicht werden. Gemäss WHO erreichen aber 57 Länder diese Quote nicht; ihnen wird deshalb im Weltgesundheitsbericht 2006 ein „akuter Arbeitskräftemangel im Gesundheitswesen“ bescheinigt. Am schlimmsten ist die Lage in Afrika südlich der Sahara, wo der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften die ohnehin schon geschwächten Gesundheitssysteme noch zusätzlich belastet.

Geben und Nehmen – was soll’s? Der Arbeitskräftemangel im Gesundheitswesen ist ein weltweites Phänomen, auch in reichen Ländern. Weltweit werden mehr als vier Millionen zusätz-

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liche ÄrztInnen, Krankenschwestern, Hebammen, Manager und Public Health Worker dringend gebraucht. Anderseits ist die Welt in den letzten Jahren kleiner geworden, auch der Fachkräfte-Personalmarkt ist nun „globalisiert“. Die grenzüberschreitende Anwerbung von Gesundheitsfachkräften ist deshalb eine gängige Praxis geworden. Dies sei auch durchaus in Ordnung so, hielt kürzlich ein Vertreter des Bundesamtes für Gesundheit an einem vom Netzwerk Medicus Mundi Schweiz organisierten „Runden Tisch“ zu diesem Thema fest: Die globalisierte Wirtschaft sei ein Geben und Nehmen zwischen den einzelnen nationalen Märkten und Volkswirtschaften. Und die Schweiz produziere nun einmal mehr Medikamente, als sie verbrauche, Japan dafür mehr Autos und Computer – und andere Länder einen Überschuss an „human resources“. So sei es doch richtig, wenn da fleissig gehandelt und getauscht wird…

Menschen, Volkswirtschaften und Gesundheitssysteme Wenn eine Gesundheitsfachkraft eine Stelle in einem anderen Land findet, macht sie zunächst ganz einfach von ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit Gebrauch. Ihr Einkommen mag dem Wohlstand ihrer Familie und – wenn sie Geld nach Hause schickt – auch dem Volkseinkommen ihres Herkunftslandes förderlich sein. Aus diesem Grund fördern etwa die Philippinen den „Export“ von Arbeitskräften ins Ausland, indem sie ein Emigrationsministerium eingerichtet haben und Ausreisewillige gezielt beraten und betreuen. Einzelne philippinische Fachschulen haben auch lukrative Verträge mit ausländischen

Gesundheitsinstitutionen abgeschlossen, welche die in den Philippinen ausgebildeten Fachkräfte gegen eine grosszügige Ausbildungsentschädigung übernehmen. Im Land selbst herrscht aber weiterhin ein beträchtlicher Mangel an gut qualifiziertem Gesundheitspersonal, sehr zum Leidwesen des nationalen Gesundheitsministeriums. Dass auch andere Länder ein Kohärenzproblem zwischen Gesundheits-, Aussen- und Wirtschaftspolitik haben, ist für uns aber ein kleiner Trost. Wir kommen auf dieses Thema zurück… Die Philippinen gehören nach der WHO-Definition nicht zu den Staaten mit einem akuten Mangel an Gesundheitspersonal, dafür aber viele Länder in Afrika und Südasien. Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass die Abwanderung von Gesundheitsfachkräften in diesen Ländern ganz direkt zur Verschärfung der Gesundheitskrise beiträgt. Und volkswirtschaftlich betrachtet, ist die Sache auch nicht überall so einfach: Die meisten Entwicklungsländer verlieren ja die Erträge auf die Investitionen, die sie in die Ausbildung der Fachkraft gemacht haben, ohne dass sie dafür irgendeine Art von Kompensation erhalten. Viele arme Länder unterstützen heute faktisch reiche Länder, die zu wenig Fachkräfte ausbilden – oder die aufgrund der niedrigen Löhne, gerade im Pflegebereich, auf ihrem Binnenarbeitsmarkt nicht genügend Personal finden.

Ein „schwieriges“ Thema Zahlen zu Migration von Gesundheitspersonal sind allerdings schwer zu finden, da es bislang wenig systematischen Übersichten und Statistiken gibt. Die bereits vorhandenen Studien zur Migration von Gesundheitspersonal haben je verschiedene Parameter und sind daher schwer zu vergleichen. Und zur aktiven Anwerbung von Gesundheitsfachkräften im Ausland halten sich die Staaten und Gesundheitseinrichtungen meist bedeckt. Schweizerische Institutionen rekrutierten aktiv in Bulgarien und auf den Philippinen, doch „Genaues weiss man nicht“… Die Forderung nach besseren Datengrundlagen, mehr Forschung und Informationsaustausch zu Migration und internationaler Rekrutierung von Ge-


Viele Länder in Afrika und Südasien kämpfen mit einem akuten Arbeitskräftemangel im Gesundheitswesen. (WHO)

sundheitsfachkräften wird deshalb inzwischen auch von der Weltgesundheitsorganisation – und der Schweiz – mitgetragen. Der Steuerbedarf geht aber darüber hinaus: Mit zwei Resolutionen der Weltgesundheitsversammlung haben die Mitgliedstaaten der WHO den Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation in den Jahren 2004 und 2005 aufgefordert, in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten und allen massgeblichen Partnern die Federführung bei der Ausarbeitung und Umsetzung eines Verhaltenskodex für die grenzüberschreitende Rekrutierung von Gesundheitsfachkräften zu übernehmen. Ein erster Entwurf des „WHO code of practice on the international recruitment of health personnel“ liegt seit einiger Zeit vor. Optimistische Beobachter waren eigentlich davon ausgegangen, dass der Verhaltenskodex durch die Weltgesundheitsversammlung bereits im Mai 2009 verabschiedet würde. Doch vertagte der Vorstand der Weltgesundheitsorganisation das Traktandum auf das nächste Jahr und setzte zur besseren Vorbereitung eine Reihe nationaler und internationaler Konsultationen an. Inzwischen wurde der Verhaltenskodex auch in den Versammlungen aller regionalen WHO-Komitees diskutiert.

Die Rolle der Schweiz Das Thema der internationalen Rekrutierung von Gesundheitspersonal ist ganz offensichtlich politisch „sensibel“ und Gegenstand eines Interessenkonfliktes und Machtkampfs zwischen Empfänger- und Herkunftsländern der Migration von Gesundheitspersonal. Dies zeigt ein im Mai 2009 von der WHO veröffentlichtes, an die Mitgliedstaaten der WHO gerichtetes Hintergrundpapier. Die in diesem Dokument aufgeworfenen Fragen machen in einer überraschenden Offenheit die politischen Knackpunkte transparent: die Nutzbarmachung der Migration für alle Beteiligten (mutuality of benefits) und die Forderung nach nachhaltigen nationalen Arbeitsmarktpolitiken im Gesundheitsbereich (National health workforce sustainability). Diesen von der WHO aufgeworfenen Fragestellungen nachzugehen lohnt sich offensichtlich auch für die Schweiz. Deshalb haben sich nach Auskunft von BAG und DEZA die mit an der Thematik interessierten Bundesämter in einer interdepartementalen Arbeitsgruppe mit dem Thema Migration von Gesundheitsfachkräften auseinandergesetzt und sind daran, ein Strategiedokument zu entwickeln. Noch sei es aber zu früh für externe Konsultationen…

Nicht zu früh ist es aber für uns, unser Anliegen an die schweizerische Politik noch einmal auf den Punkt zu bringen: Im Bereich der internationalen Rekrutierung von Gesundheitspersonal zeigt sich eine mangelnde Kohärenz von schweizerischer Gesundheitsinnen- und Aussenpolitik. Die nationale Arbeitsmarktpolitik im Gesundheitsbereich (wenn die Summe der kantonalen Arbeitsmarktpolitiken überhaupt so genannt werden kann) akzeptiert den Mangel an einheimischen Fachkräften und ist deshalb auf internationale Rekrutierung von qualifiziertem Personal angelegt. Mit dem durch die Anwerbung von Gesundheitsfachkräften in Nachbarländern angestossenen „Dominoeffekt“ der Migration von ärmsten in ärmere in reiche in reichste Länder untergräbt die Schweiz jedoch ihre eigenen Bemühungen zur Verbesserung der Gesundheitssysteme in den ärmsten Ländern. Damit die Anwerbung der ausländischen Fachkräfte nicht zum blanken Diebstahl wird (wir sind nicht weit davon entfernt), ist die Schweiz gefordert, sich an der Entwicklung und Umsetzung von Massnahmen zu beteiligen, die Ländern mit einem kritischen Mangel an Gesundheitspersonal helfen, genügend qualifiziertes Personal auszubilden – und dieses durch geeignete Anreize und Arbeitsbedingungen im Land zu behalten, damit die Fachkräfte nicht auf der Suche nach „grüneren Weiden“ ins Ausland abwandern müssen. Thomas Schwarz Geschäftsführer des Netzwerks Medicus Mundi International. Das Netzwerk MMI hat sich im September 2009 in einer Stellungnahme an das europäische WHO-Komitee gewandt und sich für einen starken, griffigen Verhaltenskodex zur internationalen Rekrutierung von Gesundheitsfachkräften ausgesprochen. Kontakt und Informationen: schwarz@medicusmundi.org, www.medicusmundi.org Literaturhinweise

Dokumente derWHO zur Migration von Gesundheitsfachkräften: www.who.int/hrh/migration/migration/en/index.html Medicus Mundi International, “Human Resouces for Health”: www.medicusmundi.org/en/topics/human-resources Fallstudie Philippinen: Migration of health workers. Country case study Philippines. Institute of Health Policy and Development Studies, ILO Working Paper 2005 Gesundheitspersonal in der Schweiz - Bestandesaufnahme und Perspektiven bis 2020. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan), Neuchâtel 2009 Kohärenz von Gesundheitsinnen- und Aussenpolitik: Medicus Mundi Schweiz, Symposium „Globale Gesundheit und schweizerische Aussenpolitik“, November 2006, www.medicusmundi.ch/mms/services/events/meeting20061102

4.09 / soziale medizin

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magazin • armut

Die IG Sozialhilfe hat das ‚Kafi Klick’ eröffnet

Das Menschenrecht auf Information Das Kafi Klick ist ein kostenloses Internetcafé, Treffpunkt, Anlaufsund soziale Beratungsstelle für Armutsbetroffene in Zürich, ein neuer Bereich des Vereins IG Sozialhilfe. Das Menschenrecht auf Information soll damit verwirklicht werden.

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m 17. Oktober eröffneten wir von der IG-Sozialhilfe in Zürich das ‚Kafi Klick’. Zur Eröffnung erschienen ungefähr achtzig Leute, Armutsbetroffene, die wir seit Jahren begleiten, SympathisantInnen unserer Arbeit und SpenderInnen. Bereits versuchten sich ältere Armutsbetroffene ohne Computerkenntnisse am Eröffnungstag am Computer, um auszuprobieren.

Anleitung und Unterstützung nötig Das ‚Kafi Klick’ ist ein Beitrag, um das Menschenrecht nach Information für armutsbetroffene und randständige Menschen umzusetzen. In der heutigen Zeit muss der Zugang zum Internet gewährleistet sein, damit das Menschenrecht nach Informationen verwirklicht ist (1). Von Armutsbetroffenen wurde

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immer wieder das Bedürfnis nach einem kostenlosen Internetzugang an uns herangetragen. Durch unsere langjährige Zusammenarbeit mit armutsbetroffenen Menschen zeigte sich, dass viele, insbesondere Randständige aus bildungsfernen Schichten, grosse Bildungsdefizite aufweisen. Um das Recht auf Information tatsächlich zu verwirklichen, ist bei vielen Armutsbetroffenen individuelle Unterstützung nötig, was bedeutet, dass sich jemand dazu setzt

und Anleitung gibt. Im ‚Kafi Klick’ wird niederschwellige Schulung, Hilfe und Beratung zur Nutzung des Internets nach individuellem Bedarf geboten und Unterstützung in der Korrespondenzführung gewährt. Das Pilotprojekt ‚Kafi Klick’ dauert zwei Jahre. Projektleiter ist Christoph Heusser. ‘Kafi Klick’ ist das zweite grössere Projekt der IG Sozialhilfe, nach der Erfindung der Kulturlegi, welche nun in der ganzen Schweiz von der Caritas weiter geführt wird. Um unsere Unabhängigkeit zu bewahren, haben wir keinen Leistungsvertrag mit der Stadt Zürich. Wir lehnen es ab, dass durch das Sozialamt SozialhilfebezügerInnen bei uns als TeilnehmerInnen eines Beschäftigungsprogramms versorgt werden. Das ‚Kafi Klick’ ist ein unabhängiger Ort für Armutsbetroffene ohne Zwänge!

Keine Toleranz für Pornografie und Gewalt Während des Aufbaus des ‚Kafi Klick’ gab es viele Diskussionen mit Armutsbetroffenen. Von allen wurde zuerst immer dieselbe Frage gestellt: Was ist mit Pornografie- und Sexseiten? Was mit Gewaltspielen? Dass solche nicht genutzt werden dürfen, musste klar gestellt werden. Nur unter dieser Bedingung waren alle einverstanden und erfreut, dass es das ‚Kafi Klick’ geben soll. Denn bei vielen wird beim Wort Internet unmittelbar sexuelle Ausbeutung


Branka Goldstein, Präsidentin IG Sozialhilfe Kafi Klick: Müllerstrasse 56, 8004 Zürich Projektleitung: Christoph Heusser Tel. 043 243 98 38 Öffnungszeiten: Mi-Fr. 14.00-18.30/Sa. 11.0016.00 Info unter: www.kafiklick.ch

(1) Richtlinien zum IFLA/UNESCO InternetManifest, http://www.ifla.org/faife/policy/iflastat/Internet-ManifestoGuidelines-de.pdf

breathtaking photos | flickr

und Gewalt mitgedacht. Es zeigte sich, dass die Armutsbetroffenen diesbezüglich absolut keine Toleranz aufbringen. Denn viele waren Opfer von sexueller Ausbeutung und Gewalt und fristen darum ein Dasein in Armut und Randständigkeit. Vorstand und Armutsbetroffene waren einer Meinung, dass es nur ein Internetcafé der IG Sozialhilfe geben darf, wenn solche Seiten gesperrt sind und das Internet ausschliesslich menschenwürdig genutzt wird. In den Diskussionen um das ‚Kafi Klick’ mit Armutsbetroffenen zeigten sich vielfältige Bedürfnisse, die aufgenommen und umgesetzt wurden: - Unterstützung bei der Benutzung des Computers und des Internets für diejenigen, die keine oder noch wenig Kenntnisse dieser Medien haben und sie erst kennen lernen wollen. - Unterstützung beim Briefe Schreiben beispielsweise an Ämter. Oft telefonieren Armutsbetroffene mit Ämtern, weil das Schreiben Probleme bereitet. Nachher haben sie nichts Schriftliches in der Hand und sind dem Amt ausgeliefert. Darum Schreibstube. - Andere wünschten sich einen Ort, wo man andere Armutsbetroffene treffen kann, um zu diskutieren, einen Ort, der nichts kostet. Denn viele Armutsbetroffene sind sehr allein und verharren in ihrer Wohnung, weil sich kaum getrauen, sich im öffentlichen Raum zu bewegen: Darum Treffpunkt. - Immer wieder wollten Ratsuchende am Beratungstelefon einen Termin für das persönliche Beratungsgespräch. Aber ohne einen Beratungsraum war dies nicht möglich. Darum gibt es jetzt jeden Donnerstagnachmittag von 14 bis 16 Uhr im ‚Kafi Klick’ die Beratungsstelle der IG Sozialhilfe, wo man ohne Voranmeldung vorbei kommen kann.

IG Sozialhilfe: Solidarität mit Armutsbetroffenen, nein zur Sozialapartheid in der Schweiz!

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ie IG Sozialhilfe kämpft mit und für Armutsbetroffene seit 1994 gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen die politischen Missstände im Sozialwesen und für die Verbesserung der Lebensqualität von armutsbetroffenen Menschen in der Schweiz. Sie ist ein politisch und konfessionell unabhängiger, gemeinnütziger sowie steuerbefreiter Verein. Sie finanziert sich durch private Spenden und übernimmt keine Aufträge von anderen staatlichen oder privaten Institutionen. Spenden (von den Steuern abzugsfähig) sind erbeten auf: PC 80-47672- 7, IG Sozialhilfe, Postfach 1566, 8032 Zürich, Tel. 079/343 66 43; www.ig-sozialhilfe.ch

Veranstaltung der IG-Sozialhilfe: Soziale Rechte für Armutsbetroffene, bedingungslose und menschenwürdige Existenzsicherung für alle, Informations- und Diskussionsveranstaltung der IG-Sozialhilfe zum internationalen Tag der Menschenrechte, Donnerstag 10. Dezember 2009, im GZ Riesbach, Seefeldstrasse 93, 8008 Zürich (Tram 2 und 4 bis Feldeggstrasse). Um 19 Uhr gemütliches Beisammensein mit Nachtessen, ab 20 Uhr Podiumsgespräch und Diskussion mit: Christine Goll (Nationalrätin, SP, Zürich), Pierre Heusser (Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich), Kurt Wyss (Soziologe, Zürich), Branka Goldstein (Präsidentin IG-Sozialhilfe, Zürich); Moderation: Franz Schibli (Sozialarbeiter/Theologe, St. Gallen). 4.09 / soziale medizin

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infos aus der genwelt • basler appell gegen gentechnologie

Forschung an Urteilsunfähigen zementiert In der Schlussabstimmung der Herbstsession Ende September wurde der Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen von beiden Räten mehrheitlich angenommen. Das Volk wird nun voraussichtlich Anfang März darüber entscheiden, ob die fremdnützige Forschung an urteilsunfähigen Menschen in der Schweiz erlaubt sein soll. Der Basler Appell gegen Gentechnologie ruft zur Ablehnung des Verfassungsartikels auf.

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ie es nicht anders zu erwarten war, nahm der Ständerat den Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen in der Schlussabstimmung einstimmig an. Nicht so der Nationalrat: Dort wurde der Artikel mit immerhin 61 Gegenstimmen und 18 Enthaltungen verabschiedet. Zwei VertreterInnen der Grünen und vier VertreterInnen der SP, ausserdem 55 SVP-NationalrätInnen stimmten gegen den Artikel. Der Basler Appell gegen Gentechnologie hatte bereits die Debatten im Parlament kritisch begleitet und eine ausführliche Stellungnahme ausgearbeitet.

Aufruf zur Ablehnung Zudem rief er die eidgenössischen Räte mehrfach dazu auf, den ethisch fragwürdigen Verfassungsartikel zumindest in der ausführlichen Form, wie er jetzt zementiert wurde, abzulehnen. Zuerst auch mit Erfolg. Doch nachdem die Bundesratsversion des Verfassungsartikels in der Nationalratsdebatte vom rechten Lager und den Grünen bachab geschickt worden war, machte der Ständerat einen Rückzieher. Der Nationalrat zog schliesslich nach, so dass der Artikel bei der Schlussabstimmung nun doch mehrheitlich Zustimmung fand.

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gehörigen erteilt. Dies ist besonders kritisch, weil das Schweizer Recht verlangt, dass das Wohl unmündiger Personen niemals dem möglichen Nutzen eines Forschungsprojekts für die Gesellschaft im Allgemeinen unterstellt werden darf.

Stimmbevölkerung hat das Wort Immerhin haben nun die Stimmberechtigten das letzte Wort: Vermutlich am 7. März 2010 wird darüber abgestimmt werden, ob die fremdnützige Forschung an urteilsunfähigen Menschen entgegen verfassungsrechtlich garantierter Grundrechte in der Schweiz legalisiert werden soll. Dies heisst im Klartext, dass die ethisch stark umstrittene Forschung an Demenzkranken oder etwa geistig Behinderten erlaubt werden soll, auch wenn die Betroffenen von den Forschungsresultaten nicht profitieren. Damit wird die besondere Schutzwürdigkeit dieser Personen verneint. Die Zustimmung zur Teilnahme an solchen Projekten wird in der Regel von den An-

EU warnt Schweiz vor Gentech-Leinsamen In der Schweiz wird zur Zeit geprüft, ob mit genmanipulierter Leinsaat verunreinigte Lebensmittel auf den Markt gelangt sind. In Deutschland waren Backwaren mit Spuren von Flachs-Lein FP 967 aufgetaucht. Diese Leinsamen sind auch in der Schweiz als Lebensmittel nicht bewilligt und müssen bei Auftauchen sofort aus dem Verkehr gezogen werden. Die EU hatte die Schweiz aufgefordert, womöglich mit Gentech-Leinsamen kontaminierte Backmischungen und deren Folgeprodukte vom Markt zu nehmen. Die Backmischungen wurden in Deutschland hergestellt. Die GentechLeinsamen stammen hingegen aus Kanada. Dort ist der Anbau von FP 967 zwar seit 2001 verboten. Trotzdem fand die Leinsaat den Weg in deutsche MüesliMischungen und Backwaren. Der einzige Weg, solche unliebsame Überraschungen zu vermeiden, ist der Verzicht auf jeglichen Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen, wofür sich der Basler Appell gegen Gentechnologie schon seit Jahren einsetzt. Denn einmal

Öffentliche Debatte dringend nötig Die vom Basler Appell gegen Gentechnologie geforderte breite Diskussion der Problematik in der Öffentlichkeit hat kaum stattgefunden. Es bleibt zu hoffen, dass die Stimmberechtigten die ethisch-moralische Tragweite eines solchen Verfassungsartikels trotzdem realisieren und Bundesrat und Parlament mit einer Ablehnung der Vorlage in ihre Schranken weisen werden. Der Basler Appell wird versuchen, die dringend notwendige Debatte zu lancieren – und ruft dazu auf, den ethisch verwerflichen Entwurf des Verfassungsartikels über die Forschung am Menschen im Frühjahr zu bodigen.

ausgesät – dies zeigt das Beispiel aus Kanada eindrücklich – treten Verunreinigungen von angeblich gentechnikfreien Lebensmittel auch noch Jahre später auf.

Grossbritannien: Gentests an Adoptivkindern? In Grossbritannien ist es gängige Praxis, dass Kinder, die zur Adoption freigegeben werden, medizinisch begutachtet werden, bevor eine Adoption erfolgen kann. Dies geschieht, um den Stand der Entwicklung und den gesundheitlichen Zustand des betroffenen Kindes zu erfassen. Neu wird diskutiert, ob man Kinder nicht auch auf bestimmte genetische Erkrankungen hin testen solle. Offenbar wurden Genetiker in Grossbritannien von potentiellen Adoptiv-Eltern bereits verschiedentlich darauf angesprochen, solche Tests durchzuführen. Man ist sich nun nicht sicher, ob solche Tests zulässig sein sollen oder nicht. Pränatale Untersuchungen seien ja


schliesslich auch gang und gäbe. Und die Präimplantationsdiagnostik sei eine willkommenen Methode, Embryonen zu untersuchen beziehungsweise auszusortieren, bevor sie der Mutter eingepflanzt würden. Die Debatte in Grossbritannien über den Gen-Check an Adoptivkindern hat eben erst begonnen. Wir können uns trotzdem schon darauf vorbereiten: Bisher kam noch jede ethisch brisante Neuerung, die in England ihren Anfang an, irgendwann auch in der Schweiz an.

lasten könnten. Ähnlich widersprüchlich ist auch die Empfehlung bezüglich Gentests für so genannt spät manifeste Erkrankungen: Wenn Minderjährige in der Lage seien, die Implikationen von Tests – beispielsweise zum erblichen Brustkrebs – zu verstehen, sollten sie entscheiden dürfen, heisst es in der Richtlinie. Kindern wird hier offensichtlich prinzipiell eine Kompetenz zugetraut, die Erwachsene nach allseitiger Übereinkunft erst durch die obligate eingehende Beratung zu Bedeutung und möglichen Folgen eines prädiktiven Gentests erlangen können.

tiert gentechnikfrei, und bei welchen Lebensmitteln ist das Risiko gross, dass die Verbraucher mit Gentechnik in Berührung kommen? Das neue Handbuch «Genfood - Nein danke» gibt Antworten und fasst kompakt und leicht verständlich zusammen, was alle wissen müssen, die gentechnisch veränderten Lebensmitteln nicht gleichgültig gegenüberstehen. Die Autoren: Max Annas, Journalist und Autor. Verfasste unter anderem das Buch zum Film «We feed the world» und «Das GenBuch Lebensmittel». Jürgen Binder, Bio-Imkermeister. Gründete eine Schule für ökologische Landwirtschaft und ist Vorsitzender des Vereins für ein gentechnikfreies Europa.

Neues Infoblatt: Gentests aus dem Internet

Das Buch ist seit Oktober 09 im Buchhandel erhältlich oder portofrei zu bestellen beim Basler Appell gegen Gentechnologie, Postfach 205, 4013 Basel; T 061 692 01 01, F 061 693 20 11, info@baslerappell.ch.

Gv-Schweinegrippen-Mais Wenn in fünf bis sieben Jahren die Schweinegrippe noch ein Thema ist und bei den Forschungen der Universität des US-Bundesstaates Iowa alles gut geht und eine Reihe weiterer Fragen beantwortet worden sind, dann könnte eventuell ein Impfstoff gegen die derzeit weltweit grassierende Krankheit mit den morgendlichen Cornflakes gegessen werden. So sieht es das Szenario in einer Pressemitteilung der Hochschule vor. Die Forscher versuchen den Impfstoff in gentechnisch veränderten Maispflanzen zu produzieren. Die WissenschaftlerInnen sind bemüht, den Prozess zu beschleunigen.

Richtlinien für Gentests an Kindern An erster Stelle stünden die Interessen des Kindes, betont die Europäische Gesellschaft für Humangenetik (ESHG) in ihren jüngst herausgegebenen Richtlinien zu prädiktiven Gentests. Zugleich lässt sie keinen Zweifel daran, dass auch andere Interessen bedient werden sollen, wenn Kinder sich Gentests unterziehen, die Aussagen über die Wahrscheinlichkeit machen, in der Zukunft krank zu werden. So empfiehlt die ESHG, Kinder mit erhöhtem Risiko für in der Kindheit auftretende, behandelbare Erkrankungen sofort zu testen, hält Gentests aber auch bei nicht behandelbaren Erkrankungen für sinnvoll, weil sie die Familien vorwarnen beziehungsweise auch ent-

Gentests aus dem Internet bergen verschiedene Risiken. Ein Merkblatt der Expertenkommission für genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMEK) will die Bevölkerung darüber aufklären. Denn die Möglichkeit, das eigene Erbgut auf Krankheitsrisiken testen zu lassen, ist auf den ersten Blick für viele Menschen verlockend. Medizinische Laien sind sich jedoch meist nicht bewusst, was ein solcher Test wirklich bedeutet und welche Konsequenzen er haben kann. Ein Merkblatt soll deshalb die breite Bevölkerung für die Thematik sensibilisieren. Die Kommission empfiehlt darin dringend, von Internet-Testangeboten keinen Gebrauch zu machen. Das Informationsblatt kann per EMail (gumek@bag.admin.ch) bestellt oder auf der Homepage des Bundesamts für Gesundheit (www.bag.admin.ch) unter der Rubrik Themen/Genetische Untersuchungen/GUMEK herunter geladen werden.

Genfood – Nein danke! Weshalb gibt es in Europa gentechnisch verändertes Futtermittel für Tiere, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung Gentechnik in Lebensmitteln ablehnt? Welche Lebensmittel sind heute garan-

Bitte schicken Sie mir gratis folgendes Info-Material: ... Ex. «Älter, klüger, schneller – Gentech machts möglich», Broschüre ... Ex. «Agrotreibstoffe – Gentech im Tank», Broschüre ... Ex. «Biobanken», Broschüre ... Ex. «Check und weg: Präimplantationsdiagnostik (PID), Broschüre ... Ex. «Gen-Test am Embryo», Broschüre ... Ex. «Gentests – das gefährliche Versprechen», Broschüre …  Ex. «Biobanken», Broschüre …  Ex. «Embryonenführer», Broschüre …  Ex. «Basler Appell gegen Gentechnologie», Faltblatt …  Ex. «Von Embryonen und Stammzellen», Faltblatt …  Ex. «Gentechnisch hergestellte Medikamente», Faltblatt …  Ex. «Gentherapie», Faltblatt …  Ex. «Genom-Analyse und Gen-Tests», Faltblatt …  Ex. «Organspende», Faltblatt …  Ex. «Xenotransplantation», Faltblatt …  Ex. «Deklaration gentechnisch veränderter Lebensmittel in der Schweiz», Faltblatt …  Ex. «Rundbrief AHA!», Probeexemplar …  Ex. «Pressespiegel Gentechnologie», Probeexemplar …  Ex. «Gentechfrei-wir sind dabei!», Dossier Einsenden an: Basler Appell gegen Gentechnologie, Postfach 205, 4013 Basel Sie finden uns auch unter www.baslerappell.ch 4.09 / soziale medizin

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magazin • sterbehilfe

Keine normale Dienstleistung Gesetzliche Schranken für die Sterbehilfe? Der Bundesrat schlägt Einschränkungen der organisierten Hilfe zur Selbsttötung vor. Diese sind so rigoros, dass der Schuss möglicherweise hinten hinausgeht.

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emäss Art. 115 des Strafgesetzbuchs (StGB) ist Beihilfe zur Selbsttötung in der Schweiz strafbar, wenn sie aus „selbstsüchtigen Beweggründen“ erfolgt. Daraus zieht man den Umkehrschluss, dass sie in allen anderen Fällen nicht bestraft wird. Diese rechtliche Ausgangslage ermöglicht Vereinigungen wie ‚Dignitas’ und ‚Exit’ die organisierte Hilfe zur Selbsttötung. Da diese – vor allem ‚Dignitas’ – in letzter Zeit zunehmend Anstoss erregt haben, will der Bundesrat ihren rechtlichen Spielraum jetzt einschränken. Dazu schlägt er zwei Varianten vor. Die eine ist ein Totalverbot. Artikel 115 StGB soll ergänzt werden, dass Beihilfe zur Selbsttötung aus „selbstsüchtigen Beweggründen oder im Rahmen einer Suizidhilfeorganisation“ strafbar ist.

Wirksamer Riegel gegen „Sterbetourismus“ Die andere Variante sind gesetzliche Auflagen wie eine lückenlose Dokumentation des Suizidhilfeprozesses, die ausschliessliche Verwendung ärztlich verordneter Medikamente, die Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches sowie, dass dem sterbewilligen Menschen Alternativen zum Suizid dargelegt werden. Diese Auflagen wären nicht wirklich einschneidend. Eine grössere Hürde wäre hingegen die vom Bundesrat ebenfalls vorgeschlagene Vorschrift, die Urteilsfähigkeit eines sterbewilligen Menschen durch ein ärztliches Gutachten beschei-

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soziale medizin / 4.09

nigen zu lassen. Das würde den Ablauf verzögern. So genannte „Sterbetouristen“ könnten nicht einfach in die Schweiz reisen, ein Gespräch mit dem Sterbehelfer führen und sich gleichentags noch in den Tod begleiten lassen. Wirklich verunmöglicht würde die Tätigkeit von ‚Exit’ und ‚Dignitas’ aber auch dadurch nicht. Nun schlägt der Bundesrat jedoch auch vor, die Suizidhilfe nur noch für Menschen zuzulassen, die ohnehin bald sterben würden. Und diese Tatsache müsste ebenfalls durch ein medizinisches Gutachten bestätigt werden. Diese Beschränkung ist neu. Sie würde chronisch Kranken, die nicht unmittelbar vor dem Tod stehen, die Inanspruchnahme der organisierten Suizidhilfe verunmöglichen.

Hohe Akzeptanz der Suizidhilfe Da sie der organisierten Suizidhilfe kritisch gegenüber steht, müsste die Redaktionsgruppe ‚Soziale Medizin’ die bundesrätlichen Vorschläge eigentlich begrüssen. Offiziell Stellung genommen hat sie dazu zwar noch nicht. Möglicherweise wird sie jedoch nicht allzu positiv reagieren. Dem Bundesrat scheint in dieser Frage nämlich der Sinn für das politisch Machbare etwas zu fehlen. Die Suizidhilfeorganisationen – vor allem ‚Exit’ – geniessen in der Bevölkerung eine hohe Akzeptanz. Für ein Totalverbot der organisierten Hilfe zur Selbsttötung wird sich somit wohl nicht einmal im Parlament eine Mehrheit finden. Aber auch die Auflagen für die organisierte Suizidhilfe werden kaum in der vom Bundesrat vorgeschlagenen Form akzeptiert werden. ‚Exit’ spricht schon jetzt von bürokratischen Schikanen und würde nötigenfalls ein Referendum ergreifen, das durchaus Erfolgsaussichten hätte. Wenn sich Bundesrat und Parlament für den Erlass von Auflagen entscheiden, werden die jetzigen

bundesrätlichen Vorschläge wohl gelockert. Die Beschränkung auf Menschen, die ohnehin bald sterben würden, wird möglicherweise entfallen. Gutheissen könnte das Parlament hingegen die Pflicht zur Dokumentation und zum Einholen eines Gutachtens über die Urteilsfähigkeit. Damit würden zwar die extremsten Auswüchse verunmöglicht, die ebenfalls problematische „normale“ Suizidhilfe erhielte aber durch staatlich geregelte Verfahrensregeln einen gleichsam offiziellen Status. Somit wäre es möglicherweise besser, die heutige Regelung beizubehalten. Diese ermöglicht der Justiz das Einschreiten, wenn die gemeinnützigen Beweggründe oder die Urteilsfähigkeit eines sterbewilligen Menschen fraglich sind. Dabei ist durchaus etwas mehr Strenge möglich. Das Basler Strafgericht hat am 6. Juli 2007 beispielsweise entschieden, Publizitätssucht bei der Suizidhilfe sei kein selbstloser Beweggrund (vgl. www.sozialemedizin.ch/ ?p=615).

Die Haltung der Sozialen Medizin In der ‚Sozialen Medizin’ haben wir uns schon immer kritisch zur organisierten Suizidhilfe geäussert. Wir wollen die Hilfe zur Selbsttötung zwar nicht generell unter Strafe stellen. Im Einzelfall soll jede und jeder, auch ein Arzt oder eine Ärztin, einem Menschen nach sorgfältiger Abwägung helfen können, aus dem Leben zu scheiden. Was wir ablehnen ist hingegen die Suizidhilfe als organisierte Dienstleistung, deren Inanspruchnahme geradezu als normal erscheint. Dadurch können sich alte und pflegebedürftige Menschen unter Druck fühlen, „rechtzeitig abzutreten“. Diese Geisteshaltung lässt sich aber nicht durch Gesetze und die Justiz ändern, sondern nur durch eine offene Diskussion. Ruedi Spöndlin


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magazin • wohnen

Wenn die Sammelleidenschaft Leiden schafft

Die Probleme der Messies Messies leiden unter dem Zwang Waren zu sammeln, zu horten und in der Wohnung anzuhäufen. Diese Störung gilt als eine Form der Zwangsstörung und hat verschiedenste Ursachen und Folgen. Man geht davon aus, dass 2 - 3 Prozent der Gesamtbevölkerung betroffen sind.

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er Begriff „Messie-Syndrom„ (von engl. mess = Unordnung, Dreck, Schwierigkeiten) bezeichnet schwerwiegende Defizite in der Fähigkeit, die eigene Wohnung ordentlich zu halten und die Alltagsaufgaben zu organisieren, es können ernsthafte seelische Störungen vorliegen. Wenn eine Wohnung nicht mehr begehbar ist und so faktisch unbewohnbar oder vermüllt wird, weil ein Mieter sie mit Gegenständen vollgestopft hat, kann es sein, dass sie geräumt werden muss. Es kommen Unmengen Waren zum Vorschein – das Leid der Messies wird sichtbar. Wie viele Messies es in der Schweiz gibt, ist bis anhin nicht be-

kannt. Man rechnet - von Schätzungen in Deutschland ausgehend - dass zwei bis drei Prozent der Bevölkerung unter dieser Störung leiden. Das „Messietum“ gilt als Krankheit und gehört in die Kategorie der Zwangsstörungen. In Fachkreisen wird auch vom „MessieSyndrom“ gesprochen. Depression und Suchtverhalten können Ursachen dafür sein, man weiss über dieses Gebiet bis heute diagnostisch noch wenig. „Messie-Syndrom“ ist ein von den Medien geförderter bzw. umgangssprachlicher Ausdruck, der in der psychotherapeutischen Fachwelt kaum verwendet wird. (Zitat: http://de.wikipedia. org/wiki/Messie-Syndrom)

Definition Diese auch als Desorganisationsproblematik bezeichneten Defizite beruhen auf einer Störung psychischer Funktionen; sind also eine psychische Störung. Hinsichtlich des Schweregrads gibt es eine weite Bandbreite von Selbstregulationsschwächen, „Chaotik“ und Unordentlichkeit mit irrationaler Sammel-

neigung am einen Ende des Spektrums bis hin zu schweren Formen eines Vermüllungssyndroms. Messies sind du m m, asozial, Schmutz­fi nken, Sozialhilfeempfänger – so die gängigen Vorurteile. Dem ist nicht so. Sie sind in der Regel liebenswürdig, intelligent und haben Fähigkeiten genau wie so genannt normale Menschen. Messies gehen oftmals einer geregelten Arbeit nach und fallen von ihrem Äusseren her keineswegs auf. Man sieht und erkennt ihre Störung in der Regel nicht. Vielleicht gehört der Nachbar zu dieser Gruppe von Menschen oder der unauffällige Arbeitskollege leidet still unter eben dieser Zwangsstörung. Es kann vielleicht auch die etwas ungepflegt daher kommende Dame, die in ihren drei, vier Plastiksäcken rumnuschelt, sein.

Wer sind denn nun diese Messies? Als „Messie“ wird eine Person bezeichnet, die sammelt und hortet, egal was. Es gibt eine grosse Vielfalt an Sammel4.09 / soziale medizin

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magazin • wohnen

Leidenschaften. Es gibt die „Puppenund Plüschtiersammler“, deren ganze Wohnung voll davon ist. Es gibt die „Elektrogerätesammler“ mit Unmengen von Computern, Haartrocknern, Stereoanlagen, TV-Geräten, Kabeln und weiteren Haushaltgeräten aller Art. Der Grossteil davon ist zwar defekt, doch sie werden gehortet, denn man könnte sie noch reparieren und gebrauchen. Weiter sind da die „Tütensammler“. Sie sammeln Plastik-, Papier- und Stofftüten und packen alles zwei- bis viermal ein, da es sonst schmutzig werden könnte. Sehr häufig werden auch Informationsträger wie Zeitungen, Hefte, Bücher, herausgerissene Artikel, Ton- und Bildträger gehortet. Zudem gibt es Menschen, die den Müll nicht entsorgen können – in diesen Wohnungen entwickeln sich Schimmel und Gestank. Die „Müll-Messies“ werden oft in den Medien erwähnt, obwohl diese eine Minderheit unter den Messies sind. (Zurzeit betreue ich zehn Personen mit dieser Störung, davon ist eine Betroffene, die den Müll nicht entsorgen kann!) Die Folgen des Sammelns sind bei allen frappant: Die Menge der gesammelten Stücke nimmt stetig zu, die Wohnung wird immer kleiner, bis die Bewohnerin/ der Bewohner schliesslich nur noch schmale Gänge begehen kann oder sie/er steigt über die Fülle der gesammelten Sachen.

Unverarbeiteter Schicksalsschlag als mögliche Ursache Betroffen sind beide Geschlechter, junge wie auch alte und alle sozialen Gruppierungen. Allen gemein ist die Tatsache, dass hinter dem einzelnen Schicksal eine schwierige Lebensgeschichte und grosses, individuelles Leid steckt. Der Zwang zu horten und nichts mehr wegwerfen zu können, ist Ausdruck eines destabilisierten Seelenlebens. Oft schleicht sich die Störung ein, wenn eine Beziehung zu Ende geht, ein nahe stehender Mensch stirbt oder die Stelle gekündigt wird. Das sind aber nur die Auslöser, denn die eigentlichen Ursachen gehen zweifellos tiefer und reichen bis in die frühe Kindheit zurück. Es gibt aber auch Menschen, die von Kindheit an den Drang zum Sammeln haben.

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soziale medizin / 4.09

Menschen, die nicht geliebt, angenommen und willkommen geheissen wurden, kompensieren später die Mankos durch Gegenstände. Noch gravierender können sich ein mangelhaft entwickeltes Urvertrauen und eine fehlende innere Sicherheit auswirken. Ständiger Kritik ausgesetzt zu sein und es nie Recht machen zu können, sind weitere Risikofaktoren. Eine Klientin erzählt: Ich konnte es in der Kindheit meiner Mutter nie Recht machen. Ich versuchte sie mit Überraschungen und Liebesdienste für ein Lob zu gewinnen, sie hatte aber weder Dank noch Lob auf den Lippen. Es kam nur Kritik: „Du hättest das noch besser machen können oder wenn du besser zu gehört hättest...!“ Alle diese Grundursachen können in eine Depression münden, den Betroffenen geht es immer schlechter und sie beginnen irgendwann zu kompensieren. Der Messie beginnt dann zu sammeln und häuft seine Schätze in der Wohnung an. Aus dem Sammeln entwickelt sich ein Zwang. Das Sammeln und Horten macht den Messies keine Freude. Schamgefühle und die Angst, entdeckt zu werden, sind enorm gross. Dies kann Messies in die soziale Isolation führen. Der zwanghafte Sammler lässt niemanden mehr in die Wohnung.

Professionelle Hilfe nötig Meine Arbeit als ambulant tätige Psychiatrie-Pflegefachfrau besteht darin, Messies dabei behilflich zu sein, ihr Lebens-Chaos zu entrümpeln. Sie sind auf einen geduldigen, hoffnungsvollen und einfühlsamen Umgang angewiesen. Denn nur in einer kontinuierlichen und vertrauensvollen Beziehung ist eine positive Veränderung möglich. Die Wohnung wird deshalb gemeinsam wieder bewohnbar gemacht. Das Tempo der Entrümpelung wird in Absprache mit dem Messie bestimmt. Ziel ist, dass die Betroffenen wieder atmen können und frischen Lebensmut gewinnen. Für jeden betroffenen Menschen ist es ein unheimlich schwieriger Akt, etwas wegzuräumen oder wegzuwerfen. Sie wissen zwar, dass es nötig und wichtig ist, vielleicht auch deshalb, weil eine Zwangsräumung droht. Zugleich

macht ihnen das Räumen Angst. Sie haben Angst ein Stück von sich selber weg zu geben. Sie fühlen sich mit jedem Fetzchen persönlich verbunden. Für Nichtmessies ist dies fast nicht nachvollziehbar. Oft kommt auch die Frage auf was danach passiert: Wenn alles weggeräumt ist, kann ich dann noch Leben? In meiner Arbeit bin ich bemüht, empathisch, wertschätzend und doch zielstrebig auf diese Menschen einzugehen – immer im Bewusstsein, dass das Chaos der Spiegel der Seele ist. Deshalb ist es wichtig, dass die Betroffenen gleichzeitig in psychologischer oder psychiatrischer Betreuung sind. Alle Beteiligten arbeiten eng zusammen und unterstützen den Betroffenen in seiner Entwicklung. Eine Veränderung soll eintreten, das Leben soll wieder lebenswert sein – ein langwieriger Prozess, der sich lohnt. Meine Motivation diesen Artikel zu veröffentlichen ist, auf die Menschen mit einem „Messie-Syndrom“ aufmerksam zu machen. Die Arbeit mit den Messies hat mich gepackt. Ich werde mich weiterhin mit diesem Thema befassen und vertiefen. Für Fragen, Weiterbildungen oder Vorträge stehe ich zur Verfügung. Rosmarie Hauser Mitglied bei der SGZ, Schweiz. Gesellschaft für Zwangsstörung (www.zwaenge.ch) und den Lessmess, Zürich (www.lessmess.ch), Sozialpsychiatrische Betreuung/Begleitung zu Hause, Kontakt: r.hauser@hasp.ch, www. hasp.ch

Literatur Roth, Eva S.: Einmal Messie immer Messie, Das Messie Handbuch, Verlag Dietmar Klotz GmbH, Eschborn bei Frankfurt am Main, 2004 Fricke, Susanne: Basiswissen 13, Umgang mit Zwangserkrankteen Menschen, Psychiatrie-Verlag GmbH, Bonn 2007 Rufer, Michael/ Fricke, Susanne: Der Zwang in meiner Nähe, Verlag Hans Huber Hogrefe AG, Bern 2009 Pro Mente Sana Aktuell 2008/4: Zwangsstörungen, Pro Mente Sana Hardturmstrasse 269, 8005 Zürich, 2008 Pritz, Alfred, Vykoukal, Elisabeth Rboly, Katharina, Agdari-Moghadam, Nassim: Das Messie-Syndrom, Springer – Verlag/ Wien, 2009 Annina Wettstein: Messies.Alltag zwischen Chaos und Ordnung, Zürich 2005 Rainer Rehberger: Messies – Sucht und Zwang. Psychodynamik und Behandlung bei Messie-Syndrom und Zwangsstörung, Klett-Cotta 2007


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Offenheit sollte mit Vorsicht gekoppelt sein

Ihre Bleibe ist auch zum diesem Zeitpunkt mit Unrat voll gestopft. Die Vermieterschaft muss sie räumen und meistens auch neu streichen lassen. Oft müssen dabei ganze Bauschuttmulden gefüllt werden. Die Kosten dafür werden natürlich dem betreffenden Mieter in Rechnung gestellt, wobei bei den Malerkosten allerdings die Altersentwertung berücksichtigt werden muss (pro Jahr seit dem letzten Anstrich ein Achtel Reduktion, ausgehend von einer Lebensdauer von acht Jahren). Die betreffenden Messies sehen sich jedenfalls mit hohen Entschädigungsforderungen konfrontiert, die sie häufig nicht begleichen können. Die Folge können Betreibungen, Pfändungen und Verlustscheine sein, welche bei der künftigen Wohnungssuche ein schweres Handicap darstellen und ganz allgemein die soziale Abwärtsspirale verstärken. Gewisse Liegenschaftsverwaltungen holen zudem bei früheren Vermietern Referenzauskünfte über MietinteressentInnen ein. Und damit hat man als Messie keine Chance. Um soziale Ausgrenzung zu verhindern, wäre es deshalb hilfreich, bei vermüllenden Menschen rechtzeitig zu intervenieren.

Psychosoziale Probleme auf dem Wohnungsmarkt

Verhängnisvolle Zahlungsrückstände

Mit der Integration von psychisch Kranken in den Arbeitsmarkt beschäftigen sich zu Recht viele ExpertInnen. Messies beispielsweise leiden aber an einer Störung, die sie vor allem auf dem Wohnungsmarkt von Ausgrenzung bedroht. Die Wohnprobleme psychisch kranker Menschen erfordern ganz allgemein eine hohe Beachtung.

Von Ausgrenzung auf dem Wohnungsmarkt bedroht sind auch MieterInnen, welchen die Wohnung wegen Zahlungsrückständen gekündigt wird. Das sind einerseits Menschen, die ihre Ausgaben nicht im Griff haben, sowie Erwerbstätige in prekären Arbeitsverhältnissen, deren Einkommen schwankt oder plötzlich wegfällt. Auch verspätete Lohnzahlungen führen immer wieder zu Kündigungen wegen Zahlungsverzugs. Manchmal gewährt die Sozialhilfe der Gemeinde in solchen Fällen eine Überbrückung. Häufig weisen die Sozialhilfestellen die Betroffenen aber auch ab. Manchmal liegt das daran, dass sich diese erst im allerletzten Moment an die Sozialhilfe wenden. Und dann lässt sich halt tatsächlich nichts mehr machen. Rechtlich ist die Sozialhilfe nicht verpflichtet, für Mietzinsausstände aufzukommen. Denn ihre Pflicht ist nur die Sicherung des laufenden Lebensunter-

M

essies sind inzwischen auch LiegenschaftsverwalterInnen, MieterberaterInnen und WohnungsabnahmexpertInnen ein Begriff. Gemeint sind damit in der Wohnungsbranche vor allem die so genannten Müll-Messies (vgl. vorhergehenden Artikel). Diese „vermüllen“ in ihren Wohnungen oft regelrecht. Allerdings sind es nicht nur Messies im psy-

chologischen Sinn, die ihre Wohnungen vermüllen lassen, sondern zum Teil auch alte Menschen, die einfach die Kraft nicht mehr haben, ihre Wohnung aufzuräumen und zu putzen. Ebenfalls zu beobachten ist das Phänomen der Vermüllung bei gewissen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, deren Problem eine extreme Null-Bock-Mentalität ist. Diese Gruppe von Mietern (meistens sind es Männer) erregt zusätzlich oft auch durch dröhnende Musik zu jeder Tages- und Nachtzeit und exzessives Rauchen und Kiffen Anstoss.

Kostspielige Wohnungsräumung Sofern kein Gestank und kein Ungeziefer nach aussen dringen, und keine zusätzlichen Rücksichtslosigkeiten gegenüber Nachbarn vorkommen, bekommen „vermüllte“ Menschen spätestens bei der Wohnungsabgabe ein Problem.

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halts, nicht die Deckung von Schulden. Für die Sozialhilfe kann es trotzdem Sinn machen, Mietzinsschulden zu begleichen, weil sie nämlich dazu verpflichtet ist, im Notfall für ein menschenwürdiges Dach über dem Kopf zu sorgen. Wenn jemand (womöglich eine ganze Familie) kurzfristig in einer Notunterkunft (unter Umständen sogar in einem Hotel) untergebracht werden muss, kommt das oft teurer zu stehen als die Begleichung der Mietzinsausstände. Wenn eine Sozialhilfebehörde geschickt verhandelt, kann sie die Vermieterschaft manchmal sogar zu einer Reduktion der Mietzinsforderung bewegen. Der entscheidende Anreiz für die Vermieterschaft ist dabei die Garantie künftiger Mietzinszahlungen. Eine solche kann die Sozialhilfe allerdings nur gewähren, wenn die betroffene Mieterschaft unterstützungsberechtigt ist. Ist jemand dazu finanziell zu gut gestellt, fliegt aber wegen eines vorübergehenden finanziellen Engpasses aus der Wohnung, besteht kein Spielraum dafür. Zu Recht keine Mietzinsrückstände übernimmt die Sozialhilfe, wenn jemand in einer für seine Verhältnisse zu teuren Wohnung lebt und wegen Zahlungsrückständen die Kündigung erhält. In diesem Fall muss der oder die Betreffende ohnehin über kurz oder lang ausziehen und aus der Sicht der Sozialhilfe bringt es meistens nichts, diesen Wechsel durch die Übernahme von Mietzinsausständen in die Länge zu ziehen. Dies, obwohl für die Betroffenen ein weniger abrupter Wohnungswechsel vorteilhaft wäre.

Aufgepasst bei Klinikeintritten Wenn fällige Mietzinsen oder Nebenkosten nicht bezahlt sind, kann die Vermieterschaft einer Mieterin oder einem Mieter eine 30-tägige Zahlungsfrist ansetzen. Werden die Ausstände innert dieser nicht beglichen, ist gegen eine kurzfristige Kündigung (mit 30 Tagen Frist auf Ende eines Monats) rechtlich nichts zu machen. Eine spätere Zahlung nützt nichts mehr, wenn die Vermieterschaft hart bleibt. Aus diesem Grund sind von Zahlungsverzugskündigungen nicht nur Mietende mit ungenügenden finanziellen Mitteln betroffen, sondern auch solche, die ihre administrativen

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Angelegenheiten vorübergehend nicht im Griff haben. Sehr häufig sind das PatientInnen, die kurzfristig in eine psychiatrische Klinik eintreten mussten. Die Sozialdienste der Kliniken bemühen sich zwar in der Regel darum, dass der Mietzins bezahlt wird. In der MieterInnenberatung melden sich aber immer wieder PsychiatriepatientInnen, bei welchen dies untergegangen ist und die deswegen kurzfristig aus ihrer Wohnung fliegen. Die Sicherung der Mietzinszahlungen ist somit in der Sozialarbeit mit PsychiatriepatientInnen etwas vom Allerwichtigsten, vorausgesetzt die Betroffenen verfügen über die nötigen finanziellen Mittel oder können diese bei der Sozialhilfe erhältlich machen. Ansonsten ist der Verlust der Wohnung natürlich nicht zu vermeiden, ausser die Vermieterschaft zeigt sich kulant.

Blindes Wohlwollen ist kontraproduktiv Wer keinen leeren Betreibungsregisterauszug vorlegen kann oder sonst ein „Stigma“ aufweist, hat kaum eine Chance, bei einer professionellen Liegenschaftsverwaltung eine Wohnung zu mieten. Trotzdem ist nur ein verschwindend kleiner Teil dieser Menschen obdachlos. Dies liegt einerseits daran, dass in der Deutschschweiz die Mehrzahl der Wohnungen von privaten VermieterInnen angeboten wird. Viele von diesen entscheiden vor allem nach dem persönlichen Eindruck und geben auch einmal jemandem eine Chance, der nicht ins gängige Schema der Liegenschaftsverwaltungen passt. Diese begrüssenswerte Offenheit erfordert aber auch Vorsicht. Denn wenn es dann trotzdem zu einem Konflikt kommt, eskaliert dieser häufig auf eine Weise, die auf beiden Seiten tiefe Verletzungen hinterlässt und gerade psychisch angeschlagene MieterInnen destabilisieren kann. Dabei sind es nicht immer die VermieterInnen, die weniger tolerant sind, als sie anfänglich glaubten. Auch gewisse MieterInnen mit einer psychischen Leidensgeschichte neigen dazu, überempfindlich auf wirkliche oder vermeintliche Belästigungen zu reagieren, etwa auf Heizungsgeräusche oder Lärm und „böse Blicke“ von Nachbarn. Auch tolerante VermieterIn-

nen müssen zudem berücksichtigen, dass oft die MitmieterInnen im gleichen Haus nicht zum Zusammenleben mit einem psychisch auffälligen Menschen bereit sind. Dabei sind oft diffuse Ängste im Spiel, das betreffende Haus werde immer stärker von Randständigen bevölkert. Diese sind nicht ganz ohne reale Grundlage. Denn in gewissen Fällen ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass ein Eigentümer eine Wohnung deshalb an sozial auffällige Menschen vermietet, damit die übrigen MieterInnen möglichst rasch ausziehen und ein allfälliges Renovationsvorhaben nicht mit Erstreckungsbegehren verzögern. In solchen Fällen sind die Vermieterinnen in der Regel allerdings nicht Private, sondern halbprofessionelle Liegenschaftsinvestoren wie Treuhänder, Rechtsanwälte, Architekten oder Bauunternehmer. Offenheit gegenüber sozial und psychisch auffälligen Menschen sollte jedenfalls immer mit einer gewissen Vorsicht gekoppelt sein. Fachpersonen aus Sozialarbeit, Psychiatrie und Psychotherapie sollten darauf achten, dass mögliche Konfliktpunkte in Zusammenhang mit dem Wohnen rechtzeitig bearbeitet werden. Denn jedes gescheiterte Mietverhältnis vermindert die künftigen Chancen auf dem Wohnungsmarkt. Ähnlich wie auf dem Arbeitsmarkt, wo nicht voll Leistungsfähige immer weniger eine Beschäftigung finden, haben auf dem Wohnungsmarkt sozial auffällige Menschen immer geringere Chancen. Das hat unter anderem mit der Professionalisierung der Liegenschaftsverwaltung zu tun, die zu einer immer selektiveren Auswahl der MieterInnen führt. Deshalb ist ein „zweiter Wohnungsmarkt“ mit gemeinnütziger Zielsetzung unumgänglich. Dazu gehören verschiedene Formen des betreuten, aber auch des völlig selbständigen Wohnens. Ruedi Spöndlin, arbeitet nebst seiner Tätigkeit als Redaktor der Sozialen Medizin für den Schweizerischen Mieterinnen- und Mieterverband, unter anderem als Rechtsberater, und gehört einer Mietschlichtungsbehörde an. In diesem Artikel äussert er ausschliesslich seine persönliche Meinung.


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Die Neuordnung der Pflegefinanzierung

Gesetzwidriger Zustand wird legalisiert Vor rund einem Jahr hat das Parlament die Finanzierung der Langzeitpflege neu geregelt. Inzwischen hat der Bundesrat auch die Details festgelegt. Entlastet werden vor allem Heimbewohnerinnen und –bewohner. Teurer wird es hingegen für Spitex-Klienten sowie für die Kantone und Gemeinden. von Thomas Wahlster Ausgangslage Die Eidgenössischen Räte haben am 13.Juni 2008 die Revision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) im Bereich der Pflegefinanzierung beschlossen. Die Revision hat zur Folge, dass auch die von den Änderungen betroffenen Verordnungen angepasst werden müssen. Es handelt sich dabei namentlich um die Verordnung über die Krankenversicherung (SR 832.102) und die Verordnung des Eidgenössischen Departements des Inneren über die Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (KLV; SR 832.112.31). Die Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV; SR 831.01) muss auch angepasst werden, insbesondere hinsichtlich der Definition der Heime. Für die Festlegung des Datums des Inkrafttreten des Gesetzes über die Neuordnung der Pflegefinanzierung ist der Bundesrat zuständig. Vorgesehen ist ein Inkrafttreten per 1. Juli 2010. Die Neuordnung der Pflegefinanzierung beinhaltet, dass die obligatorische Krankenpflegeversicherung einen bestimmten Frankenbetrag leistet, der je nach Pflegebedarf variiert. Die Beiträge werden vom Bundesrat für die ganze Schweiz einheitlich festgelegt. Dabei handelt es sich einzig um Pflegeleistun-

gen im Sinne von Artikel 25a Absatz 1 KVG, da die Pensions- und Betreuungskosten wie heute von den pflegebedürftigen Personen getragen werden müssen bzw. subsidiär durch die Ergänzungsleistungen (EL), die bedarfsabhängig ausgerichtet werden. Dadurch wird ein gesetzeswidriger Zustand, der seit Einführung des KVG schon fast zur Normalität geworden ist, endgültig legalisiert (siehe auch Soziale Medizin Nr.2/ 2004 – Das KVG als Mogelpackung). Das KVG verlangt, dass die medizinische Grundpflege in Heimen und bei der Spitex voll durch die obligatorische Krankenversicherung bezahlt wird. Mit diesem Versprechen wurden auch die Stimmberechtigten im Hinblick auf die Volksabstimmung über die obligatorische Krankenversicherung vom Dezember 1994 geködert. Der Bund hat aber die Pflegetarife derart unrealistisch tief angesetzt, dass sie die Kosten nicht decken. Zum Ausgleich der Differenz wurden vor allem die Pflegebedürftigen zur Kasse gebeten oder – via Ergänzungsleistungen und Defizitbeiträge – die Kantone und Gemeinden. Laut Statistiken des BFS, BSV, BAG und Curaviva haben im Jahre 2006 die Heimbewoh-

nerinnen und Heimbewohner 46% der Heimkosten in einem Umfang von 3.1 Milliarden Franken finanziert, während der Anteil der Krankenversicherer bei den Nettokosten lediglich 20,5% betrug.

Änderungen durch die Neuordnung der Pflegefinanzierung Die Neuordnung der Pflegeversicherung sieht nun vor, dass für nicht von der Krankenpflegeversicherung übernommene Pflegekosten höchstens 20% des höchsten vom Bundesrat festgesetzten Pflegebeitrags den versicherten Personen belastet werden dürfen (Art.25a Abs.5 KVG). Die Höhe der Beiträge durch die Krankenversicherer wurde in einer Änderung der Verordnung des Eidgenössischen Departements des Inneren über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vom 24.Juni 2009 festgelegt. Die Beiträge für Heimbewohnerinnen und Heimbewohner sind neu gestaffelt nach zeitlichem Pflegeaufwand in 12 Stufen und bewegen sich zwischen Fr. 9.– in Stufe 1 bis Fr. 108.– in Stufe 12 pro Tag. Die Plafonierung der Pflegekosten auf maximal 20% des höchsten vom Bundesrat festgelegten Pflegetarifes, welcher den pflegebedürftigen Personen pro Tag belastet werden darf, führt zu den nachfolgenden Veränderungen der Pflegefinanzierung bei der Spitex bzw. im Pflegeheim.

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Einige Praxisbeispiele sollen verdeutlichen, wie die Kostenbeteiligungen von pflegebedürftigen Personen bzw. dem Kanton im Detail aussehen:

a) Person im Pflegeheim Beispiel 1: Person hat Pflegebedarf von 45 Minuten pro Tag Pflegetaxe des Heimes (Annahme): Beitrag Krankenversicherer für Stufe 3 (Brutto): Rest (nicht durch Krankenversicherer gedeckt) Eigenleistung Person (max.20% von Fr. 108.00 = Fr. 21.60) Restfinanzierung (Kanton)

Fr. 45.00 Fr. 27.00 Fr. 18.00 Fr. 18.00 Fr. 0.00

Beispiel 2: Person hat Pflegebedarf von mehr als 300 Minuten pro Tag Pflegetaxe des Heimes (Annahme) Beitrag Krankenversicherer für Stufe 12 (Brutto) Rest (nicht durch Krankenversicherer gedeckt) Eigenleistung Person (max. 20% von Fr. 108.00 = Fr.21.60) Restfinanzierung (Kanton)

Fr. 200.00 Fr. 108.00 Fr. 92.00 Fr. 21.60 Fr. 70.40

b) Person zu Hause, Pflege durch Spitex Beispiel 1: Person hat Pflegebedarf von 20 Minuten pro Tag (10 Minuten Behandlungspflege, 10 Minuten Grundpflege) Tarif Spitex (Annahme) Beitrag Krankenversicherer für 10 Min. Behandlungspflege (Brutto) Beitrag Krankenversicherer für 10 Min. Grundpflege (Brutto) Rest (nicht durch Krankenversicherer gedeckt) Eigenleistung Person (max. 20% von Fr. 79.80 = Fr. 15.95) Restfinanzierung (Kanton)

Fr. Fr. Fr. Fr. Fr. Fr.

35.00 10.90 9.10 15.00 15.00 0.00

Beispiel 2: Person hat Pflegebedarf von 80 Minuten pro Tag (20 Minuten Behandlungspflege, 60 Minuten Grundpflege) Tarif Spitex (Annahme) Beitrag Krankenversicherer für 20 Min. Behandlungspflege (Brutto) Beitrag Krankenversicherer für 60 Min. Grundpflege (Brutto) Rest (nicht durch Krankenversicherer gedeckt) Eigenleistung Person (max. 20% von Fr. 79.80 = Fr.15.95) Restfinanzierung (Kanton)

Neben der Limitierung der durch pflegebedürftige Personen in Form von Eigenleistungen aufzubringenden Pflegekosten wurden auch im Bereich der Ergänzungsleistungen weitere Entlastungen für Heimbewohnerinnen und Heimbewohner festgelegt. Der Vermögensfreibetrag wurde für Einzelpersonen auf CHF 37 500 und für Ehepaare auf CHF 60 000 erhöht. Der Freibetrag für Besitzer einer selbstbewohnten Liegenschaft wurde auf CHF 112 500 (bereits seit 01.01.2008 in Kraft) und derjenige für Ehepaare, die eine Liegenschaft besitzen und ein Ehegatte in der Liegenschaft wohnt und der andere Ehegatte in einem Pflegeheim lebt oder eine der beiden Ehegatten eine Hilflosenentschädigung für zuhause lebende Personen erhält, auf CHF 300 000 erhöht.

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Fr. 140.00 Fr. 21.80 Fr. 54.60 Fr. 63.60 Fr. 15.95 Fr. 47.65

Neu können bei entsprechenden Voraussetzungen an zuhause lebende AHV-Renterinnen und –Rentner eine Hilflosenentschädigung leichten Grades ausgerichtet werden, die allerdings bei Eintritt in ein Pflegeheim wieder gestrichen wird.

Auswirkungen durch die Neuordnung der Pflegefinanzierung Mit der Limitierung der Pflegekosten und den Entlastungen im Bereich der Ergänzungsleistungen profitieren vor allem Heimbewohnerinnen und -bewohner. Teurer wird es hingegen für SpitexKlienten, die sich bisher nur im Rahmen

von Franchise und Selbstbehalt ihrer Krankenversicherung an den Pflegekosten beteiligen mussten. Nach der neuen Verordnung soll ein genereller Beitrag von maximal ca. CHF 16.00 pro Stunde hinzukommen. Enorme Mehrausgaben müssen von den Gemeinden und Kantone aufgebracht werden. Die Kostenschätzungen gehen für den KVG-Teil von gesamtschweizerisch rund CHF 350 Millionen aus und auch bei den Ergänzungsleistungen muss mit rund CHF 400 Millionen Mehrkosen gerechnet werden, welche die Steuerzahler auf Stufe Bund, Kanton und Gemeinden tragen müssen. Ob die neue Regelung allerdings per 1.Juli 2010 in Kraft tritt, ist noch nicht sicher. Andreas Dummermuth, Geschäftsleiter der Ausgleichskasse/IVStelle Schwyz, hat in einer Publikation (1) festgehalten, dass das Bundesparlament nur ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Neuen Finanzausgleiches (NFA) politisch gegen den Grundsatz „Wer befiehlt, zahlt“ verstossen hat. Das Bundesparlament habe Sozialpolitik zu Lasten der Kantone gemacht. Drastischer wird der Unmut teilweise von den Kantonen geäussert. So wird das Vorgehen des Bundesrates vom Gesundheitsdirektor des Kantons Thurgau, Bernhard Koch, scharf kritisiert. Verärgert hält er fest, dass die Kantonsregierungen den Bundesrat mehrfach aufgefordert hätten, die neue Pflegefinanzierung erst auf 2011 oder mit der neuen Spitalfinanzierung auf 2012 einzuführen. Stattdessen habe der Bundesrat nun entschieden, die neuen Regeln per 1. Juli 2010 in Kraft zu setzen. Dies sei aus Zeitgründen für die Kantone nicht machbar. Nicht nur müssten die zu erwartenden Mehrausgaben im Budget berücksichtigt werden, sondern auch viele kantonale Gesetze und Verordnungen entsprechend geändert oder angepasst werden. Dies sei unter dem gegebenen Zeitdruck nicht umsetzbar. Die Konsequenz sei klar, sagt Koch. Der Regierungsrat werde sich weigern, das Bundesrecht im Thurgau vor dem 1.Januar 2011 anzuwenden. „Es ist eine Frechheit, dass der Bund so mit den Kantonen umspringt.“ Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren hat ebenfalls klargestellt, dass sie den Kantonen empfehlen wird, den Vollzug ein Jahr lang zu verweigern. Zugleich will


der Kanton laut Koch versuchen, Bundesparlamentarier zu gewinnen. Diese könnten direkt im Gesetz festschreiben, dass es erst ab 2011 oder 2012 gelten soll. Martin Waser, Vorsteher des Sozialdepartementes der Stadt Zürich, hat anlässlich der Frühlingskonferenz der Städteinitiative Sozialpolitik vom 15. Mai 2009 in einem Referat (2) u.a. folgendes ausgeführt: „Ungehalten bin ich bezüglich des politischen Werdeganges zur Neuordnung der Pflegefinanzierung. Zunächst kann man sich fragen, ob eine neue Pflegefinanzierung überhaupt nötig war: Man kann dafür sein, dass das Grossrisiko Pflege, das nur rund zur Hälfte durch die Krankenkassen gedeckt ist, durch eine zusätzliche Leistung, den jetzt beschlossenen Pflegebeitrag mit abgedeckt wird. Man kann aber auch die Haltung haben, dass nach der NFA-bedingten Totalrevision des Ergänzungsleistungsgesetzes dieses Risiko genügend abgedeckt ist. Das Risiko, pflegebedürftig und sozialhilfeabhängig zu werden, besteht nicht mehr. In einer Zeit wie heute können diese neuen Pflegebeiträge eigentlich nur noch als wünschbar, aber nicht zwingend als notwendig taxiert werden. Problematisch scheint mir, dass die neuen Pflegebeiträge der Erbenschonung dienen können und dies in einer erbschafts- und schenkungssteuerlosen Gegenwart.

Wie gesagt, man kann für oder gegen die neuen Pflegebeiträge sein. Was aber unter gar keinen Umständen angeht, ist, dass die politische Entscheidungsfindung – einmal mehr – ohne Einbezug der dritten Staatsebene, der Städte und Gemeinden, stattgefunden hat. Was die Angelegenheit noch weiter verschlimmert: in der neuen Gesetzgebung ist festgehalten, dass die Krankenkassenleistungen schweizweit einheitlich sein werden. Die Pflegekosten, die sich bekanntlich in erster Linie aus Lohn- und Investitionskosten zusammensetzen, sollen also im Bleniotal gleich hoch sein wie beispielweise in der Stadt Zürich? Eine Tatsache, die uns in Zürich wiederum mehrere Millionen Franken Mehrkosten verursachen wird. Ich muss es deutlich sagen: ich bin nicht bereit, eine solche Politik weiter zu akzeptieren! Wir dürfen die Suppe auslöffeln, beim Kochen muss ich abseits stehen. Ich bin zwar selbst kein Anhänger vom Appell „Wer zahlt befiehlt“, aber in diesem Fall kam offensichtlich ein anderes Prinzip zur Anwendung: „Der eine entscheidet, der andere bezahlt“. Das stösst mir sauer, sehr sauer auf!“ Kritik am Verhalten der Kantone kommt z.B. von der Santésuisse, dem Dachverband der Krankenversicherer. Sie moniert, dass es den Kantonen nur darum gehe, die Mehrkosten für 2010 zu vermeiden. Diese Kritik kann schon als dreist und unverschämt bezeichnet werden, denn ausgerechnet die Santésu-

isse und ihre Mitglieder weigern sich seit Einführung des KVG kategorisch und bis heute mit Erfolg gegen die Übernahme der gesamten Pflegekosten, wie es im Krankenversicherungsgesetz unmissverständlich festgelegt war (KVG Art.25 Abs.1 und 2a sowie Art. 7 der KLV). Sie argumentierten damit, dass eine solche Leistungspflicht Mehrkosten von ca. einer Milliarde verursachen und dies zu einem Prämienschub von ca. 10% führen würde. Die Behauptung der Santésuisse, dass die Pflegekosten in den Pflegeheimen permanent gestiegen sind, ist eindeutig zu relativieren. Gemäss Statistik der Santésuisse (3) ist der Anteil der Spitex an den gesamten Leistungen der Krankenversicherer zwischen den Jahren 1999 – 2002 von 1.5% auf 1.6% und derjenige der Pflegeheime von 7.7% auf 8.4% gestiegen. Daneben ist eindeutig klar und erwiesen, dass die Kosten in den Spitälern, die Zunahme der Spezialärzte und die Medikamentenpreise mehrheitlich die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen verursachen. Da Reformen kostensenkender Art in diesen Bereichen tiefgreifend und von struktureller Natur wären, sind sie politisch ein „heisses Eisen“ und werden nur zögerlich oder überhaupt nicht angegangen. Das wurde bis heute erfolgreich von der Gesundheitslobby in den beiden Räten verhindert und abgeblockt. Dass die Santésuisse bei der Umsetzung der Pflegefinanzierung so aufs Tempo drückt, ist insofern verständlich, denn sie verweist u.a. auf die rechtlich heikle Situation beim Tarifschutz: Dieses Instrument hat die Krankenkassenleistungen auf fixe Beträge je nach Pflegebedürftigkeit beschränkt, ist aber Ende 2008 ausgelaufen. Bei der Umsetzung der neuen Pflegefinanzierung per 1. Januar 2011 gäbe es das 15-Jahr-Jubiläum des Krankenversicherungsgesetzes, das einst die Übernahme aller Leistungen in der Grundpflege versprach, zu feiern.

Ausblick „Wenn niemand ganz glücklich ist, aber auch niemand ganz unglücklich, wurde eine typisch schweizerische Lösung gefunden. Das haben wir offensichtlich auch bei der Revision der Pflegefinan4.09 / soziale medizin

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Angesichts der demographischen Entwicklung in der Schweiz muss damit gerechnet werden, dass im Jahre 2030 voraussichtlich ein Viertel der Bevölkerung älter als 65 Jahre sein wird.

zierung geschafft.“ Mit diesen Worten beginnt Stéphanie Mörikofer-Zwez, Präsidentin des Spitex Verbandes Schweiz, ihre Stellungnahme zur neuen Pflegefinanzierung (4). Ein jahrelanger gesetzwidriger Zustand wurde nun legalisiert, aber es bleibt ein fahler Nachgeschmack zurück, denn die Versprechungen im Hinblick auf die Abstimmung über das Krankenversicherungsgesetz, dass die vollen Pflegekosten im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung übernommen und abgegolten werden, wurden nie eingehalten bzw. umgesetzt. Schon im Zusammenhang mit dem Neuen Finanzausgleich (NFA) kamen auf einige Kantone Mehrbelastungen zu. Nun müssen wegen der beschlossenen Neuordnung der Pflegefinanzierung praktisch alle Kantone, Städte und Gemeinden mit teils happigen Mehrbelastungen rechnen. Ange-

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sichts der demographischen Entwicklung in der Schweiz muss damit gerechnet werden, dass im Jahre 2030 voraussichtlich ein Viertel der Bevölkerung älter als 65 Jahre sein wird. Der grösste Zuwachs ist bei den Hochaltrigen über 80 Jahre zu erwarten: Ihre Zahl wird sich von heute 300’000 Personen bis ins Jahr 2030 mehr als verdoppeln (5). In dieser Altersgruppe besteht auch das höchste Risiko, pflegebedürftig zu werden. Somit ist mit einer spürbaren Mengenausweitung zu rechnen, welche sowohl die Kosten im ambulanten (Spitex) wie auch im stationären Bereich (Pflegeheim) steigen lassen wird. Es wird sich dann zeigen, ob die jetzige Regelung der Pflegefinanzierung diesen Kostenschub noch finanzieren kann. Vielmehr ist damit zu rechnen, das entweder Leistungen gekürzt bzw. die Selbstbeteiligung der Betroffenen wieder steigen wird.

In der Sommersession 2009 hat SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi die Einführung einer von der Krankenversicherung separierten Pflegeversicherung gefordert. Die Fachverbände und der Nationalrat lehnten die Forderung ohne weitere Diskussion ab. Früher oder später wird diese Forderung aber wieder aktuell werden. In Deutschland wurde schon 1995 mit dem „Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“ ein eigener Sozialversicherungszweig eingeführt. Diese Pflegeversicherung hat zwar auch ihre Tücken und Mängel, aber sie zahlt z. B. Beiträge für zwei wichtige Bereiche, die in der Schweiz noch sehr stiefmütterlich bis ungenügend abgegolten werden: 1. Eine finanzielle Abgeltung pflegerischer Leistungen nicht nur von PflegeFachpersonen sondern auch von Angehörigen und Nachbarn, welche pflegebedürftige Personen zu Hause betreuen. Bis heute ist der Kanton Basel-Stadt der einzige Kanton in der Schweiz, zusammen mit einigen Gemeinden, welcher bereits seit 1976 Pflegebeiträge an Angehörige und Nachbarn auf der Basis eines vom Regierungsrat beschlossenen Kredites gewährt. 2. Eine finanzielle Abgeltung für die Betreuung demenzkranker Personen Die bekannten Bedarfsabklärungsinstrumente (RAI/RUG; BESA; Plaisier etc.) bilden die zeitintensiven Betreuungsmassnahmen von demenzkranken Personen nur ungenügend ab, da sie primär auf funktionale Pflege ausgerichtet sind. Es darf mit Spannung erwartet werden, wie sich die Neuordnung der Pflegefinanzierung in der Praxis bewährt und welche Anpassungen früher oder später vorgenommen werden müssen. Quellen: (1) Ausgleichskasse/IV-Stelle Schwyz – Hintergrundinformation 5/2009 (2) „Wer soll das bezahlen? Soziale Sicherheit nachhaltig finanzieren“ (3) Datenpool vom 04.07.2003 (4) siehe unter www.spitexsg.ch/aktuell/newsletter (5) Allianz-Versicherung - Demografieprofil Schweiz, Teil 1 – siehe http://knowledge.allianz.de


dossier • pflege

«Bei uns muss man ein gewisses Chaos ertragen können.» Gesprächsrunde über Übergriffe in Pflegesituationen

Übergriffe von Pflegepersonal auf HeimbewohnerInnen erregen immer wieder Aufsehen. Es sei nur an den Fall Entlisberg erinnert, der in Zürich kürzlich vor Gericht verhandelt wurde. Dass Übergriffe in Pflegesituationen ein vielschichtiges Problem sind, und dass auch Pflegebedürftige gegenüber dem Personal aggressiv werden, wird hingegen kaum wahrgenommen. Gesprächsleitung und redaktionelle Bearbeitung: Ruedi Spöndlin

Hansrudolf Schaller: Was ist ihre Motivation zur Durchführung dieser Gesprächsrunde? Ruedi Spöndlin: Der ehemalige Nationalrat Remo Gysin hat an unserer Generalversammlung vorgeschlagen, das Thema in der Sozialen Medizin zu behandeln. Und er hat auch empfohlen, dazu mit Frau Dubler Kontakt aufzunehmen, da sie sich intensiv damit beschäftigt habe. Sie, Herr Schaller, habe ich angefragt, weil mich Ihr Artikel über Übergriffe in sozialen Institutionen in unserer Ausgabe 2.09 sehr beeindruckt hat. Regine Dubler: Remo Gysin hat die Aggressionen einer Heimbewohnerin eben hautnah erlebt. Er besuchte als Vertreter der Grauen Panther das Dandelion. Da ist er von einer Bewohnerin mit dem Stock bedroht und beschimpft worden. Sie fühlte sich durch den Besuch gestört. Dieses Erlebnis hat Remo Gysin offenbar dafür sensibilisiert, dass Aggressionen von HeimbewohnerInnen gegen das Pflegepersonal an der Tagesordnung sind. In der Öffentlichkeit redet man ja immer nur vom umgekehrten Fall, von Übergriffen der Pflegenden gegen Heimbewohner. Spöndlin: Hat sich Remo Gysin gegenüber der Frau ungeschickt verhalten? Dubler: Nein, überhaupt nicht. Die betreffende Frau befand sich in einer Phase der Demenz, in der sie sich ausserordentlich stark gegen ihre Lebensumstände wehrte. In ihren Augen war sie von ihrem Ehemann in unserem Heim

„parkiert“ worden. Mit ihren Aggressionen wollte sie zeigen, dass sie nicht da bleiben wollte. Da Remo Gysin gerade da war, als sie sich Entlastung verschaffen musste, traf es eben ihn. Spöndlin: Von der Körperkraft her sind die Pflegenden den betagten HeimbewohnerInnen zweifellos überlegen. Somit sind sie wohl nicht der Gefahr ernsthafter Verletzungen ausgesetzt? Schaller: Da täuschen Sie sich. Wir hatten in unserem Alterszentrum dieses Jahr drei Betriebsunfälle mit Verletzungen, die von HeimbewohnerInnen verursacht worden waren.

GesprächspartnerInnen: Regine Dubler, Dr. iur., Master in angewandter Ethik, Leiterin des Pflegezentrums Dandelion für demenzkranke Menschen in Basel Ruth Mascarin, Dr. med., Hausärztin in Basel, Redaktionsgruppe Soziale Medizin Hansrudolf Schaller, Pflegefachmann HF, Leiter Betreuung und Pflege, Organisationsberater in systemischer Organisationsentwicklung, NDS FH. Leiter Pflege und Betreuung im Alterszentrum Bruderholz in Basel, das spezialisiert ist auf verhaltensauffällige und stark demente Menschen, welche intensive psychogeriatrische Betreuung und Pflege benötigen

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dossier • pflege

Dubler: Dass demenzkranke HeimbewohnerInnen den Pflegenden körperlich unterlegen sind, trifft nicht in jedem Fall zu. Gewisse entwickeln enorme Kräfte. Zudem dürfen die Pflegenden ja nicht mit körperlicher Gewalt auf Gewaltausbrüche von HeimbewohnerInnen reagieren. Etwas zugespitzt ausgedrückt: Sie dürfen höchstens ausweichen, sich aber nicht körperlich wehren. Spöndlin: Sind Übergriffe gegen die Pflegenden häufiger als der umgekehrte Fall, wie etwa im Fall Entlisberg? Schaller: In meiner Institution erlebe ich Übergriffe gegen Pflegende tatsächlich als alltäglich. Ich denke allerdings, das ist keine Spezialität der Heimsituation. Gewalt ist in unserer ganzen Gesellschaft verbreitet. In unseren Heimen befinden wir uns sozusagen in einer künstlichen Lebenssituation. Da sind verschiedenste Leute zusammengewürfelt, die wenigsten sind wirklich freiwillig da. Da ist natürlich ein gewisses Aggressionspotenzial vorhanden. Dubler: Wenn Menschen in unser Heim eintreten, beobachten wir oftmals aggressives Verhalten. Wir erleben beispielsweise, dass sie und ihr Lebenspart-

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ner auf eine Art miteinander miteinander „kifeln“, die man fast nicht aushält. Diese bestehenden Konflikte werden ins Heim getragen. Damit müssen wir umgehen, indem wir auf die Ängste der neu eintretenden HeimbewohnerInnen eingehen und ihnen einen Rahmen bieten, der Sicherheit vermittelt. Aber auch das Personal müssen wir zum Umgang mit solchen Konflikten befähigen und vor Aggressionen schützen. Umgekehrt sind pflegebedürftige Betagte oft auch Opfer von Gewalt. Bei einer Literaturrecherche habe ich festgestellt, dass 5 – 10 Prozent aller Betagten irgendeiner Form von Gewalt ausgeliefert sein sollen. Dabei stellt sich die Frage, was ist überhaupt Gewalt? Es gibt sehr subtile Formen von Aggression, die man kaum als solche wahrnimmt. Aggressionen werden auch tabuisiert. Sie dürfen nicht vorkommen, deshalb weigert man sich, sie wahrzunehmen. Und das ist dann der Nährboden für Gewaltausbrüche, die nicht toleriert werden können. Spöndlin: In welcher Form üben Pflegende Gewalt gegen HeimbewohnerInnen aus? Dubler: Massive Brachialgewalt ist selten. Was vorkommt ist, einen Heim-

bewohner oder eine Heimbewohnerin in den Stuhl zu drücken und zu sagen: „So, jetzt bleiben Sie mal sitzen.“ Oder jemandem das Essen unsensibel einzugeben. Die Grenze zur Gewalt ist fliessend und den Beteiligten nicht immer bewusst. Schaller: Auch die Kommunikation mit einem Heimbewohner abzubrechen, ist eine Form von Gewalt, oder der Entzug von Zuwendung, ein leichtes Schubsen. Das sind die Übergriffe, die in der Realität am häufigsten vorkommen und schwer zu erkennen sind. Ruth Mascarin: Oder jemandem längere Zeit auf dem WC sitzen zu lassen, der nicht mehr selbst aufstehen kann. Spöndlin: Manchmal ist es aber wohl auch unumgänglich, jemanden auf dem WC sitzen oder die Kommunikation abbrechen zu lassen? Etwa wenn anderswo dringend Not am Mann oder an der Frau ist? Dubler: Das kann es geben, darf aber nicht die Regel sein. Dann sollte

Fortsetzung auf Seite 41


November 2009

SGSPINFOSSPS

Schweizerische Gesellschaft für Sozialpsychiatrie (SGSP)  Société Suisse de Psychiatrie Sociale (SSPS)  Società Svizzera di Psichiatria Sociale (SSPS)

Liebe Leserin, Lieber Leser

Chère lectrice, cher lecteur

Care lettrici, cari lettori,

Thema dieser INFO-Nummer ist “Interdisziplinarität: ein erreichtes Ziel? Kommunizieren wir in derselben Sprache?“ Vielleicht denkt nun der Eine oder die Andere dies sei heutzutage kaum mehr als eine rhetorische Frage, beim Lesen der verschiedenen Beiträge wurde jedoch schnell klar, wie wichtig es ist sich immer wieder einmal Gedanken zu machen über anscheinende Selbstverständlichkeiten. So beschreibt Y. Lüdi in ihrem Beitrag, wie mit interdisziplinäre arbeiten vor allem der Austausch mit externen Fachleuten und Handwerkern, Buchhaltern etc. gemeint wurde. Die Arbeit im multiprofessionalen Team hingegen fiel nicht unter diesen Begriff. Der Einbezug der Patientin, des Patienten und der Angehörigen wird ebenfalls als Teil der interdisziplinären Arbeit gesehen. Kurzum, Interdisziplinarität ist ein Begriff, der laufend neu definiert wird. Gea Besso weist den auch in ihrem Artikel auf die Wichtigkeit hin, dass die Mitglieder eines Teams eine gemeinsame Definition des Begriffs suchen und allenfalls Weiterbildung zur interdisziplinären Arbeit anstreben. Bei der Interdisziplinarität geht es um die berufsspezifische Sprache. Jede

Ce numéro de l’INFO est consacré au thème «L’interdisciplinarité, un objectif atteint ? Parlons-nous la même langue?» Il se peut que l’un(e) ou l’autre d’entre vous estime qu’à l’heure actuelle cette question ne va plus au-delà d’une formulation purement rhétorique. La lecture des différentes contributions nous convainc de l’importance d’une évaluation régulière de certaines évidences apparentes. Ainsi, Y.Lüdi décrit dans son article comment le travail interdisciplinaire est davantage perçu comme un échange avec des professionnels et des prestataires externes, des comptables, etc…Par contre, le travail au sein d’une équipe multi-professionnelle n’est pas inclus dans ce concept. La participation des patients et des proches est vu également comme un aspect du travail interdisciplinaire. Bref, l’interdisciplinarité est un concept continuellement redéfini. Gea Besso évoque elle aussi l’importance pour les membres d’une équipe de rechercher une définition commune de ce concept et d’aspirer à une formation permanente au travail interdisciplinaire. En matière d’interdisciplinarité, il est question de langues professionnelles spécifiques. Chaque groupe profession-

Questo numero di INFO é dedicato al tema “l’interdisciplinarietà, un obbiettivo raggiunto? Ci esprimiamo nella stessa lingua?” Probabilmente alcuni di voi potrebbero pensare che oggi una domanda formulata così sia piuttosto retorica. La lettura dei diversi contributi giunti in redazione ci convince peraltro della validità di un approfondimento a scadenza regolare di certi concetti che ci sembrano apparentemente evidenti nel loro significato. Y.Lüdi descrive nel suo articolo come il lavoro interdisciplinare sia perlopiù concepito come uno scambio con professionisti e prestatari esterni mentre meno considerato nel concetto é il lavoro multiprofessionale in un’équipe. La partecipazione dei pazienti e dei loro prossimi è vista come un aspetto proprio del lavoro interdisciplinare. In breve possiamo vedere come il concetto d’interdisciplinarietà sia in realtà oggetto di continua ridefinizione. Gea Besso nel suo articolo evoca l’importanza per i membri di un’équipe di trovare in quest’ambito definizioni condivise nonché l’auspicio di una formazione permanente al lavoro interdisciplinare. Quando si parla d’interdisciplinarietà bisogna affrontare il tema del lin-

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27  Editorial (Ruth Waldvogel) 29  Merci beaucoup, Fran¢ois (Christian Monnay)       30  Sozialarbeit und Medizin - ein ungleiches Paar (Thomas Flick)

32 Rete reale e rete ideale (Gea Besso)

37 L‘art de la communication réciproque (Carlos León)

34 Revolving door: Opportunita‘ o fallimen to? (Carlo Mandelli)

39 Bericht aus dem Zentralvorstand 39  Rapport du comité central 39  Rapporto del comitato centrale

36 Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Gespräch (Y. Lüdi, F. Baumann, E. Steffen) 4.09 / soziale medizin

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Berufsgruppe hat ihre je eigene Sprache und ihren spezifischen Fokus mit dem sie eine Aufgabe angeht. Ein auf den ersten Blick allgemein verständlicher Begriff wie etwa Therapie steht je nach Herkunft für etwas anderes, reden wir nun von medikamentöser Therapie, von Soziotherapie oder von Psychotherapie? Interdisziplinär arbeiten heisst daher zuerst einmal zuhören, nachfragen und sich selber reflektieren um die Kolleginnen und Kollegen im Team zu verstehen. Doch Sprache ist nicht nur berufsspezifisch, oft geht es um die Sprache im eigentlichen Sinn. Bereits an der Redaktionssitzung trafen wir auf erste Probleme. In der italienischen Version benutzten wir den Ausdruck „Linguaggio“, was neben Sprache im Sinne von Landes- oder Muttersprache unter anderem auch Ausdrucksweise, Ausdrucksart, Redeweise bedeutet. Auch die Beiträge dieses INFOs sind in drei Landessprachen, für viele Lesende also nur bedingt zugänglich. Auch im Arbeits-Alltag sind wir heute oft verschiedenen Sprachen zu tun und dies nicht nur bei den Patienten und Patientinnen, auch viele Teammitglieder haben einen anderen kulturellen und sprachlichen Hintergrund. In diesem INFO legen wir das Augenmerk vor allem auf die berufsbedingten unterschiedlichen Betrachtungsweisen des Geschehens in der Institution. Was hilft uns bei der Verständigung zwischen den Berufsgruppen, wo entstehen häufig Konflikte etc. Die Arbeit in interdisziplinären Teams kann sehr anregend sein und helfen die Patienten und Patientinnen und ihre spezifische Situation besser zu verstehen. Die Sichtweise der Anderen kann neue Erkenntnisse bezüglich der Behandlung und der eigenen Sichtweise bringen wenn wir eine gemeinsame Sprache finden und benutzen. Ruth Waldvogel

nel a son propre langage et son propre angle d’approche pour réaliser sa mission. Une notion comme, par exemple la thérapie, au premier coup d’œil communément compréhensible, représente selon son origine des choses très différentes, selon qu’on parle de thérapie médicamenteuse, de sociothérapie ou de psychothérapie. Interdisciplinarité signifie donc écouter, questionner l’autre et s’interroger soi-même pour comprendre les collègues d’une équipe. La question de la langue ne renvoie toutefois pas uniquement à une spécificité professionnelle. Souvent, il s’agit de la langue au sens propre du terme. Au sein du comité de rédaction, nous avons rencontré les premières difficultés à ce propos. Dans l’interprétation italienne, par exemple, on emploie l’expression «Linguaggio», pour désigner en plus de la langue au sens d’une langue nationale ou maternelle des formes d’expression, des dialectes, des manières de s’exprimer. Les articles d’INFO sont eux aussi rédigés dans trois langues nationales, ce qui rend leur accès limité pour de nombreux lecteurs. Dans notre quotidien professionnel, nous avons également affaire à des langues très variées et pas uniquement dans nos relations avec des patients. Les membres d’une même équipe ont souvent chacun un autre arrière-plan culturel et linguistique très différent. Dans ce numéro, nous fixons notre attention surtout sur la manière dont les différents regards sur la réalité d’une institution sont conditionnés par des appartenances professionnelles. Qu’est-ce qui nous aide dans la compréhension mutuelle entre divers groupes professionnels ? Où naissent la plupart des conflits, etc.? Le travail en équipes interdisciplinaires peut s’avérer très stimulant et il contribue à mieux comprendre les patients et leurs situations particulières. Les points de vue des autres amènent de nouvelles prises de conscience quant au traitement mais aussi sur ses propres points de vue, à condition de trouver et d’utiliser une langue commune. Ruth Waldvogel

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guaggio specifico ad ogni professione. Ogni categoria professionale possiede un proprio linguaggio e ha una visione sua propria nell’affrontare il suo mandato. Se prendiamo per esempio la nozione all’apparenza semplice e comprensibile di “terapia”, questa può avere accenti molto diversi a seconda che si intenda terapia farmacologica, socioterapia o psicoterapia. Interdisciplinarietà significa in effetti ascoltare,domandare e domandarsi per capirsi con i colleghi dell’équipe. La questione della lingua non ci rimanda solo all’ambito specificamente professionale. Spesso si tratta della lingua nel suo significato più stretto. Nel comitato di redazione abbiamo, a questo proposito,incontrato alcune difficoltà : in italiano ,per esempio, il termine “linguaggio” rimanda a significati ulteriori(rispetto alla parola “lingua” utilizzata piuttosto per designare quella materna o nazionale), connotando piuttosto il modo di esprimersi delle persone. Gli articoli dell’INFO sono scritti nelle tre lingue nazionali e questo fatto ne limita l’accesso a numerosi dei nostri lettori. Nel quotidiano della nostra professione, infine, abbiamo perlopiù a che fare con lingue e linguaggi differenti e questo non soltanto nella relazione con i pazienti. I membri di un’équipe hanno spesso differenti origini culturali e lingue madri. In questo numero di INFO la nostra attenzione si concentra sul modo in cui in ambito professionale i diversi sguardi dei professionisti implicati condizionano la realtà istituzionale. Che cosa permette di facilitare la comunicazione e la comprensione reciproca fra persone appartenenti ai diversi gruppi professionali?Da dove partono problemi e conflitti? Il lavoro in équipe interdisciplinare può essere molto stimolante e aiutarci a comprendere meglio i pazienti nelle loro particolari situazioni. I punti di vista degli altri ci permettono,quando riusciamo a trovare linguaggi condivisi, di prendere coscienza di altri aspetti relativi alla cura e al nostro proprio punto di vista. Ruth Waldvogel


cours des ces quatre années. Nous lui souhaitons une agréable et longue retraite, comme nous le connaissons, certainement très active. Au nom du Comité Central de la SSPS Dr Christian Monney, vice-président

Herzlichen Dank, François

Merci beaucoup, François Si la Société Suisse de Psychiatrie Sociale a officiellement pris congé du Professeur François Ferrero dans sa qualité de Président central de la SSPS lors de son assemblée générale du 4 septembre dernier à Genève devant une quarantaine de personnes, nous ne voulions pas manquer l’occasion de ce bulletin Info pour le remercier devant un plus large public. Prenant la succession du Professeur Hans Brenner qui nous quittait, ainsi que ses charges institutionnelles et universitaires en grande partie pour des raisons de santé il y a quatre ans, le Professeur François Ferrero a repris la présidence d’une société qui traversait des difficultés structurelles et contextuelles importantes liées tant au climat politico-économique qu’institutionnel dans nos diverses régions linguistiques. Nous nous trouvions découragés et fatigués devant tant de luttes. Il a su nous remotiver de façon admirable, stimulant les forces et les ressources du comité central et des sections en apportant un vent fédérateur lié bien sûr à sa personnalité mais également en se faisant le porteparole francophone de problématiques moins présentes à l’esprit des collègues d’Outre-Sarine. Il a ainsi redonné un élan à toute notre société par son intérêt

et ses travaux lié à la paupérisation en particulier de nos patients souvent encore stigmatisés par certains discours politiques. Le fait que sous son impulsion les séances du comité central soient davantage conduites en français a également participé d’une nouvelle dynamique très enrichissante pour tous, ceci dans un esprit de convivialité, d’ouverture et de partenariat apprécié et relevé par l’ensemble des membres du comité. Jusqu’à la fin de son mandat de président il nous a donné le maximum, nous offrant comme cerise sur le gâteau la possibilité puis la réussite appréciée tant par les aspects scientifiques que par les multiples échanges qu’il a permis, d’un congrès national conjoint Société Suisse de Psychiatrie et Psychothérapie – Société Suisse de Psychiatrie Sociale du 2 au 4 septembre dernier à Genève, ceci juste 10 ans après la précédente expérience commune, alors en Valais pour le centenaire de Malévoz. Nous ne pouvons évidemment pas être exhaustifs ni complets dans l’espace qui nous est laissé, mais nous tenions à remercier le Professeur François Ferrero très chaleureusement pour tout ce qu’il a apporté à la SSPS et qu’il a partagé avec les membres du comité au

Die Schweizerische Gesellschaft für Sozialpsychiatrie hat sich an ihrer Generalversammlung vom 4. September 2009 in Genf offiziell von ihrem Präsidenten Professor François Ferrero in Anwesenheit von gut 40 Leuten verabschiedet. Wir möchten jedoch die Gelegenheit nicht verpassen, ihm in diesem INFO vor einem breiteren Publikum zu danken. Nachdem Professor Hans Brenner vor vier Jahren hauptsächlich aus gesundheitlichen Gründen sein Amt als Präsident und seine Aufgaben in der Klinik und an der Universität abgab, hat Professor François Ferrero seine Nachfolge in einer Zeit angetreten, als die Gesellschaft in gewichtigen strukturellen und konzeptionellen Schwierigkeiten war. Grund dafür war sowohl das politisch-ökonomische als auch das institutionelle Klima in den verschiedenen Sprachregionen. Wir waren durch die vielen Kämpfe entmutigt und müde. Professor François Ferrero hat uns in einer bewundernswerten Art wieder motiviert, die Kräfte und Ressourcen des Zentralvorstandes und der Sektionen stimuliert, indem er durch seine Persönlichkeit, aber auch als welscher Fürsprecher einer Problematik, die den Kollegen auf der anderen Seite des „Röstigrabens“ wenig bekannt war, frischen Wind brachte. Er brachte der ganzen Gesellschaft neuen Elan durch seine Interessen und seine Arbeit bezüglich der Verelendung namentlich unserer Patienten, die durch gewisse politische Beiträge noch zusätzlich stigmatisiert werden. Die Tatsache, dass durch seinen Impuls an den Sitzungen des Zentralvorstandes vermehrt Französisch gesprochen wurde hat ebenfalls zu einer neuen Dynamik geführt, die für alle bereichernd war. Die dabei offene und partnerschaftliche Atmosphäre wurde soziale 4.05 4.09 /medizin soziale medizin

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vom ganzen Vorstand sehr geschätzt. Bis zum Ende seines Mandates als Präsident hat er uns sein Bestes gegeben. Als krönenden Abschluss bot er uns einen erfolgreichen, gemeinsamen nationalen Kongress mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 2. – 4. September in Genf, der sowohl in Bezug auf seine wissenschaftlichen Aspekte, als auch wegen der vielen Austauschmöglichkeiten viel Echo fand. Dies genau 10 Jahre nach einem früheren gemeinsamen Experiment, damals im Wallis, anlässlich der 100-Jahr-Feier von Malévoz. Der uns zur Verfügung stehende Raum lässt leider keine vollständige Auflistung der Arbeit von Professor François Ferrero zu, aber wir möchten ganz herzlich danken für alles, was er im Laufe der letzten vier Jahre der SGSP gebracht und mit den Vorstandsmitgliedern geteilt hat. Wir wünschen ihm einen angenehmen und langen Ruhestand, und- wie wir ihn kennen - sicher einen sehr aktiven.

sezioni.In quanto portavoce della componente francofona ha posto l’accento su problematiche precedentemente meno note ai colleghi «oltre-Sarine». La nostra società con il suo contributo ha trovato nuovo slancio dedicandosi a temi al centro del suo interesse e lavoro come quello della depauperizzazione delle risorse dei nostri pazienti tuttora vittime di stigmatizzazione in certi discorsi politici. Le sedute di Comitato Centrale con la sua presenza hanno visto un maggior utilizzo della lingua francese contribuendo all’instaurarsi di una nuova dinamica comunicativa caratterizzata da uno spirito d’apertura,di convivialità e di partenariato che é stata arricchente e molto apprezzata da tutti i membri del Comitato. Il Prof Ferrero fino alla fine del suo mandato ha voluto dare il massimo offrendoci, come «ciliegina sulla torta»,un congresso nazionale organizzato congiuntamente dalla Società Svizzera di Psi-

chiatria e Psicoterapia e dalla Società Svizzera di Psichiatria Sociale a Ginevra dal 2 al 4 settembre scorso. Questo convegno, a dieci anni dall’ultima esperienza comune avvenuta in Vallese in occasione del centenario di Malévoz, é pienamente riuscito ed é stato apprezzato sia per gli aspetti scientifici che per la possibilità di multiplo scambio. Non possiamo essere in questo spazio limitato esaurienti ed esaustivi ma vogliamo ringraziare di cuore il Prof. Ferrero per tutto quello che ha fatto per l’SSPS e che ha voluto condividere con i membri del Comitato in questi quattro anni. Gli auguriamo un pensionamento lungo e gradevole che immaginiamo,conoscendolo,sarà senz’altro molto attivo. In nome del Comitato Centrale dell’SSPS Dr. med. Christian Monney, vice-presidente

Für den Zentral-Vorstand der SGSP Dr. Christian Monney, Vizepräsident

Tante grazie, François La Società Svizzera di Psichiatria Sociale si é congedata ufficialmente dal suo Presidente Centrale Prof.François Ferrero nel corso dell’Assemblea generale del 4 settembre scorso a Ginevra davanti a una quarantina di persone. Con queste righe sull’INFO vogliamo ringraziarlo ancora davanti alla più vasta platea dei nostri lettori. Il Prof. Francois Ferrero quattro anni fa nel prendere la presidenza si trovava di fronte a una società con difficoltà strutturali e di contesto legate al particolare clima economico e politico e alle realtà istituzionali delle diverse regioni linguistiche. Il Prof Hans Brenner ci aveva appena lasciato essenzialmente per problemi di salute che lo portavano a rinunciare anche alle altre sue cariche istituzionali e universitarie.Eravamo scoraggiati e stanchi di fronte a tante sfide.Il nostro Presidente facendo leva sulla sua personalità ha saputo rimotivarci e con un approccio federalista ha in modo encomiabile valorizzato forze e risorse del Comitato centrale e delle

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Sozialarbeit und Medizin, ein ungleiches Paar bei gleichem Klientel Der Artikel entstand nach einem Workshop, den der Autor zusammen mit Frau Claudia Jeger-Bernhard, Sozialarbeiterin, am SGSP-SGPP-Kongress im September 2009 in Genf anbot.

tion, Hilfe im Kontakt zu Ämtern, Behörden, Gesuchstellungen an Fonds, Triage bei Rechtsfragen, Vermittlung von Wohn- und Arbeitsplätzen, allgemein Sachhilfe und vieles mehr.

Was Sozialarbeit ist, muss in einem SGSP-Info nicht erklärt werden. Vielleicht nur so viel. Gerade, was das gleiche Klientel betrifft: Viele Berufe definieren sich über Grenzen, der Arzt an der Grenze Krankheit – Gesundheit und die Sozialarbeit an der Grenze gesellschaftlicher Ausgrenzung – gesellschaftliche Teilhabe. An diesen verschiedenen Grenzen orientiert sich die jeweilige Arbeit am Patienten/Klienten, in eben interdisziplinärer Fruchtbarkeit. Konkret geht es in der sozialpsychiatrischen Sozialarbeit um Themen wie Hilfe bei der Alltagsbewältigung und Reintegra-

In sozialpsychiatrisch orientierten Institutionen ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit einigermassen geregelt, wogegen sie für niedergelassene Fachärzte weniger selbstverständlich und kaum strukturiert ist. So ist es für niedergelassene Fachärzte schwieriger, überhaupt an einen Sozialarbeiter, falls möglich, zu gelangen. Längst nicht alle ambulanten Dienste stellen ihren Sozialdienst nicht-institutionellen, niedergelassenen Psychiatern zu Verfügung (obwohl dies eigentlich eine fachlich gute Lösung wäre). Es gibt aber Alternativen: Pro Infirmis hat sich schweiz-


weit auch zu einer Beratungsinstitution für psychisch Behinderte gewandelt, verwiesen sei an die Caritas, Sozialdiakone der Kirchen. Hin und wieder bieten Sozialdienste mehr als nur wirtschaftliche Sozialarbeit (also meist Sozialhilfe), gegebenenfalls können aber auch Laien (Steuererklärung) oder auch der Einbezug von Rechtsanwälten sinnvoll sein; es sind mehr Patienten rechtsschutzversichert, als man denkt. Vielleicht kennt man ja auch noch aus den Institutionen, wo man früher gearbeitet hat, den einen oder anderen Sozialarbeiter, an den man sich im Sinne einer privaten Lösung wenden könnte, wobei solche im Rahmen des Tarmed nicht bezahlt werden. Bei seiner Entwicklung wurde ausschliesslich für institutionell arbeitende Sozialarbeiter eine Verrechnungsposition eingeführt, wogegen sich die Krankenkassen ursprünglich auch gewehrt hatten. Aber auch von sozialarbeiterischer Seite stellen sich Fragen im Kontakt mit niedergelassenen Ärzten. Wie motiviere ich Klienten überhaupt, zu einem Psychiater/Psychotherapeuten zu gehen? Wie ist mit dem Arztgeheimnis umzugehen, wo doch Zusammenarbeit und offener Austausch nötig wären? Auch gibt es noch immer Verständigungs- und (vermeintliche?) Statusprobleme zwischen Medizinern und Sozialarbeitern. Auch bezüglich dieser Fragen wurden in dem erwähnten Workshop Lösungen gesammelt: Wichtig ist Vernetzung statt Vorurteile. Eine der Berufsgruppen ist meist „Hauptbezugsperson“, aber Ärzte brauchen die Sacharbeit, Sozialarbeiter brauchen das medizinische psychiatrische Know-how. Eine Möglichkeit des Austausches sind auch lokale, interdisziplinäre Intervisionen. Grundsätzlich zu empfehlen ist ein Erstgespräch zu Dritt. So kann eine Auftragsklärung und die Arbeitsteilung auf den Weg gebracht werden, es entsteht ein persönlicher Kontakt. Das Problem des Arztgeheimnisses ist weitgehend gelöst, weil durch die Anwesenheit aller von einem mutmasslichen Einverständnis des Patienten zum Austausch von Informationen ausgegangen werden kann.

Einige Schwierigkeiten ergeben sich halt durch die Tatsache, dass Sozialarbeiter fast immer in Institutionen und Niedergelassene eben nicht in Institutionen arbeiten. Leider wird „niedergelassene Sozialarbeit“ von den Krankenkassen nicht bezahlt, andererseits kann der niedergelassene Arzt in Folge von Verrechnungsvorschriften, etwa einer

Winterthur, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis

Résumé

Riassunto

Cet article émane d’un atelier proposé par l’auteur en co-animation avec Mme Claudia Jeger-Bernhard, travailleuse sociale, lors du congrès SSPP-SSPS à Genève, en septembre 2009. Concrètement, le champ d’intervention du travail social en psychiatrie sociale s’y définit par des thèmes comme l’aide à la gestion de la vie quotidienne et à la réintégration, le conseil dans les relations avec l’administration et divers services publics ou privés, la recherche de fonds, la mise en évidence de questions juridiques, l’indication pour des places en hébergement ou des postes de travail, le traitement de questions diverses concernant la gestion d’un ménage ainsi que bien d’autres activités. De nombreuses professions se délimitent par des lieux-frontières, le médecin se situe ainsi sur l’axe « maladie-santé », tandis que l’axe « exclusion sociale-participation sociale » circonscrit le travail social.

Questo articolo deriva da un atelier proposto al congresso SSPP e SSPS di Ginevra 2009 dall’autore in co conduzione con Mme Claudia Jeger-Bernhard operatrice sociale. Concretamente il campo d’intervento relativo alla psichiatria sociale è relativo ad aspetti quali l’aiuto alla gestione della vita quotidiana,la reintegrazione,il sostegno nei rapporti con l’amministrazione e diversi altri servizi pubblici e privati,la ricerca di fondi,le questioni giuridiche,la valutazione di soluzioni abitative e lavorative e molte altre questioni più o meno quotidiane. Molte professioni delimitano il loro spazio all’interno di determinate frontiere:il medico si colloca così sull’asse” salute-malattia” mentre l’operatore sociale su quello “esclusione-partecipazione sociale”.

aufwändigen auswärtigen Helferkonferenz, nicht in dem Rahmen teilnehmen, wie er sich das vielleicht selber wünscht. Dr. med. Thomas Flick,

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Rete reale e rete ideale «Una lingua perfetta, nella quale ogni idea si potesse esprimere con un vocabolo proprio,risparmierebbe molte discussioni inutili, poiché, se ci fosse una parola propria per ogni singola idea,molti si troverebbero d’accordo su cose sulle quali inutilmente si discute” Allan Kardec 1857 La Società Svizzera di Psichiatria Sociale riconosce e definisce l’intervento di rete come uno strumento privilegiato di comprensione e d’intervento nelle situazioni di disagio psichico ed è una società per definizione interdisciplinare. Chi

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vi aderisce riconosce l’importanza di lavorare con altri che provengono da diversi percorsi formativi rispetto al proprio e che possiedono altri paradigmi culturali di riferimento e modi di ragionare rispetto alle situazioni condivise. In buona sostanza la maggior parte dei professionisti del nostro paese e del nostro tempo riconosce la bontà di un modello concettuale fondato sulla condivisione e cooperazione di più soggetti che mettono in comune i loro saperi. “interdisciplinare “ è un aggettivo caratteristico della nostra epoca che si riferisce a un approccio politico universalmente riconosciuto per affrontare i complessi

e complicati problemi delle nostre società post moderne. Il lavoro in rete o interdisciplinare si presenta però molto meno propizio e gratificante nella realtà del concreto operare quotidiano. Chiunque di noi si sia confrontato con il lavorare in gruppo o in rete ne conosce i limiti, le frustrazioni, i conflitti, le penose e faticose situazioni di stallo Il Comitato della Sezione Ticinese ha discusso molte volte di questo problema . con l’intento di indagare le ragioni di queste difficoltà . Le nostre riflessioni ci portavano verso una chiave di lettura un po’ particolare del problema e cioè quella dei significati impliciti attribuiti dalle persone a molte parole utilizzate nel nostro campo senza ulteriore discussione, con particolare riferimento a “rete” e “interdisciplinare”. Queste parole sottendono, in modo perlopiù dato per scontato, un approccio, un modello operativo e generano fra le persone attese sul funzionamento del gruppo e sulle risposte dei partners coinvolti,utenti compresi. L’ipotesi discussa prende in considerazione le conseguenze che le diverse attribuzioni di significato possono avere sul piano concreto generando fraintendimenti e impicci, ostacolando in modo sostanziale l’applicazione e l’efficacia del modello. Quando parliamo di rete, infatti, a quale cultura facciamo riferimento? Se si tratta di mettere intorno a un tavolo persone provenienti da diverse discipline non si tratta forse anche della faticosa costruzione di linguaggi, valori e scopi condivisi? Se


questa cultura di gruppo non si forma o si forma male quali ne sono le conseguenze operative? Esiste la necessità di un percorso formativo specifico all’interdisciplinarietà? La moltiplicazione dei percorsi formativi e dei ruoli professionali avvenuta in questi anni seguendo la necessità di avere sul campo persone con competenze sempre più specializzate non complica ancor più la situazione del lavoro interdisciplinare determinando,se non si vogliono sprecare mezzi,energie e soldi ,un urgenza di riflessione in quest’ambito? Come potrebbe essere strutturata una formazione se uno degli aspetti impliciti dell’ interdisciplinarietà ( sotteso nel passaggio dalla parola multidisciplinare a quella interdisciplinare) è dato dal riconoscimento dell’uguale importanza specifica di ogni distinto ruolo e sapere coinvolto nel gruppo di lavoro? Come potrebbero essere affrontate le questioni di potere e di definizione delle priorità in una struttura in cui partecipanti dovrebbero collaborare in modo orizzontale? Il modello di riferimento ormai universalmente adottato per spiegare l’insorgenza e il mantenimento di condizioni di sofferenza è com’è noto, il modello bio-psico sociale. Secondo questo modello le tre dimensioni sono intimamente legate e devono essere prese in considerazione per la valutazione di percorsi terapeutici e riabilitativi realmente efficaci. Il miglioramento e/o quando possibile la guarigione dipendono secondo questo concetto dall’instaurarsi o meno di un circolo biopsicosociale virtuoso che inverta il senso di quello vizioso o patogeno. La rete efficace secondo questa visione corrisponde dunque nell’’individuare soggetti esperti nella presa a carico degli aspetti compromessi delle varie aree e nel farli collaborare fra loro, con l’utente e con la sua rete primaria elaborando un piano d’azione condiviso e coordinato. Questo è tanto più vero quanto più complessa si presenta la situazione di difficoltà dell’utente e quante maggiori sono le aree biopsicosociali compromesse. Il tempo in cui viviamo inoltre si caratterizza per veloci e rivoluzionari cambiamenti della società per i quali vi è da chiedersi se le reti “tradizionali” siano tuttora le più adatte ai problemi nuovi che si presentano. Secondo il mo-

dello che abbiamo appena descritto, infatti, si tratta di individuare gli operatori più adatti e preparati a intervenire su una determinata area problematica. Immigrazione, multiculturalità etnica e religiosa, nuove tecnologie, crisi economica con un tasso di disoccupazione più alto che negli ultimi decenni, nuovi e plurimi stili di convivenza familiare e difficoltà del mondo giovanile sono alcuni aspetti del cambiamento della vita sociale al quale siamo tutti confrontati. Vi è da chiedersi se quando parliamo d’integrazione o riabilitazione, le pensiamo secondo vecchi modelli relativi alla società di ieri che oggi non c’è più o se le riferiamo alla generale capacità

degli individui di adattarsi, relazionare e navigare in un mare in continua evoluzione. La risposta ai quesiti sociali e di conseguenza personali con i quali ci troviamo confrontati è tutt’altro che data;l’approfondimento culturale delle ragioni dei nostri partners,la curiosità,l’apertura verso le persone anche quando vivono secondo stili molto diversi dal nostro sono le basi necessarie ad evitare anche nel nostro campo pericolose tentazioni e deviazioni verso un “pensiero unico” che tutto spiega ma molti esclude.

Zusammenfassung

Résumé

Heutzutage werden die Ausdrücke “interdisziplinär“ und „multidisziplinär“ immer häufiger benutzt, um einen Zugang zur Komplexität der Probleme unserer Zeit zu beschreiben, in der es unumgänglich ist mehr Individuen und mehr Wissen zu vernetzen. In unserem Gebiet hat die sozialpsychiatrische Methode seit langem diese Vorstellung übernommen, die in ihrer besten Variante die Beteiligung der Patienten und ihrer Angehörigen als Subjekte versteht und nicht als Objekte eines Behandlungsplans des Personals. Die konkreten Erfahrungen, die auf diesem Denkund Handlungsansatz basieren zeigen jedoch problematische Aspekte vor allem bei Konflikten bezüglich Kultur und Macht, unterschiedlichen Erwartungen und Rollenkonfusion. Eine mögliche Antwort, um ein gutes und wichtiges Modell zu retten, könnte von der Einsicht kommen, dass es (wie in jedem demokratischen Prozess) nicht genügt mehr Personen um einen Tisch zu setzen um effizient zu arbeiten. Vielmehr muss eine gemeinsame Kultur geschaffen werden, vielleicht auch mit einem Einführungskurs in interdisziplinäres Arbeiten.

À l’heure actuelle, nous utilisons de plus en plus fréquemment les qualificatifs « interdisciplinaire » et « multidisciplinaire » pour décrire l’accès à la complexité des problèmes de notre époque, dans laquelle il est devenu indispensable de mettre en réseau des individus et des savoirs plus nombreux. Dans notre méthodologie de psychiatrie sociale, nous nous référons depuis longtemps à cette représentation, qui dans sa meilleure variante inclut la participation des patients et de leurs proches en tant que sujets et non pas en tant qu’objets d’un plan de traitement établi par des professionnels. Les expériences concrètes, basées sur ce principe de pensée et d’action, manifestent toutefois des aspects problématiques surtout en cas de conflits concernant la culture ou le pouvoir, des attentes différentes et des confusions de rôles. Une possible réponse pour sauver un bon et important modèle pourrait émerger d’une démarche qui (à l’instar de tout processus démocratique) considère qu’il ne suffit pas pour travailler de manière efficace de réunir davantage de personnes autour d’une table. Il s’agirait plutôt de créer une culture commune, à construire notamment à partir d’un cours d’introduction au travail interdisciplinaire.

Dr. med. Gea Besso, Lugano

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Revolving door: Opportunita’ o fallimento? Che cos’è una porta girevole? Se lasciamo l’ambito che è consueto a noi psichiatri e operatori dei servizi e ci spostiamo tra la gente comune, la porta girevole evoca l’immagine di un dispositivo che facilita l’ingresso, o l’uscita, da un hotel, per esempio, da un grande magazzino, da una banca. Qualcosa che quindi facilita, senza possedere in sè alcun valore intrinseco o giudizio implicito. Nell’ambito specialistico psichiatrico invece spesso il fenomeno della porta girevole rimanda a un senso di fallimento, a procedure non corrette, a “buchi” nell’assistenza al paziente, insomma in generale a carenze nel processo di cura. Non ritorneremo su caratteristiche generali del fenomeno della porta girevole o revolving door, già ampiamente ed esaustivamente trattate di recente su queste stesse pagine, ma tenteremo qualche considerazione da un punto di vista diverso. Una prima considerazione riguarda il fatto che il fenomeno non è definito univocamente dagli esperti e nella letteratura specializzata. Alcuni definiscono revolving door patients le persone che vanno incontro a due ospedalizzazioni nell’ultimo anno o tre negli ultimi tre anni; altri ricercatori indicano che per essere etichettati come “porta girevole” bisogna avere due ammissioni consecutive a distanza inferiore a sessanta giorni; altri ancora adottano misure variabili legate ad esigenze di studi incentrati su periodi di osservazione definiti. In realtà in modo empirico, ma efficace, possiamo definire i pazienti della porta girevole come quelli che sono alti utilizzatori dei servizi di degenza, con frequenti ospedalizzazioni e dimissioni. Non è superfluo ancora una volta ricordare che il fenomeno della porta girevole è situazione affatto moderna: solo qualche decennio fa, allorquando la psichiatria di tutti i paesi occidentali e industrializzati era prevalentemente stazionaria e istituzionale, non esisteva la possibilità di entrare e uscire dalla struttura manicomiale. Chi entrava più

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di una volta, alla fine non usciva dall’istituzione, se non dopo un lungo periodo di osservazione, più che di cura, vista la ristrettezza dei mezzi terapeutici di un tempo. Quindi i revolving door patients sono frutto della psichiatria moderna, deistituzionalizzata, figlia delle lotte culturali e politiche che negli anni settanta hanno visto come protagonisti molti colleghi in Europa, come ad esempio Franco Basaglia. Oltre però a questi nobili natali, purtroppo il problema dei revolving door patients ha anche un’ascendenza meno presentabile, che è costituita sostanzialmente dalla ragione economica. In Svizzera la ragione economica è legata al sistema delle assicurazioni sanitarie e ai finanziamenti cantonali, così come in altri paesi europei, mentre in Italia, ad esempio, ai bilanci delle aziende sanitarie pubbliche. Ricoveri ripetuti e frequenti di uno stesso paziente, nella lingua arida e nell’ottica esclusiva dei bilanci, significano spesa sanitaria elevata. Nelle vecchie strutture manicomiali l’assistenza e i percorsi di cura erano perlopiù incentrati sul “dentro”, con una completa scotomizzazione del “fuori”, del territorio di provenienza e del contesto sociale e culturale del paziente. Il mandato affidato allo psichiatra istituzionale era in larga misura rappresentato dal controllo sociale e dalla custodia della devianza eventualmente prodotta dalla follia, mentre in misura minore dalla diagnosi e cura del malato psichico. Negli ultimi decenni si è delineata ed affermata la giusta tendenza a lavorare nelle situazioni stazionarie con l’obiettivo di porre diagnosi, di organizzare e iniziare una terapia conseguente e di reinserire al più presto il paziente all’interno del luogo e contesto di provenienza. Naturalmente tale processo ha posto l’accento su quanto avviene fuori dalla clinica o dall’ospedale, in particolare su tutto il sistema di assistenza che, pur variando molto da paese a paese,

prende il nome di “servizi territoriali”. I servizi territoriali sono da tempo investiti dall’enfasi terapeutica e caricati di molte aspettative da parte di operatori, pazienti e famiglie. In genere i servizi psichiatrici territoriali sono costituiti da ambulatori pubblici e privati, comunità, foyer, centri crisi e in genere da ogni sorta di strutture residenziali leggere che non abbiano caratteristiche strettamente sanitarie. I servizi territoriali sono dunque le famose strutture ambulatoriali e intermedie a cui si rivolgono con aspettative di intervento, talvolta realistiche, talvolta magiche, gli utenti, le loro famiglie e, non ultimi gli operatori. Generalmente si imputa ad un cattivo o parziale funzionamento dei servizi psichiatrici territoriali o intermedi un elevato numero di pazienti revolving door e parimenti si indica come panacea un migliore coordinamento tra il “dentro”- l’ospedale – e il “fuori” – il territorio. Laddove non si verificasse tale coordinamento, non esistessero o mal funzionassero le strutture intermedie psichiatriche territoriali, allora si incrementerebbe il fenomeno della porta girevole. Tutto ciò non può essere negato nella sua intuitività, ma se si considerano alcuni dati della letteratura, lo scenario appare in parte differente. Uno studio danese pubblicato su Acta Psychiatrica Scandinavica, ci dice che le variabili significative sono senz’altro rappresentate dalla diagnosi, dall’età del paziente, dal sesso. Ad esempio i pazienti schizofrenici tra i 15 e i 24 anni hanno un elevato rischi di andare incontro al fenomeno della porta girevole e in modo ancora maggiore le femmine dello stesso gruppo di età affette da un disturbo di personalità o un abuso di sostanze. Si potrà obiettare che lo studio non è recente e che, essendo basato sull’uso registro psichiatrico, non può che considerare variabili demografiche o diagnostiche oppure che un paio di decenni fa non era ancora sviluppata la cultura dei ser-


vizi sul territorio. Considerazioni del tutto condivisibili, ma l’aspetto importante, a nostro parere, è il fatto che introduce il concetto della peculiare natura di alcuni quadri psicopatologici, come ad esempio la schizofrenia e i disturbi di personalità. Tali condizioni patologiche hanno infatti caratteristiche che ben conosciamo, vale a dire di avere un andamento recidivante nelle manifestazioni cliniche e di avere una durata nel tempo. In sostanza di essere croniche, etimologicamente parlando. Un altro aspetto messo in evidenza da studi controllati è rappresentato dalla constatazione che alla base del fenomeno revolving door ci sia molto frequentemente o una mancanza di compliance o una non risposta alle terapie farmacologiche. Entrambi gli aspetti citati possono essere peraltro variamente combinati. Ora è chiaro che i servizi del territorio si debbano occupare proprio dei pazienti affetti da patologie croniche, potenzialmente invalidanti e gravi, realizzando progetti di tipo terapeutico, di gestione della crisi, di psico-educazione, di sostegno alle famiglie, di reinserimento sociale/lavorativo e via dicendo, ma non si può neppure essere spaventati dalla talvolta inevitabile possibilità del recidivare delle crisi che possono richiedere un’ospedalizzazione. Sulla base di tali considerazioni si propone di considerare il fenomeno della porta girevole da un punto di vista diverso, in un certo senso più laico, che si proponga alla fine soltanto di venire incontro ai bisogni reali del paziente, senza colludere con la patologia, ma neppure senza idealizzare un intervento piuttosto che un altro. Il punto di partenza per noi fondamentale è quello che si potrebbe definire un tailoring terapeutico, vale a dire una terapia tagliata su misura. Nella nostra esperienza di clinica psichiatrica privata ciò è reso possibile dalle dimensioni relativamente piccole del luogo di cura e dalla possibilità di essere più flessibili nei modelli di intervento. Restando nel tema che trattiamo, ciò si traduce, ad esempio, nel poter attuare una sorta di porta girevole programmata nel caso di particolari situazioni cliniche e di taluni contesti. Le situazioni cliniche coinvolte sono rappresentate soprattut-

to dalle psicosi schizofreniche, dai disturbi di personalità, segnatamente quelli emotivamente instabili, dalle varie dipendenze da sostanze. Come si accennava sopra tali situazioni cliniche sono per loro natura soggette a periodiche riacutizzazioni e ricadute, che possono essere contenute e minimizzate nel loro potenziale patologico da rientri periodici e programmati in clinica - di breve durata - e con scopo preventivo. In sostanza al momento della dimissione è possibile concordare con il paziente e i curanti esterni una riammissione a una distanza di tempo variabile a seconda della patologia di base (per esempio un paio di mesi in caso di dipendenza, fino a 6 mesi in caso di psicosi) che rimandi il senso di continuità delle varie fasi del percorso.

Un percorso terapeutico che preveda una breve degenza, a volte anche a cadenze regolari, permette al paziente e alla famiglia di sentirsi all’interno di una rete e ai curanti esterni di confrontarsi con altri punti di vista, senza sensi di colpa o fallimento. Il modello che si tenta di costruire è quindi quello della rete, dove anche il ricovero in clinica può essere visto non come un evento di rottura e distacco dal contesto usuale del paziente che si sente poco partecipe al processo di cura, quanto piuttosto come un momento dall’alto valore terapeutico.

Résumé

Zusammenfassung

Qu’est-ce qu’une porte tournante? Nous continuons à réfléchir à cette question. L’article approfondit le concept du phénomène de la porte tournante appelé aussi « revolving door » et que nous avons déjà largement évoqué dans le précédent numéro d’INFO. L’auteur évalue ici le phénomène à partir de la perspective du collaborateur d’une petite clinique privée de Lugano et il rend compte de la manière dont le phénomène se manifeste dans cette réalité. Le renvoi à des références littéraires approfondies ainsi que des commentaires sur l’évolution historique du phénomène complètent son analyse. Il y a quelques décennies, alors que la psychiatrie des pays industrialisés occidentaux était essentiellement stationnaire et asilaire, la question de l’entrée et de la sortie des structures psychiatriques ne se posait tout simplement pas. L’auteur établit un parallèle entre l’insuffisance des approches thérapeutiques d’autrefois et les restrictions financières actuelles imposées par notre système de sécurité sociale. Quelques études décrivant les causes de la porte tournante y sont également citées. L’article se termine par quelques réflexions utiles aux soignants et aux patients. Ceux-ci devraient en effet ne pas considérer ce phénomène comme un dispositif qui faciliterait les entrées et les sorties comparable à celui d’un hôtel, d’une grande entreprise ou d’une banque.

Was ist eine Drehtüre? Wir denken weiter nach über diese Frage. Der Artikel vertieft das Konzept des Phänomens der Drehtüre oder „revolving door“, das bereits in der letzten Nummer des INFOs (Juni 2009) breit diskutiert wurde. Der Autor dieses Artikels betrachtet das Phänomen aus der Perspektive eines Mitarbeitenden einer kleinen Privatklinik in Lugano. Er berichtet also darüber wie sich das Phänomen in dieser Realität zeigt. Zusätzlich beinhaltet der Artikel eine vertiefte Literaturübersicht zum Thema sowie einige Gedanken zur geschichtlichen Entwicklung. Vor wenigen Jahrzehnten, als die Psychiatrie der westlichen Industriestaaten vorwiegend stationär und institutionell war, gab es die Möglichkeit des Ein- und Austritts aus psychiatrischen Einrichtungen nicht. Die Beschränktheit der therapeutischen Heilverfahren von einst steht denjenigen, durch das Krankenkassenwesen bedingten, ökonomischen Einschränkungen gegenüber. Es werden einige Studien zitiert die aufzeigen, was die Ursachen der „Drehtüre“ sind. Der Artikel schliesst mit einigen für Behandelnde und Patienten nützlichen Überlegungen, damit bei der Drehtüre nicht an eine Einrichtung gedacht wird, die den Aus- und Eintritt erleichtert wie etwa bei einem Hotel, einem grossen Geschäft oder einer Bank.

Carlo Mandelli Clinica Viarnetto - Pregassona FMH psichiatria e psicoterapia

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Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Gespräch Vor exakt 10 Jahren habe ich meine Lizentiatsarbeit mit dem Titel: „Multiprofessionelle Zusammenarbeit in sozialpsychiatrischen Institutionen“ fertig gestellt. Die Sichtweisen der aus verschiedenen Berufsgruppen stammenden Personen hatte ich mittels qualitativer Interviews erhoben. Die befragten BetreuerInnen nahmen sich zu jener Zeit stark über ihre Berufszugehörigkeit wahr und grenzten sich so von den übrigen Teammitgliedern ab. Wie wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit heute erlebt? Dieser Frage bin ich mit zwei Leitungsteammitgliedern aus dem Übergangswohnhaus und dem Tageszentrum der Stiftung Phönix Zug nachgegangen. In beiden Betrieben bilden Fachpersonen aus den Bereichen (Psychiatrie)pflege, Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Psychologie gemeinsam die Betriebsleitung. Die spontanen Aussagen der beiden Gesprächsteilnehmer zum Thema interdisziplinäre Zusammenarbeit sind durchwegs positiv, der Austausch wird vor allem als bereichernd empfunden. Im Laufe des Gesprächs wird jedoch immer klarer, dass primär die Zusammenarbeit mit externen Fachleuten aus Kliniken und Sozialdiensten, aber auch mit Handwerkern, Buchhaltern etc. als interdisziplinär wahrgenommen wird, nicht aber diejenige im eigenen multiprofessionellen Team. Hierin besteht der grösste Unterschied zu meinen damaligen Ergebnissen. Die interne Zusammenarbeit der verschiedenen psychosozialen Berufsgruppen scheint in sozialpsychiatrischen Institutionen eine nicht mehr hinterfragte Tatsache geworden zu sein. Auf meine Nachfrage hin, wird mir dies von den Gesprächsteilnehmern bestätigt. Es ist inzwischen in den meisten psychiatrischen Kliniken Usus geworden, dass nicht ausschliesslich Psychiatriefachleute sich um die Pflege und Be-

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treuung der Patienten und Patientinnen kümmern. Eine Psychiatriepflegefachperson ist also schon von ihrer Ausbildung her an die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen gewöhnt und empfindet eine solche demzufolge als alltäglich. Für Fachpersonen aus Sozialarbeit und Sozialpädagogik gehörte der interdisziplinäre Austausch mit den Fachbereichen Psychologie, Rechtswissenschaft und Medizin sowohl in der Ausbildung als auch im Berufsalltag schon immer dazu. Als Nachteil in der Zusammenarbeit wird von den Gesprächsteilnehmern einzig die aufgrund der Anzahl der miteinbezogenen Personen verzögerte oder erschwerte Entscheidungsfindung genannt. Die in der interdisziplinären Zusammenarbeit nötige Überprüfung der eigenen Haltungen und Sichtweisen, wird als Vorteil gesehen, jedoch nicht mit der spezifischen Berufsausbildung in Verbindung gebracht. Es wird viel mehr Bezug genommen auf ein persönliches Konglomerat von Fähigkeiten und Wissensbeständen: „In unserm Arbeitsumfeld arbeiten wir nicht so berufsspezifisch wie in der Klinik“ und „unser Arbeitsumfeld ist durchmischter und breiter gefächert, es ist auch eine Gefahr, dass alle alles machen und spezifische Fähigkeiten zu wenig genutzt werden und verloren gehen“ sind typische Aussagen dazu. Aber auch: „Das breite Aufgabengebiet macht die Arbeit spannend und abwechslungsreich und ich kann von der Erfahrung im Team profitieren“. Diese Aussage spiegelt die Vorteile, die sich aus dem grossen Zuständigkeitsgebiet der im multiprofessionellen Team arbeitenden BetreuerInnen ergeben. Als unbestrittener Gewinn wird mehrmals der Nutzen aus der interdisziplinären Zusammenarbeit erwähnt, welcher sich für die betreuten psychisch beeinträchtigten Menschen ergibt. Er entsteht aus Sicht der Gesprächsteilnehmer sowohl in der in-

nerbetrieblichen Zusammenarbeit als auch in derjenigen mit dem sonstigen professionellen Helfernetz einer Person. Das Resultat der Zusammenarbeit wird als „am gleichen Strick ziehen“ betitelt, welches den begleiteten Menschen mehr Chancen biete, weiter zu kommen. Aufgrund der interdisziplinären Zusammenarbeit würden die beeinträchtigten Personen umfassender abgeholt und könnten dadurch auch bislang verborgene Ressourcen und Fähigkeiten entdecken. Als grosser Vorteil bei Kontakten mit externen Diensten wird von beiden Gesprächsteilnehmern die persönliche Beziehung zum jeweiligen Gegenüber genannt. Diese Bemerkung bestätigt die starke Gewichtung des persönlichen Einsatzes und der eigenen sozialen Fähigkeiten, welche sich nicht auf die ursprünglich absolvierte Berufsausbildung zurückführen lassen. Zusammengefasst lassen sich aus dem Gespräch folgende Rückschlüsse ziehen: Interdisziplinäre Zusammenarbeit gehört so stark zum sozialpsychiatrischen Arbeitsalltag, dass das Bewusstsein der eigenen beruflichen Identität zeitweise in den Hintergrund tritt. Die Arbeit wird als spannend und vielfältig empfunden, gerade auch deshalb, weil die Zuständigkeiten nicht mehr aufgrund der Ausbildung festgeschrieben sind. Es werden praktisch nur Vorteile aus dieser Zusammenarbeit sowohl für die betreuenden als auch für die betreuten Menschen genannt. Ich möchte es den Lesern und Leserinnen überlassen, sich Gedanken zu den eher kritischen Seiten dieser Entwicklung zu machen. Gesprächsteilnehmer: Florian Baumann Elmar Steffen Zusammenfassung: Yvonne Lüdi


L’interdisciplinarité, mode, technique ou éthique ? Résumé Il y a exactement 10 ans, je terminais mon travail de licence sur le thème: «Collaboration multi-professionnelle dans les institutions de psychiatrie sociale». J’avais obtenu des points de vue de personnes issues de catégories professionnelles différentes par le biais d’interviews qualitatives. Les professionnels de l’accompagnement et des soins exprimaient alors une conscience aigue de leur appartenance professionnelle et se délimitaient ainsi des autres membres d’une équipe. Comment la collaboration interinstitutionnelle est-elle vécue aujourd’hui? J’ai posé cette question à deux responsables d’équipe, soit d’une structure d’hébergement transitoire et d’un centre de jour de la Fondation Phönix à Zug. Dans ces deux structures, des professionnels des soins psychiatriques, de l’éducation spécialisée, du travail social et de la psychologie dirigent aujourd’hui ensemble la même organisation.

Riassunto Esattamente dieci anni fa mi trovavo a terminare il mio lavoro di licenza sul tema « Collaborazione multiprofessionale nelle istituzioni di psichiatria sociale ».In quell’occasione avevo raccolto, attraverso interviste qualitative, il parere di persone delle diverse categorie professionali. I professionisti del sostegno e delle cure allora avevano una definizione molto stretta della loro appartenenza professionale ponendo così i limiti fra loro stessi e gli altri membri dell’équipe. Oggi come é vista e vissuta la collaborazione interistituzionale ?Ho posto questa domanda ai due responsabili delle équipe di una struttura d’accoglienza abitativa transitoria e di un centro diurno della Fondazione Phonix a Zugo. In entrambe queste struttura collaborano insieme e dirigono professionisti psichiatrici, educatori specializzati, psicologi e operatori socioprofessionali.

L’art de la communication réciproque Le parcours de soin de la personne concernée par des troubles psychiques est support de projections théoriques diverses. Privilégions-nous une lecture globale, multi-déterminée et qui identifie contextes, vulnérabilités, ressources et potentiels ou une vision limitant le trouble à un comportement prédéterminé, défini par ses déficits et enfermé dans un cheminement type? Sommes-nous dans la perspective «du traitement unique» ou d’une combinaison multimodale d’interventions (résilience, rétablissement, entraide et thérapies diverses) ajustée à chaque personne et articulant des influences pertinentes à différents niveaux ? Dans les cabinets, les réseaux et lieux d’enseignement, sommes-nous cloîtrés à l’intérieur de notre discipline, prisonniers d’une culture institutionnelle, d’idées figées en dogmes et de débats circonscrits par des tabous? Facilitonsnous la rupture des frontières disciplinaires, la circulation de schémas de pensée, la recherche d’interactions entre concepts et combattons-nous l’esprit de propriétaire qui interdit toute incursion étrangère dans notre parcelle de savoir et de pouvoir pour laisser la place à la pensée complexe ? Continuons-nous à professer une dévotion sans critique d’un auteur ou courant de pensée et à être animés de grandes querelles théoriques et d’impitoyables oppositions entre postures intellectuelles ? Comment faisons-nous le tri dans les théories ? Aborder de front ces questions s’avère pour le moins risqué. L’interdisciplinarité -carrefour, organisation et inventaire permanent de nos savoirs multiples- est un « sollen » et non un « sein », un objectif qui recule à chacune de nos tentatives, une activité conti-

nue. Chaque dépassement de connaissances ouvre sur de nouvelles questions dans une spirale sans fin. Sa réalisation opérationnelle affronte des difficultés d’ordre technique et social. La formation au savoir-faire interdisciplinaire est rare. L’organisation de nos connaissances est largement fondée sur des pouvoirs disciplinaires, politiques, lobbys et principes de régulation corporatistes ! Pourtant, confronter nos diverses visions et faire omission des frontières est indispensable pour affiner nos croyances et faire de l’ordre dans nos connaissances partielles, approximatives, abondantes et fragmentées. C’est également un devoir éthique car le mieux-être de la personne en difficulté émerge de la synergie du réseau dont elle fait partie active et non d’une discipline en particulier ! Premier pas, échanger des points de vue entre la personne concernée, ses proches et des professionnels issus de diverses orientations. Or, les diverses contributions sont souvent organisées dans un emboîtement hiérarchique et unidimensionnel à l’intérieur d’une seule discipline qui les intègre dans son langage et impose aux autres ses procédures ! Chaque participant n’a qu’à se tourner vers son «supérieur» pour en recevoir les instructions et s’adresser ensuite à ses subordonnés pour les appliquer. Les intervenants se renseignent, procèdent par « soustraction des parties » et restent dans leur domaine. L’expression dans des langages différents de quelque chose de ressemblant donne la sensation de dépassement de l’hétérogénéité existante. L’impasse est réglée par des mécanismes institutionnels historiques, d’autorité et de pouvoir, car « nous avons toujours fait comme ça », etc. Ce type de complémentarité plurisoziale 4.05 4.09 /medizin soziale medizin

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disciplinaire est insuffisant et dessert une clientèle à problèmes et besoins multiples qui sont moulées dans ce tamis étroit. On procède comme si l’on opérait sur de multiples composants détachables de la personne, les savoirs pluriels se juxtaposent ou s’alignent en parallèle. Deuxième pas, l’échange vise des rapprochements réciproques. Les décisions, s’obtiennent par débats et consensus. Aux relations hiérarchiques entre savoirs - qu’un siècle d’épistémologie n’arrive pas à désamorcer dans les mentalités - se substitue la relation circulaire. Le coordinateur du groupe distingue sa fonction sociale et son devoir scientifique et facilite une dynamique en hétérarchie. Les «désapprobations des idées» sont acceptées sans craindre une perte de prestige, une disqualification des pairs. Le tri des concepts est réciproque, le langage spécialisé côtoie le langage du client qui n’est ni passif, soumis ou dépendant, mais acteur de sa propre destinée. Sa voix est entendue sans paternalisme. Quand le sens manque, il est recherché et non imposé. Cette collaboration opère des transformations épistémiques1 réciproques, augmente l’efficacité des participants et donne une identité et une couleur propres à l’équipe. Les méthodes d’observation, d’introspection, de recherche-action, etc. sont valorisées. Le fantasme des sciences physiques, le réalisme et le positivisme sont exorcisés.

Fondements Les phénomènes du vivant sont d’un autre ordre que ceux des sciences physiques. La cybernétique, les théories des systèmes et de la complexité changent les conceptions sur le vivant, l’humain et ses réalisations, société, culture, science et technologie. Cette vision est très différente de celle de la période classique ou de la modernité. Le monde n’est pas si rationnellement ordonné et simple. Sa division en territoires et l’analyse séparée d’une multitude de parties remises ensuite ensemble sont un échec. Les propriétés poïétiques d’une cellule ne sont pas la juxtaposition de ses composants, l’étude d’une fourmi ne rend pas compte de la colonie elle-même, « le tout n’est pas la somme des parties ». Les disciplines humaines découvrent avec étonnement «les systèmes complexes». Impossible de réduire le supérieur

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à l’inférieur, l’esprit au cerveau, la personne à ses gènes, la finalité des êtres à la causalité de leurs composants physico-chimiques. La causalité linéaire est insuffisante pour comprendre l’intentionnalité, le guidage de nos actions et l’activité psychique. L’observateur n’est pas un agent neutre. Son langage ne décrit pas « la réalité », mais opère une coupure. Sa finalité et sa méthodologie spécifique définissent les observables, les problèmes et portent un jugement particulier sur les solutions proposées. Tout objet et toute frontière sont à la fois extraits et constructions. Quelle décentration! Les disciplines constatent combien subjectives demeuraient leurs démarcations et vont s’agglutiner, s’empiéter par la rencontre de visions différentes sur le même objet. Le traitement technique de processus et la programmation ouvrent sur des problèmes qui ne traitent pas des états! On peut distinguer un solide d’un liquide, un végétal d’un animal, en revanche les certitudes chancellent quand on s’interroge sur les influences réciproques entre l’inné et l’acquis, le devenir d’un individu, ce qui définit le passage de l’inerte au vivant, d’un état conscient à un état comateux, d’un état normal à un état de crise. Troisième pas, nous sommes priés de reconnaître dans les phénomènes humains et du vivant, des causalités non linéaires et multifonctionnelles. La même cause produit différents effets, un effet résulte de diverses causes, à petite cause grand effet ! Le hasard est solidaire de la nécessité2. Par bifurcation, un état change en son opposé, etc. C’est toute la différence entre nous et des boules en plomb, qui à un certain niveau de description, à poids et conditions égales, suivent toutes la même loi dans la descente d’une pente ! L’imbrication enchevêtrée des niveaux du réel sera élaborée dans un système total de structures sous-jacentes, sans frontières stables entre disciplines. Les langages de l’information précise et suffisamment abstraite de la sémantique seront transposables d’un champ à l’autre. L’intelligence artificielle et le début des sciences cognitives auront cette vocation transdisciplinaire échappant aux logiques réductrices et technocratiques de rentabilité.

Ethique Quelle logique d’intervention pour

comprendre un trouble psychique: traditionnelle «une cause/un effet»; fonctionnelle «rôle du phénomène au sein d’un système»; structurelle «on dégage les règles d’organisation»; herméneutique «sens implicite que peut revêtir le phénomène»; dynamique «forces contraires entre l’individu et la société» ou interdisciplinaire? A quel titre intégrer dans le traitement l’expérience subjective des sauts de conscience, les demandes du patient pour moduler sa prescription et récupérer son autonomie? Travaillons-nous avec des modèles pluriels ad hoc et situés dans le contexte propre de la personne? L’interdisciplinarité, exercice de virtuosité et d’humilité, n’est pas seulement un exercice épistémologique, une curiosité de la sociologie de la science. Ce devoir d’inventaire est surtout une volonté et une obligation qui nous extrait du rôle de techniciens de procédures et nous confronte à l’éthique. Comment faire autrement «le mieux», avec nos moyens hyper - spécialisés, dans la direction des besoins de la personne, qu’en composant nos compétences diverses selon une approche ouverte, multidimensionnelle et intégrative? Dr. Carlos León, Psychothérapeute, opérateur psychosocial à l’Association PAROLE, Genève 1) Au niveau donc des savoirs, croyances, opinions, savoir-faire, attitudes, savoir être. 2) Jacques Monod, Le Hasard et la Nécessité, éd. du Seuil.


Zusammenfassung Der Autor schlägt eine ethische Sichtweise der Interdisziplinarität vor, indem er den Lesenden einlädt, sich Gedanken bezüglich der Grenzen einer Denkweise zu machen, die ausschliesslich auf aneinander gereihten Interventionstechniken beruht. Auf der wissenschaftlichen Ebene ist durch die „Life Sciences“ und den systemischen Zugang die gebräuchliche traditionelle und simplifizierende Logik einer linearen Analyse psychischer Störungen überholt. Die Soziologie erklärt sie mit berufsgruppenspezifischen Mechanismen, bei denen Erkenntnisse durch den institutionellen Ablauf nicht berücksichtigt werden. Die Transdiziplinarität schlägt vor, die wissenschaftliche Aufgabe, die mehr und mehr leistungsorientiert ist zu überwinden durch einer auf Gleichheit beruhender Kommunikation, welche die subjektiven Erfahrungen unerwarteter Erkenntnisse in die Behandlung mit einbeziehen, ebenso wie das Anliegen des Patienten, Verordnungen zu ändern und die Autonomie wieder herzustellen.

Riassunto L’autore propone una visione etica dell’interdisciplinarietà invitando il lettore a interrogarsi sui limiti di una riflessione che si fonda unicamente sul concetto di tecniche d’intervento che si aggiungono le une alle altre. Sul piano scientifico le nuove scienze della vita e gli approcci sistemici invalidano le logiche tradizionali dominanti e semplicistiche dell’analisi lineare dei disturbi psichici. La sociologia della scienza le spiega con un pensiero corporativo che imprigiona i saperi nelle logiche istituzionali. La transdisciplinarietà si propone di superare il procedere scientifico sempré più orientato secondo le logiche del rendimento attraverso una comunicazione circolare che includa l’esperienza soggettiva dei «salti di coscienza» come pure le domande del paziente per modulare la sua prescrizione e recuperare la sua autonomia

Bericht aus dem ZV Genf war eine Reise wert. Am gemeinsam von der SGPP und SGSP durchgeführten Kongress „Gemeindepsychiatrie und Netzwerke“ beeindruckten nicht nur internationale KeynoteSpeakers. In fast 40 Ateliers, Workshops und Symposien wurde eine überraschend vielseitige gemeindepsychiatrische Landschaft sichtbar. Sozialpsychiatrische Orientierung heisst auch Pluridisziplinarität: Sozialberufe, Pflegefachkräfte und andere waren unter den Mitwirkenden gut vertreten. Der – in andern europäischen Ländern schon selbstverständliche - Dialog aber mit den andern Partnern in der Gemeindepsychiatrie, den Betroffenen selbst, ihren Angehörigen und den Verantwortlichen aus anderen Sektoren des öffentlichen Lebens wurde dagegen noch wenig sichtbar; an Psychiatriekongressen bleiben wir Fachleute offenbar doch lieber noch unter uns... Die andere Frage die ich mir als Teilnehmer stellte – warum wissen wir so wenig von einander, warum ist die SGSP nicht selbstverständliche Plattform für diesen Dialog, für die kritische Diskussion und Evaluation von Modellen und Projekten, aber auch für die gegenseitige Ermutigung und Unterstützung. Dies gesagt, muss auch betont werden, dass Initiative, Planung und Leitung des Kongresses in hohem Mass bei den beiden Präsidenten, Hans Kurt und Francois Ferrero lagen. Francois Ferrero hat nicht nur die internationalen Referenten gewonnen, er hat mit dem Vorschlag eines öffentlichen ‚Call for papers’ auch vielen ganz unterschiedlichen Initiativen und Projekten ermöglicht, sich zu präsentieren. Für dieses Abschiedsgeschenk seiner Präsidialzeit sei ihm herzlich gedankt! Die eben gestellte Frage zu Rolle und Aufgabe der SGSP beschäftigte den Zentralvorstand schon länger, wir haben in diesen Berichten davon geschrieben. Ein kurzer Blick auf die Mitgliederliste zeigt, wie viel Kompetenz in dieser Gesellschaft versammelt ist, als Organisation ist sie aber wenig lebendig. Die Diskussionen – nicht nur im ZV, sondern auch in den sprachregionalen Sektionen lassen vermuten, dass mit den strukturellen Veränderungen in der Psychiatrielandschaft sich auch die Gewichte in der Organisation verschieben. Waren die Sektionen erst eher regionale Ergänzungen zur nationalen Organisation, so gewinnen sie an Bedeutung. Die anfangs starke Orientierung an den universitären Zentren tritt mehr zurück. Der Zentralvorstand beschloss darum an seiner Sitzung im Juni, nicht wieder einen Zentralpräsidenten – oder eine Präsidentin – für die kommende Wahlperiode vorzuschlagen, sondern die nächsten drei Jahre als Denkpause zu nutzen. Der Vorstand schlug der Mitgliederversammlung vor, dass die drei regionalen SektionspräsidentInnen in den kommenden Jahren im Turnus das Präsidium übernehmen. Die Mitgliederversammlung stimmte dem zu und wählte als ersten den Präsidenten der welschen Sektion, Yasser Khazaal, zum neuen Präsidenten. Der ZV wird an seiner Herbstretraite in Zürich die begonnene Diskussion weiterführen, er lädt aber auch die Sektionen ein, sich mit Ideen und Vorschlägen daran zu beteiligen. Es geht um Grundsätzliches – „was für eine Psychiatrie wollen wir?“, aber auch um ganz pragmatische Fragen, z.B. wie man mit geringen Mitteln und weitgehend ehrenamtlicher Mitarbeit in einer durch die Dreisprachigkeit bedingten komplexen Struktur ideelle Ziele umsetzen will.

Ich will schliessen mit einem herzlichen Dank an Francois Ferrero, der in den vergangenen Jahren kollegial, initiativ und freundschaftlich die SGSP geleitet hat. In seinem ersten Referat als Präsident zitierte er den französischen Sozialanthroplogen LevyStrauss, zum Abschied verschenkte er ein Buch zur Art brut, ich verstehe beides als Hinweise, von wo wir auch Impulse für sozialpsychiatrisches Handeln erhalten können. Thomas Rüst,

Rapport du comité central Genève a valu le déplacement. Le congrès « Psychiatrie communautaire et réseaux », organisé conjointement par la SSPP et la SSPS, a généré un réel impact. Grâce aux exposés scientifiques d’orateurs internationaux et de renom et grâce à une quarantaine d’ateliers et de symposia, c’est un paysage surprenant et varié de la psychiatrie communautaire qui s’y manifesta. L’orientation de la psychiatrie sociale implique également la pluridisciplinarité : divers métiers du travail social et des soins étaient bien représentés parmi les protagonistes du congrès. Par contre, le dialogue, pourtant déjà évident dans d’autres pays européens, avec d’autres partenaires de la psychiatrie communautaire, soit avec des personnes concernées, leurs proches et des responsables d’autres secteurs de la vie publique, y demeura peu visible ; il semblerait que les professionnels préfèrent encore et toujours rester entre eux pendant les congrès de psychiatrie… L’autre question que je me suis posée en tant que participant fut de comprendre pourquoi au sein de la SSPS, nous savons si peu de choses des uns et des autres, pourquoi notre société n’est-elle pas naturellement une plate-forme de dialogue pour une discussion critique et une évaluation de modèles et de projets, mais aussi pour l’encouragement et le soutien réciproques ? Ceci étant dit, il s’agit de relever, que l’initiative, la planification et la direction du congrès furent essentiellement l’œuvre des deux présidents Hans Kurt et François Ferrero. François Ferrero n’a pas seulement réussi à amener des intervenants très qualifiés et de niveau international, grâce à sa proposition d’un appel public aux posters, il a également stimulé la présentation de nombreuses initiatives et de projets très variés. Qu’il soit remercié chaleureusement pour ce cadeau de départ de sa période de présidence ! Egalement soulevée à cette occasion, la question du rôle et de la mission de la SSPS préoccupe le comité central depuis longtemps. Nous y avons régulièrement fait allusion dans cette rubrique des Infos. Un bref coup d’œil sur la liste des membres montre qu’une importante somme de compétences est réunie dans cette société, pourtant celle-ci reste peu vivante en tant qu’organisation. Les discussions en cours au comité central et dans les sections linguistiques laissent supposer que les changements structurels dans le domaine de la psychiatrie influencent aussi le déplacement des pondérations dans l’organisation. Si les sections étaient autrefois davantage des prolongations régionales de l’organisation nationale, elles gagnent aujourd’hui en importance. L’orientation des débuts, ciblée sur les centres universitaires, diminue progressivement. C’est pourquoi, lors de sa session de juin, le comité central décida de ne pas présenter un(e) président(e) central(e) soziale 4.05 4.09 /medizin soziale medizin

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pour la prochaine période, mais d’instaurer un temps de réflexion. Le comité proposa à l’assemblée des membres que les trois présidents des sections régionales y assument la présidence en alternance. L’assemblée des membres approuva cette proposition et élut comme premier président Yasser Khazaal, président de la section romande. Le comité central poursuivra cette discussion lors de sa séance d’automne à Zürich, il invite toutefois les sections à y participer avec des idées et des suggestions. Il s’agit de penser la question fondamentale « Quelle psychiatrie voulonsnous ? », mais aussi de répondre à des questions très pragmatiques, telles que : comment peut-on mettre en œuvre des idéaux avec des moyens limités et un travail essentiellement bénévole dans une structure complexe parce que trilingue. Je voudrais terminer avec un cordial remerciement à François Ferrero, qui a dirigé ces dernières années la SSPS de manière collégiale, novatrice et amicale. Dans son premier discours de président, il cita l’anthropologue social Levy-Strauss et pour son adieu, il fit cadeau d’un ouvrage sur l’art brut. Ces deux références résonnent pour moi comme des indications sur les espaces où nous pourrions trouver des impulsions pour une action de psychiatrie sociale. Thomas Rüst,

Rapporto del comitato centrale Ginevra valeva la trasferta. Il Congresso « Psychiatrie communautaire et réseaux », organizzato in modo congiunto dalla SSPS e dalla SSPP ci ha fornito risultati reali. Abbiamo potuto verificare un panorama riguardante la psichiatria di comunità sorprendente e variato grazie alle relazioni scientifiche d’oratori internazionali e ad una quarantina fra symposia e atelier. La visione psichiatrico so-

Das SGSP-Info dient der gegenseitigen Information über (neue) Dienstleistungen, Projekte und Erfahrungen im Bereich der Sozialpsychiatrie. Beiträge von Leserinnen und Lesern sind sehr erwünscht. Herausgeber: Schweizerische Gesellschaft für Sozialpsychiatrie (SGSP); erscheint zwei mal jährlich in der SM Soziale Medizin. Abonnementspreis: Fr. 20.–/Jahr; für Mitglieder der SGSP: im Mitgliederbeitrag inbegriffen.

ciale implica la pluridisciplinarietà e cosi` differenti professionalità dell’ambito sanitario e del lavoro sociale erano ben rappresentate fra i protagonisti di questo congresso. Meno visibile peraltro era Il dialogo con gli altri attori della psichiatria di comunità, come si vede in altri paesi europei, coinvolgendo gli utenti, i loro parenti e altri responsabili di settori della vita pubblica. L’impressione che ne deriva é quella che i professionisti preferiscono ancora restare fra loro durante i congressi di psichiatria.. L’altra domanda che mi sono posto in quanto partecipante era relativa alla considerazione che all’interno della SSPS sappiamo poche cose gli uni degli altri e sul perché la nostra società non è piattaforma “naturale” per il dialogo,la discussione critica,la valutazione di modelli e di progetti favorendo nel contempo incoraggiamento e sostegno reciproco fra i soggetti implicati. Il Convegno in sé, va rilevato, è stato essenzialmente il frutto dell’iniziativa, del lavoro di pianificazione e di direzione dei due presidenti Hans Kurt e Francois Ferrero.Francois Ferrero non solo è riuscito a portare a Ginevra oratori molto qualificati e di livello internazionale ma anche,con il suo appello pubblico per i posters ha favorito la presentazione di numerose iniziative e progetti. Per questo dobbiamo ringraziarlo calorosamente per questo suo regalo di commiato dal suo incarico di presidente! Un›altra questione di rilievo che da tempo preoccupa il comitato centrale resta quella relativa al ruolo e alla missione della SSPS; spesso ne abbiamo accennato in questa rubrica dell’INFO. Se gettiamo un occhiata sulla lista dei nostri soci si vede bene come una importante somma di competenze vi si trovi riunita che peraltro fatica a manifestarsi a livello dell’organizzazione della società. Le discussioni che abbiamo avuto all’interno del comitato centrale e nei comitati di sezione, ci hanno portato a ipotizzare che i cambiamenti strutturali avvenuti nel tempo in ambito psichiatrico abbiano influenza sul peso specifico delle varie parti della nostra organizza-

zione. Un tempo le sezioni linguistiche si configuravano come un prolungamento dell’organizzazione nazionale mentre ora il baricentro si sposta nella loro direzione. L’orientamento iniziale della società calibrato sui centri universitari si è progressivamente indebolito. Preso atto di questi fatti il comitato centrale nella sua sezione di giugno optava per un periodo di riflessione invece che presentare un proprio candidato per tutto il periodo successivo. Il comitato ha presentato all’assemblea la seguente proposta e in pratica che per il prossimo triennio come presidenti nazionali si succederanno a turno per un anno ciascuno i tre presidenti delle sezioni .L’assemblea ha approvato questa proposta e ha eletto come primo presidente nazionale di questa fase Yasser Khazaal, presidente della sezione romanda. Il comitato centrale continuerà a discutere questo tema durante la prossima riunione autunnale a Zurigo invitando i membri e le sezioni a partecipare con idee e suggestioni proprie :si tratta in effetti di rispondere alla questione fondamentale « Quale psichiatria vogliamo ? »,ma anche di trovare soluzioni a quesiti molto pragmatici quali quello del come portare avanti i nostri ideali in una società come la nostra complessa perché trilingue,dai mezzi economici limitati e fondata essenzialmente sul volontariato. Vorrei terminare infine con un cordiale ringraziamento a Francois Ferrero che ha diretto la nostra società in questi anni in modo collegiale, innovatore e amichevole. Durante il suo primo discorso da presidente volle citare l’antropologo Levi Strauss mentre al suo commiato ci ha fatto dono di un libro sull’ Art Brut. In entrambi questi gesti risuona per me l’indicazione verso spazi dove cercare e trovare suggestioni per la psichiatria sociale.

Les «informations SSPS» devraient servir de plate-forme d´échanges réciproques concernant les (nouveaux) services, projets et expériences dans le champ de la psychiatrie sociale. Les lectrices et lecteurs sont invités à nous transmettre leurs contributions dans ce domaine. Edité par la Société Suisse de Psychiatrie Sociale (SSPS), le bulletin paraît deux fois par année. Prix de l´abonnement (par année): Fr. 18.–; compris dans la cotisation annuelle pour les membres de la SSPS.

Le «informazioni SSPS» vogliono servire alla reciproca informazione su (nuovi) servizi, prestazioni, progetti ed esperienze nel campo della psichiatria sociale. Lettrici e lettori sono perciò cordialmente invitati a far pervenire i loro contributi. Edito dalla Società Svizzera di Psichiatria Sociale (SSPS); esce due volte all´anno. Abbonamento annuo: Fr.18.–; membri della SSPS: incluso nella quota associativa.

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Redaktionsteam / Gruppo di redazione / Equipe rédactionelle: Paolo Cicale, laureato in filosofia, Brionco Yvonne Lüdi, lic. phil. Geschäftsleitung Stiftung Phönix, Zug

❐ Einzelmitglied/Membre individuel/socio individuale (Jahresbeitrag: Fr. 50.-) ❐ Kollektivmitglied/Membre collectif,Institution/socio colletivo (Jahresbeitrag: Fr. 200.-) ❐ AbbonnentIn/Abonnée des/abbonnamento SGSP-Informations (Jahresabonnement: Fr. 20.-)

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Zbinden, Barbara, Mediation sociale, Martigny Waldvogel, Ruth, Dr. sc.nat.; lic.phil. Psychotherapeutin SPV, Basel Beiträge bitte an folgende Adresse: Dr. Ruth Waldvogel, General Guisan-Str. 46, 4054 Basel. Tel. 061 302 33 10 / Fax 061 272 59 08 / ruth.waldvogel@bluewin.ch


dossier • pflege

Fortsetzung von Seite 26

Bei uns muss man ein gewisses Chaos ertragen können… man sich bei der betroffenen Person entschuldigen, sie zudecken, ihr liebevoll zureden. Ob man von Gewalt reden muss oder nicht, hängt oft davon ab, in welchem Zusammenhang man es tut und wie man es einbettet. Mascarin: Ich kenne die Problematik einerseits von meinen Besuchen als Hausärztin in Alters- und Pflegeheimen. Ich bin überzeugt, dass es richtig ist, dass alte Menschen beim Eintritt in ein Heim weiterhin von ihrem Hausarzt oder ihrer Hausärztin betreut werden und nicht von einem Heimarzt. Damit ist gewährleistet, dass immer jemand von aussen hinschaut. Umgekehrt war ich mit der Problematik der Gewalt in Heimen aber auch durch zwei Patientinnen konfrontiert, die als Betreuerinnen Ziel von Aggressionen von HeimbewohnerInnen wurden. Diese Frauen arbeiteten in zwei ganz unterschiedlichen Heimen, nicht Altersheimen, sondern Heimen für körperlich und geistig schwerst Behinderte. Es kam zu Tätlichkeiten von beiden Seiten, von Seiten der Betreuenden und der Betreuten. Und in beiden Fällen endete die Sache damit, dass die betreffenden Betreuerinnen entlassen wurden. Als Hausärztin der betroffenen Betreuerinnen bekam ich die Angelegenheit hautnah mit und gewann den Eindruck, dass die Stimmung in den beiden Heimen schon lange zuvor im Argen lag. Ich denke, das spürten auch die Betreuten. Deshalb kam es zu Aggressivitäten von Seiten der Betreuten, in Form von Anspucken und von Schubsen mit dem Ellbogen. Eine der beiden Betreuerinnen reagierte darauf auch aggressiv. Sie zog die Hand gegen einen Betreuten auf, merkte aber gerade noch rechtzeitig, dass das nicht akzeptabel ist, und schlug nicht zu. Die andere Frau, von der ich erzählte, zeigte selber nie Aggressionen. Beide wurden aber entlassen. Ich habe den Eindruck, in diesen beiden Heimen war das Personal durch Konflikte chronisch überfordert. Das durfte aber nicht angesprochen werden, die Konflikte wurden nicht aufgefangen, das Personal nicht unterstützt. Wichtig war nur der rei-

bungslose Betrieb, die Betten mussten gemacht sein, das Geschirr musste sauber gewaschen sein usw. Wer Konflikte ansprach, wurde entlassen. Schaller: Ich behaupte, dass die Vorgesetzten einer Institution immer eine Mitverantwortung tragen, wenn es zu Über-

ebenfalls vorprogrammiert. Wenn es zu Übergriffen gekommen ist, sollte man auch nicht einfach die TäterInnen brandmarken, sondern die Situation anschauen und herauszufinden versuchen, welchen Anteil das Betriebsklima der Institution oder des Unternehmens am Problem hat. Häufig geschieht das aber leider nicht. Die Vorgesetzten entziehen sich ihrer Verantwortung und entlassen die betreffenden Mitarbeitenden. Danach geht es aber meistens genau gleich weiter, verändert hat sich nichts und die

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Ich finde es problematisch, von den Mitarbeitenden am Arbeitsplatz eine Aufarbeitung von Traumata zu verlangen, die zum höchst persönlichen Bereich ihrer Biografie gehören.

Regine Dubler griffen kommt. Denn sie müssen die Voraussetzungen schaffen, dass Aggressionen nicht eskalieren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein schlechtes Klima in einem Heim Übergriffe begünstigt, ebenso Druck aufs Personal. Wenn in einer Institution Werte und Normen im Vordergrund stehen, mit welchen sich Mitarbeitende nicht identifizieren können, sind Aggressionen

belastende Situation bleibt bestehen. Spöndlin: Aber müssen Tätlichkeiten von Seiten der Mitarbeitenden nicht auch Konsequenzen haben? Schaller: Doch, grundsätzlich bin ich für eine Nulltoleranz bei Gewalt von Seiten des Personals. Nur stemple ich niemanden vorschnell als Täter ab, sondern versuche im Gespräch Wege zu 4.09 / soziale medizin

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einer Verhaltensänderung zu finden. Ist der oder die Betreffende nicht dazu bereit, oder ist das nicht möglich, muss ich dann halt sagen: „Du bist bei uns leider fehl am Platz.“ Spöndlin: Ist es nicht auch wichtig, eine Kultur des Hinsehens zu entwickeln, dass KollegInnen und Vorgesetzte nicht einfach über Übergriffe hinwegsehen? Schaller: Das ist richtig. Bezeichnenderweise kommt es in Randzeiten und während der Nacht zu den meisten Übergriffen seitens des Personals auf HeimbewohnerInnen, weil dann nicht mehr so viele Mitarbeitende da sind und die Sozialkontrolle mehrheitlich fehlt. Um Tätlichkeiten nicht zu übersehen, dokumentieren wir beispielsweise alle Hämatome und blauen Flecken bei BewohnerInnen. Mascarin: Zweifellos tragen die Vorgesetzten eine grosse Verantwortung für Gewalttätigkeiten und Aggressionen. Aber wie werden diese im Umgang mit Konflikten und Aggressionen geschult? Und mit welcher Schulung werden die Pflegenden zum Umgang mit Aggressionen befähigt? Schaller: Nach meiner Erfahrung findet keine systematische Schulung zum Thema Aggression statt. Sondern es liegt an den einzelnen, ob sie sich darum bemühen. Eine Rolle spielt dabei, wie stark der oder die Vorgesetzte auf die Problematik sensibilisiert ist. Wenn ich künftige Mitarbeitende im Anstellungsgespräch frage, ob sie eine Weiterbildung in diese Richtung genossen haben, sagen sie eigentlich vielfach nein. Dubler: Wenn Pflegende Gewalt anwenden, geschieht dies fast immer aus einer Überforderung heraus. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass man als junge Mutter auch an seine Grenze kommen und sich nur mit Mühe beherrschen kann, sein Kind nicht zu schütteln oder zu schlagen. Etwa wenn das Kind nachts immer wieder schreit, man kaum Schlaf findet. Ganz ähnliche Situationen können in der Pflege von Betagten und Behinderten auftreten. Vor allem pflegende Angehörige erleben wir oftmals an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Dann gilt es, die Angehörigen zu entlasten und damit die Demenzkranken zu schützen.

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Spöndlin: Was tun Sie, damit es in Überforderungssituationen nicht zu Übergriffen kommt? Dubler: Alle unsere Mitarbeitenden müssen eine Demenzschulung durchlaufen. Dabei lernen sie beispielsweise, dass es nichts nützt, wenn sie zu einer Bewohnerin sagen: „Frau Meier, ich habe Ihnen das doch schon zehnmal gesagt. Kapieren Sie es endlich!“ Sie müssen akzeptieren, dass Frau Meier den Sinn dessen, was man zu ihr sagt, eben nicht mehr versteht. Weiter müssen sie das Durcheinander aushalten, das demenzkranke Menschen um sich haben und verursachen. Wer immer Ordnung halten will und einen aufgeräumten Schrank wichtig findet, ist bei uns fehl am Platz. Wir bringen unseren Mitarbeitenden zudem Techniken bei, um mit solchen Situationen umzugehen. Etwa die Integrative Validation, eine Kommunikationstechnik mit demenzkranken Menschen, bei der die momentane Befindlichkeit, die Gefühle im Vordergrund stehen. Oder die ritualisierte Begegnung. Damit lässt sich oft verhindern, dass es zu Aggressionen kommt.

Unsere Mitarbeitenden lernen auch, dass man mit basaler Stimulation und mit Körperkontakt Aggressionen abbauen kann. Im Einzelfall reagieren wir auch individuell, indem beispielsweise eine bestimmte Pflegende den Kontakt zu einem bestimmten Bewohner vorübergehend einer Kollegin überlässt, welche mit diesem besser zurecht kommt. Das erfordert, dass Pflegende äussern können, wenn sie gewisse Situationen nicht ertragen und mit gewissen BewohnerInnen nicht zurecht kommen. Mascarin: Wenn HeimbewohnerInnen Gewalt anwenden, wollen sie damit ja etwas ausdrücken. Ich denke da beispielsweise an einen hoch betagten Mann in einem Pflegeheim, der an einer zunehmenden Demenz litt und auch somatisch krank war. Eine Pflegerin des Heims rief mich verzweifelt an und sagte, dieser Mann pinkle über all hin, ins Zimmer, in den Korridor, ins Treppenhaus. Man habe ihm schon über zehnmal gesagt, das gehe nicht, und er verstehe das auch. Aber er pinkle trotzdem über all hin. Ich besuchte daraufhin den


Mann, der sich als schwer depressiv erwies. Er sagte zu mir: „Hier kann ich nicht mehr lange bleiben“. Ich fragte ihn, warum. Da sagte er, er pinkle immer auf den Boden, die anderen würden das nicht ertragen, er habe Schuld an der misslichen Situation und man habe ihm gesagt, er müsse da raus. Da wurde mir klar, dass die Pflegerinnen die Situation wirklich nicht mehr ertrugen. Weil ich wusste, dass die Ehefrau des Mannes bereits in einem Geriatriespital war, fragte ich ihn, ob er auch dorthin wolle. Da sagte er ganz überzeugt ja. Er ging dann tatsächlich ins Geriatriespital, wo-

jemand regelmässig in sein Zimmer verwiesen wird oder eine „angespannte“ Stimmung herrscht. Und das ermöglicht, aggressionsauslösende Situationen rechtzeitig entschärfen. Spöndlin: Sind normale Alters- und Pflegeheime grösser? Schaller: Wir haben auch 58 BewohnerInnen. Dubler: Finanziell gesehen wären 80 Plätze optimal. Damit lässt sich ein Heim am besten finanzieren. Unter dem Gesichtspunkt der Betreuungsqualität

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Interessant ist, dass unsere Mitarbeitenden multikulturell zusammengesetzt sind und ganz unterschiedliche Werthaltungen zum Ausdruck brachten. Der Umgang mit Aggression ist je nach persönlicher Biographie sehr unterschiedlich. Hansrudolf Schalller

rauf das lästige Gepinkel aufhörte. Das auf den Boden Pinkeln war seine Form des Protests, seine Botschaft, dass er nicht im betreffenden Heim sein wollte. Spöndlin: An allen möglichen Orten auf den Boden zu pinkeln, würdest du als Form von Gewalt bezeichnen? Mascarin: Ja, eindeutig. Dadurch brachte er die Pflegenden ganz gezielt zur Verzweiflung. Dubler: Ich denke, Gewalt und Aggression gehören zum Menschsein, die gibt es überall, bei alten Menschen, bei behinderten und sonst überall. Alte Menschen können sich aber nicht mehr wehren. Deshalb bedürfen sie eines speziellen Schutzes. Wichtig erscheint mir, dass das Heim über eine übersichtliche Struktur verfügt. Das Dandelion ist mit 58 Plätzen ein kleines Haus, man kennt sich, die Wege sind kurz. Ich bekomme ohne besonderen Aufwand mit, was im Alltag abläuft. Ich rede mit den Mitarbeitenden und den BewohnerInnen. Da fällt mir auf, wenn beispielsweise

ist das aber gross. Wichtig ist jedoch, welche Strukturen man den BewohnerInnen und dem Personal bietet. Schaller: Ich habe an der Fachhochschule im Bereich der systemischen Organisationsberatung einen Lehrauftrag zum Thema ‚die Passung von Person und Organisation’. Dabei ging es um die Problematik „der Funktion einer Person im Spannungsfeld zwischen der Organisation ( und ihren Kernprozessen) und der Persönlichkeit (und ihren Kernkompetenzen)“. Das ist ein ganz neuer Ansatz, den ich an meinem heutigen Arbeitsplatz auch anwandte. Ich hatte die Chance, in die Leitung des Pflegewohnheims Bruderholz in Basel einzusteigen, als dieses neu zum psychogeriatrischen Betreuungszentrum aufgebaut werden sollte. Ich hatte den Auftrag, ein Konzept zu erstellen. Dazu gingen wir hin, versammelten alle Mitarbeitenden, und fragten sie: Was ist euch wichtig, welche sind eure Werte, Neigungen, Qualitäten? Das sammelten wir und fassten es zu sechs Schwerpunkten zusammen, denen wir nachzuleben

vereinbarten (selbstverständlich unter Berücksichtigung des Leitbildes der Unternehmung). Das ist ein anderer Ansatz als die in vielen Organisationen noch vorhandenen, eher beschaulichen oder wildwüchsigen aktivistischen Arbeits- und Funktionsteilungen. Die Erfahrungen mit unserem Ansatz sind gut. Interessant ist, dass unsere Mitarbeitenden multikulturell zusammengesetzt sind und ganz unterschiedliche Werthaltungen zum Ausdruck brachten. Der Umgang mit Aggression ist je nach persönlicher Biografie sehr unterschiedlich. An den von mir durchgeführten Weiterbildungen in unterschiedlichen Heimen erlebte ich öfters, dass Kursteilnehmerinnen in Tränen ausbrachen, als das Thema Gewalt angesprochen wurde. Es stellte sich dann heraus, dass die Betreffenden in ihrem Leben selbst Opfer von massiven Übergriffen geworden sind, sei dies in der Familie, Partnerschaft oder etwa in Kriegsgebieten. Für sie war zum Teil normal, was ich als Übergriff ansah. Sie hatten diese Form von Gewalt verinnerlicht. Das muss man aufarbeiten, was schmerzvoll ist und von den Betroffenen verlangt, sich darauf einlassen. Dubler: Solche Traumata aufzuarbeiten wäre sicher wichtig. Aber ob dies Aufgabe des Arbeitgebers ist, möchte ich bezweifeln. Ich bin weder dazu ausgebildet noch fehlt mir die Zeit dazu. Bedenken habe ich auch bezüglich der Privatsphäre. Ich finde es problematisch, von den Mitarbeitenden am Arbeitsplatz eine Aufarbeitung von Traumata zu verlangen, die zum höchst persönlichen Bereich ihrer Biografie gehören. Schaller: Aber die Mitarbeitenden tragen ihre persönlichen Traumata in den Betrieb hinein. Zu einem grossen Teil übernehmen wir die Muster im Umgang mit Konflikten von unseren Eltern, auch wenn wir als Erwachsene gewisse Verhaltensmuster ablegen können. Eine gewisse Grundprägung ist jedenfalls da, mit der wir uns bewusst auseinandersetzen sollten, wenn wir im Beruf mit abhängigen Menschen zu tun haben. Innerhalb meiner langjährigen Erfahrung ist mit ausgefallen, dass vielfach etwa die gleichen Mitarbeitenden von Gewalt durch HeimbewohnerInnen betroffen sind. Diese müssen also in ihrem 4.09 / soziale medizin

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dossier • pflege

Verhalten, Umgang oder ihrem „Sein“ irgendetwas auslösen. Das kann ganz banal sein. So ist es unvorsichtig, jemandem den Rücken zuzukehren, von dem ich aus seiner Biografie weiss, dass er in Stresssituationen ein gewisses negatives Aggressionspotenzial aufweist – etwa weil seine Ehefrau erzählt hat, dass er sie in diesen Situationen immer wieder geschlagen hat. Wenn man HeimbewohnerInnen einer Situation aussetzt, die sie als Übergriff empfinden können, ist das Risiko einer gewalttätigen Reaktion natürlich ebenfalls da. Spöndlin: Können Sie ein Beispiel nennen? Schaller: Etwa wenn die Pflegenden einem Bewohner, der an Inkontinenz leidet, die Unterlagen wechseln wollen, während er schläft. Er spürt Griffe zwischen seine Beine, wacht auf und realisiert nicht, was mit im passiert. Dass er sich da wehrt, ist nachvollziehbar und eine normale Reaktion. In diesem Fall ist es nicht der Bewohner, der – in Anführungsstrichen – ein „falsches Verhalten“ an den Tag gelegt hat. Sondern die Pflegenden haben sich falsch verhalten oder sind nicht korrekt vorgegangen. Dubler: Man muss die Struktur eines Hauses den Bedürfnissen der BewohnerInnen anpassen. Ich erinnere mich, dass früher die BewohnerInnen morgens um halb acht frühstücken mussten. Oft war es auch noch Aufgabe der Nachtwache, den BewohnerInnen die Stützstrümpfe anzuziehen. Also wurden sie entsprechend früh geweckt, ob das nun ihrem Tagesrhythmus entsprach oder nicht. Das konnte natürlich Aggressionen wecken. Heute tut man das nicht mehr. Heute lässt man den BewohnerInnen ihre Vorlieben. Wenn einer will, kann er im Pijama frühstücken. Wenn das Personal die Gewohnheiten der BewohnerInnen kennt, kann man sich darauf einstellen. Dann muss nicht gegen den Willen des Betroffenen gehandelt werden. Das reduziert die Auslöser für mögliches aggressives Verhalten. Schaller: Ich finde es wichtig, dass man HeimbewohnerInnen nicht stigmatisiert, wenn sie aggressiv geworden sind. Ich dulde es beispielsweise nicht, dass man von „schwierigen“ Bewohnern re-

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det. Denn damit zeigt man ja, dass man sich mit deren Verhalten nicht mehr auseinandersetzen will. Der Betreffende ist einfach „schwierig“. In Wirklichkeit ist er nicht schwierig, sondern er legt ein Verhalten an den Tag, das uns Schwierigkeiten bereitet. Umgekehrt habe ich auch keine „schwierigen“ Mitarbeiten. Für diese gilt dasselbe. Wie schon gesagt, ist mein Ziel, Situationen, die als

Schaller: Daran zeigt sich, wie wichtig die Normen sind, die ich in einer Institution setze. Wenn mein oberstes Ziel reibungslose Abläufe sind, wenn das Haus immer wie aus dem „Trückli“ heraus geputzt sein soll, stören die Verhaltensweisen von Menschen mit einer Demenzkrankheit eben. Wenn ich mir hingegen zum Ziel setze, dass sich die BewohnerInnen wohl fühlen sollen, stört

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Ich bin überzeugt, dass es richtig ist, dass alte Menschen beim Eintritt in ein Heim weiterhin von ihrem Hausarzt oder ihrer Hausärztin betreut werden und nicht von einem Heimarzt. Ruth Mascarin

schwierig empfunden werden, wertfrei genau zu beschreiben und nach Lösungen zu suchen. Dubler: Bei uns sind Situationen, die man an anderen Orten als schwierig empfinden wird, eben normal. Ein Beispiel: Einmal hatte ich eine Pflegefachfrau aus einem Akutspital am Telefon, die für einen unserer Bewohner zuständig war, der einen Schenkelhalsbruch erlitten hatte. Sie schimpfte, der Betreffende wolle ständig aus dem Bett steigen, obwohl Bettruhe angezeigt sei, auch sei er sehr verwirrt und schwer ansprechbar. In einem anderen Fall beklagte eine Pflegeperson, die Patientin esse nicht am Tisch und laufe ständig umher und hinterlasse überall Brosamen. Ich musste sagen, das sei bei uns normal, darüber würden wir uns nicht aufregen. Ein anderes Beispiel sind Männer, die sich nicht rasieren lassen. Das nimmt man nicht überall einfach so hin. Wir stören uns daran aber nicht. Dann rasiert man den Betreffenden halt ein anderes Mal. Vielleicht kann man die Rasur ja mit einem schönen Bad kombinieren. Und dann ist er der Bewohner dafür zu haben.

das nicht. Manchmal kommt man dabei aber mit den Vorstellungen der Angehörigen in Konflikt. Kürzlich sollte eine BewohnerInnen unseres Heims beispielsweise zu einem Familienfest abgeholt werden. Die Angehörigen verlangten, dass sie dann ein ganz bestimmtes Kleid trage. Als es soweit war, sträubte sich die Frau aber, dieses Kleid anzuziehen. Sie wollte ein anderes. Für uns ist klar, dass wir in einer solchen Situation den Willen der Betroffenen respektieren. Sie entscheidet, was sie anzieht. Die Angehörigen wollten das aber nicht einsehen und waren verstimmt. Das sind Konfliktsituationen, die auf verschiedene Werthaltungen zurückzuführen sind. Dubler: Bei uns muss man eben ein gewisses Chaos ertragen können. Eine Pflegefachfrau aus dem Spital, die sich vor allem am Medizinisch-Technischen orientiert, kann das nicht unbedingt. Und dann ist sie nicht in der Lage, bei uns zu arbeiten. Ich lege bei der Auswahl der Mitarbeitenden grossen Wert darauf, dass sie auch ein Durcheinander ertragen können. Unsere BewohnerInnen ticken anders, sie fühlen sich unwohl,


junge Mitarbeiterinnen habe ich selten. Gerade jetzt befindet sich eine junge Frau in der Probezeit. Und leider wird sie nicht bleiben, weil sie sich bei uns nicht am richtigen Platz befindet. Schaller: Für mich ist es wichtig, Mitarbeitende zu gewinnen, die nicht an einer gedanklichen Dürre leiden. Sie müssen kreativ sein und sich getrauen, Grenzen zu sprengen und Neues auszuprobieren. Umgekehrt muss die Leitung Kreativität zu lassen? Mascarin: Welche Rolle spielt der Personalschlüssel?

wenn man sie ständig an für uns unverständlichen Handlungen hindern will. Spöndlin: Finden Sie genügend Mitarbeitende, die dazu wirklich in der Lage sind? Schaller: Nach meiner Erfahrung kann man die guten Mitarbeitenden nicht „einkaufen“, sondern man muss sie entwickeln, wenn sie da sind. Die Befähigung zur Pflege in unseren Häusern bringen die wenigsten Leute einfach so mit. Also müssen sie die erforderlichen Fähigkeiten entwickeln, nachdem man sie angestellt hat. In der Pflegeausbildung lernen sie das auch nicht. Dort lernen sie pflegerisches Basiswissen und gewisse medizinisch-technische Fähigkeiten, nicht aber den Umgang mit demenzkranken Menschen. Dubler: Gute Mitarbeitende wachsen nicht an den Bäumen. Das war schon immer so. Wir müssen Leute gewinnen, die sich mit dem Betrieb identifizieren,

die nicht nur wegen des Geldes bei uns arbeiten wollen (dazu können wir zuwenig bieten) und die richtige Werthaltung mitbringen, Mitarbeitende, die etwas Sinnvolles leisten wollen. Toleranz und Liebe zu den Menschen sind ganz wichtig. Anderseits genügt ein grosses Herz allein nicht. Es braucht ein gehöriges Mass an Fachkompetenz, um den Alltag zu bewältigen. Man bekommt von den Demenzkranken aber auch viel zurück. Ich habe schon Pflegende erlebt, die zu uns wechseln wollten, weil sie hier eine langfristige Beziehung zu den BewohnerInnen aufbauen können. Nach meiner Erfahrung gewinnen wir eher Fachkräfte in einem gewissen Alter für die Langzeitpflege. Bei uns braucht man eine gewisse Reife. Meine Mitarbeitenden sind tatsächlich – von einigen Ausnahmen abgesehen - nicht speziell jung. Die meisten sind Frauen mit reicher Familienerfahrung, deren Kinder schon erwachsen sind. Diese kennen den Umgang mit schwierigen Situationen. Ganz

Dubler: Sicher, wir brauchen ein Minimum an Personal, um den Bedürfnissen der BewohnerInnen gerecht zu werden. Wenn aber einmal der „Wurm drin“ ist, können Sie so viele Leute anstellen, wie Sie wollen. Es wird höchstens noch schlimmer. Damit meine ich, dass nicht nur die Anzahl Mitarbeitender relevant ist, sondern dass das Team gut funktioniert. Wichtig ist ein Grundvertrauen und ein Betriebsklima, das es zulässt, Kritik zu üben und Fehler zuzugeben. Erholungsphasen für die Mitarbeitenden sind allerdings enorm wichtig. Auch wenn Sie wenig Personal haben, müssen Sie darauf achten, dass die Ferien bezogen und Überstunden eingezogen werden. Darauf achte ich sehr. Ich stelle auch fest, dass für viele Mitarbeitende ein 100-Prozent-Pensum zu viel ist, was sich dann in Krankheitsabsenzen äussert. Spöndlin: Wenn ich Sie so höre, erscheint mir die Langzeitpflege eine schier übermenschliche Aufgabe zu sein? Schaller: Sie ist sehr anspruchsvoll und verfügt in der Gesellschaft leider über ein minderes soziales Image, das stimmt. Aber sie hat in den letzten Jahren ein sehr hohes Qualitätsniveau erreicht. Das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir über Missstände sprechen. Eine grosse Herausforderung wird der sich abzeichnende Personalmangel sein. Im Gegensatz zur Akutpflege dürfte sich dieser im Langzeitbereich stärker auswirken. Spöndlin: Regine Dubler, Ruth Mascarin, Hansrudolf Schaller, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. 4.09 / soziale medizin

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dossier • eHealth

„eHealth“ fördert und fordert die Zusammenarbeit Versichertenkarte, elektronisches Patientendossier und medizinische Onlinedienste

Auch im Gesundheitswesen bricht das elektronische Zeitalter an. Bund und Kantone fördern dies mit einer „eHealth“-Strategie. Den einen kann es dabei nicht schnell genug gehen. Andere haben Bedenken, etwa wegen des Datenschutzes. Interview: Ruedi Spöndlin

Soziale Medizin: Wer ‚eHealth’ hört, denkt meistens an die elektronische Versichertenkarte. Was ist sonst noch darunter zu verstehen? Adrian Schmid: Es gibt verschiedene Definitionen von „eHealth“. Für die vom Bundesrat verabschiedete „eHealth-Strategie“ steht folgende Idee im Vordergrund: Das Potenzial der modernen Kommunikations- und Informationstechnologie für die Informationsflüsse im Gesundheitswesen, die heute oft noch auf Papier erfolgen und nur wenig koordiniert sind, soll genutzt werden. Die im Gesundheitswesen relevanten Informationen sollen elektronisch erfasst, ausgetauscht und ausgewertet werden. Das immer im Interesse der Patientinnen und Patienten. Diese stehen im Zentrum. SM: Geht es dabei eher um administrative Belange oder auch um medizinische Informationen? Schmid: Beides. Gegenstand von „eHealth“ können eine Abrechnung sein oder eine Kostengutsprache für den Eintritt in ein ausserkantonales Spital, aber beispielsweise auch ein Röntgenbild oder ein Laborbericht. Am offensichtlichsten ist der Nutzen bei der Verschreibung von Medikamenten. Heutzutage kann es vorkommen, dass ein Patient zuerst im Spital behandelt wird

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Unser Gesprächspartner: Adrian Schmid, Leiter der Geschäftsstelle Koordinationsorgan eHealth Bund-Kantone

und dann den Hausarzt aufsucht. Zudem kauft er noch frei erhältliche Medikamente ohne ärztliche Verschreibung. Verschiedenste Leistungserbringer geben ihm also Medikamente ab oder verschreiben ihm welche, ohne zu wissen, was er insgesamt für einen Medikamentenmix zu sich nimmt. Für den Patienten ist dies gefährlich. Deshalb sollten alle beteiligten Fachpersonen wissen, welche Behandlungen er schon in Anspruch genommen hat. SM: Das bedeutet also, dass verschiedene Leistungserbringer wie Ärztinnen, Ärzte, Apotheken, Spitäler, Spitex und andere Therapeutinnen und Therapeuten ans gleiche Datenverarbeitungssytem angeschlossen sein sollen? Schmid: Nein, das trifft nicht ganz zu. Es ist vielmehr so, dass die betreffenden Leistungserbringer Zugang zum Datenaustauschsystem haben sollen, so-


southertabita | flickr

fern der Patient oder die Patientin damit einverstanden ist. Was wir nicht wollen, ist ein so genannter Datenfriedhof. Es soll nicht einfach jede Information in einem für andere Leistungserbringer zugänglichen elektronischen Dossier abgespeichert werden. Nur die wirklich behandlungsrelevanten Informationen sollen vom einen beteiligten Leistungserbringer zum anderen weiter gegeben werden. Diese Weitergabe darf aber nur mit dem Einverständnis des Patenten oder der Patientin möglich sein.

SM: Wenn man in der Apotheke ein Medikament kauft, darf das die Apothekerin nur dann elektronisch registrieren, wenn der Patient zustimmt? Schmid: Das ist grundsätzlich richtig, wenn mit „registrieren“ die Weitergabe an andere Leistungserbringer gemeint ist. Schon heute werden in der Apotheke alle von einem Patienten eingenommenen Medikamente in ein Dossier eingetragen. Für die Weitergabe muss die Form der Zustimmung noch festgelegt werden. Grundsätzlich kann

sie schriftlich oder mündlich erfolgen. Ausschlaggebend wird sein, was sich in der Praxis am besten bewährt. Wichtig ist der Grundsatz, dass die Patientinnen und Patienten über die Preisgabe und Verwendung ihrer Daten bestimmen können. SM: Hat das von Bund und Kantonen getragene „eHealth“-Projekt zum Ziel, eine neue Entwicklung anzustossen oder eine ohnehin schon laufende Entwicklung in den Griff zu bekommen? 4.09 / soziale medizin

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dossier • eHealth

Schmid: Es geht um beides. Ein Motiv zur Entwicklung einer eHealth-Strategie ist die Feststellung, dass technische Instrumente, die in anderen Branchen längst etabliert sind – denken wir nur an eBanking, Online-Shopping oder das Buchen von Reisen – im Gesundheitswesen noch wenig genutzt werden. Ein anderes ist die Koordination von verschiedenen Systemen, welche von unterschiedlichen Akteuren im Gesundheitswesen entwickelt werden. Die Schaffung verschiedener, nicht kompatibler Systeme wäre eine Fehlinvestition, für welche letztlich die Patientinnen und Patienten aufzukommen hätten. Es soll aber auch Raum für Einzelinitiativen bestehen. Wir arbeiten aber an einer Architektur, die jedem, der ein Datenverarbeitungssystem im Gesundheitswesen aufbaut, zeigt, in welche Richtung er gehen muss, damit er mit den anderen Akteuren kompatibel bleibt. Zurzeit stehen wir in einer Phase, in der die Kantone mit Modellversuchen starten. Die Erfahrungen aus diesen Projekten werden die Entwicklung des Gesamtsystems beeinflussen. SM: Die Kantone werden also eine Datenbank schaffen, in welcher die verschiedenen Leistungserbringer des Gesundheitswesens alle relevanten Informationen über ihre Patientinnen und Patienten eingeben? Schmid: Nein, eine zentrale Datenbank ist nicht geplant. Die betreffenden Daten bleiben dezentral bei den Leistungserbringern gespeichert – die Laborwerte beispielsweise, die eine Hausärztin gemessen hat, also in deren Praxis - oder bei einem von ihnen beauftragten Dienstleister. Diese Daten sollen bei Bedarf, immer das Einverständnis der betroffenen Patientin oder des Patienten vorausgesetzt, aber von anderen Leistungserbringern im Computer der Hausärztin abgerufen werden können. Es gibt dazu einen internationalen technischen Ansatz: IHE – für „Integrating the Healthcare Enterprise“. Diese Initiative hat zum Ziel den Informationsaustausch zwischen IT-Systemen im Gesundheitswesen zu standardisieren und zu harmonisieren. Mit IHE ist es grundsätzlich möglich, die unabhängigen Informatiksysteme von Arztpraxen, Apotheken oder Spitälern so anzupassen, dass sie miteinander kommunizieren

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können. Die Daten bleiben aber dort, wo sie erhoben wurden, sie werden nicht in einen grossen Topf geworfen. SM: Sollen die bereits heute schon grossen Datensammlungen der Versicherer auch mit diesem System verknüpft werden? Schmid: Nein, die administrativen Prozesse des Abrechnungswesens und das Management der Gesundheitsinformationen werden strikte getrennt bleiben. Deshalb braucht es eine klare Schnittstelle zwischen medizinischen und administrativen Systemen. Dabei gelten die gleichen Datenschutzbestimmungen wie heute schon. Den Versiche-

mittlung widersetzen. In einer Stellungnahme zu „eHealth“ soll der Verband PharmaSuisse ja geschrieben haben: „Der Nutzen des Systems ist in Frage gestellt, wenn die Datenerhebung irgendwie fakultativ ist“. Schmid: Es stimmt natürlich, dass die Begehrlichkeit nach Informationen umso grösser wird, je mehr solche elektronisch zur Verfügung stehen. Deshalb ist das Selbstverständnis wichtig, dass es sich dabei um höchst persönliche Daten handelt und dass die betroffene Person das Recht hat, über diese zu entscheiden. Ein Versicherungsangebot beispielsweise, das den Abschluss einer bestimmten Zusatzversicherung vom

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Das elektronische Patientendossier ist ein unverzichtbares Instrument, um integrierte Versorgungsmodelle umzusetzen.

rern sollen nicht mehr Gesundheitsdaten zur Verfügung stehen als ohne eHealth.

Einblick des Versicherers ins elektronische Patientendossier abhängig macht, ist sicher nicht in unserem Sinn.

SM: Wobei der Datenhunger der Versicherer riesig ist. Schon heute wollen sie immer mehr wissen, und die Gerichte unterstützen diesen Anspruch aus meiner Sicht allzu oft. Schmid: Dieses Problem hat aber nichts mit „eHealth“ zu tun. Die Frage des Datenschutzes gegenüber den Versicherern stellt sich unabhängig, ob man mit Papier- oder mit elektronischen Dokumenten arbeitet.

SM: Die Versicherer stellen ja immer wieder solche Ansprüche, nicht nur die Krankenkassen. Die Invalidenversicherung beispielsweise macht den Ärztinnen und Ärzten Behandlungsauflagen und kürzt unter Umständen Leistungen, wenn diese nicht eingehalten werden (vgl. Soziale Medizin 1.09 S. 55 ff.). Schmid: Bei vielen Menschen weckt „eHealth“ Bedenken wegen des Datenschutzes, die wir ernst nehmen. Andere verbinden „eHealth“ hingegen mit positiven Erwartungen. Die Einstellung zum elektronischen Patientendossier hängt von der Lebenssituation ab. Einem gesunden Dreissigjährigen wird dieses möglicherweise nicht so wichtig sein. Für ihn werden Datenschutzüberlegungen tendenziell im Vordergrund stehen und er wird eher darauf bestehen, gewisse Einträge wegzulassen. Mit zunehmendem Alter, wenn gesundheitliche Probleme häufiger werden, werden viele Menschen aber froh um

SM: Wie ich sehe, wird die informationelle Selbstbestimmung im eHealthProjekt gross geschrieben. Aber wird das in der Praxis auch wirklich funktionieren? Besteht nicht die Gefahr, dass Patientinnen und Patienten unter Druck geraten, ihre Daten freizugeben, um nicht als „schwierig“ zu gelten, damit man ihnen nicht mangelhafte compliance vorwirft. Möglicherweise befürchten sie, das Wohlwollen des Doktors zu verspielen, wenn sie sich einer Datenüber-


ein möglichst vollständiges Patientendossier sein, das es jedem Leistungserbringer ermöglicht, sich rasch ein umfassendes Bild vom Gesundheitszustand zu machen. Gewisse heikle Informationen, etwa über psychische Störungen, werden aber auch ältere Menschen vielleicht lieber weglassen. Und das ist ihr gutes Recht. Man muss sich bewusst sein, dass das elektronische Patientendossier eingeführt werden soll, weil es für die Patientinnen und Patienten einen Nutzen hat, um ihre Sicherheit und die Qualität zu steigern. Das Ziel unseres Projekts ist in erster Linie der Patientennutzen durch höhere Qualität.

SM: Was bedeutet „eHealth“ für frei praktizierende Ärztinnen und Ärzte. Können diese sich auf das elektronische Patientendossier beschränken oder müssen sie daneben noch eine Krankenakte in Papierform führen, um ihrer Dokumentationspflicht genügend nachzukommen? Schmid: Sie können sich auf eine elektronische Dokumentation beschränken. Diese sollte ihnen übrigens eine administrative Erleichterung bringen, da die Patientendaten auch intern rascher abrufbar sind. Ob sie daneben

noch ein Dossier in Papierform führen, ist ihnen überlassen. Gerade in der älteren Generation werden das viele vielleicht noch tun. SM: Haben die Patientinnen und Patienten ebenfalls das Recht, ihr elektronisches Patientendossier einzusehen? Schmid: Ja, das sehen die Datenschutzbestimmungen so vor. Ob das Dossier elektronisch oder in Papierform geführt wird, spielt dabei keine Rolle. Die Ausübung des Einsichtsrechts ist natürlich einfacher, wenn das Dossier elektronisch geführt wird. Die Patientinnen und Patienten sollen die Zugriffs-

rechte auf ihr elektronisches Patientendossier auch selbst verwalten können. SM: Aber ist das nicht gefährlich? Etwa wenn ein Patient beispielsweise einen Blutzuckerwert löscht, den er nicht wahrhaben will. Und dann nimmt er eine ärztliche Behandlung in Anspruch, der Arzt weiss nichts von seinem Blutzuckerwert und es kommt zu einer verhängnisvollen Fehlbehandlung. Schmid: Nein, derartige Löschungen sollte ein Patient nicht vornehmen dürfen. Das elektronische Dossier kann

verschiedene Bereiche aufweisen, solche, die nur Leistungserbringer verändern können und solche, die der Patient verändern kann. So kann es Rubriken geben, in welchen ein Patient beispielsweise seine Befindlichkeit beschreiben wird. Diagnostische Feststellungen und Laborbefunde können hingegen nur Fachleute mit dem entsprechenden Wissen eintragen und ändern. Selbstverständlich gilt auch in diesem, den Fachleuten vorbehaltenen Bereich das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Die Ärztinnen und Ärzte müssen Eintragungen mit ihm besprechen und auf seinen Wunsch Löschungen vornehmen. Sie sollen dabei aber ein Gespräch mit ihm führen und ihm Vor- und Nachteile eines Eintrags erklären. Verlangt ein Patient die Löschung eines Eintrags, und die Ärztin hält das für riskant, kann sie ähnlich vorgehen wie beim Verzicht auf eine medizinisch gebotene Behandlungsmassnahme. Sie hat den Patienten auf das Risiko aufmerksam zu machen und ihn seinen Löschungswunsch allenfalls unterschriftlich bestätigen zu lassen. SM: „eHealth“ soll ja den Datenaustausch und die Zusammenarbeit verschiedener Leistungserbringer fördern. Das gleiche Ziel haben auch Managed Care-Konzepte und Modelle der integrierten Versorgung. Sie wollen die so genannte Schnittstellenproblematik entschärfen. Fördert „eHealth“ integrierte Versorgungsmodelle, oder setzt es solche geradezu voraus? Schmid: „eHealth“ hat Links zu verschiedenen Entwicklungen, die im Gesundheitswesen ablaufen. Eine davon ist tatsächlich Managed Care. Eine integrierte Versorgung, bei der die Behandlungspfade strukturiert sind und jeder Leistungserbringer weiss, was andere schon gemacht haben, ist ohne elektronische Datenverwaltung nicht vorstellbar. Das elektronische Patientendossier ist ein unverzichtbares Instrument, um integrierte Versorgungsmodelle umzusetzen. SM: Zeigen die bestehenden Managed Care-Organisationen denn auch ein besonders grosses Interesse an „eHealth“? Schmid: Ja, das Interesse ist tatsächlich spürbar. Eine funktionierende inte4.09 / soziale medizin

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dossier • eHealth

grierte Versorgung ist allerdings nicht nur eine Frage der Technik, sondern auch des gegenseitigen kennen Lernens und des Willens zur Zusammenarbeit. Man muss wissen, mit wem man zusammenarbeitet. SM: Ein Problem an den Schnittstellen der medizinischen Behandlungskette sind auch die verschiedenen Arbeitskul-

sammenarbeit. Und wenn diese einmal stattfindet, fördert „eHealth“ die Vertiefung der Zusammenarbeit. „eHealth“ ist übrigens auch in Zusammenhang mit der Einführung der Fallpauschalen in den Spitälern wichtig. Diese erhöhen den Effizienzdruck. „eHealth“ erlaubt es nun den Spitälern zunächst einmal, intern effizientere Abläufe zu entwickeln, indem sie rasch sehen kön-

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International hat man die Erfahrung gemacht, dass bei der Entwicklung von ‘eHealth’ zuviel in die Technik investiert wird und zuwenig in die Menschen, die damit umgehen.

turen. Für eine funktionierende integrierte Versorgung müsste man diese wohl aneinander angleichen. Schmid: Angleichen nicht unbedingt. Ich denke, man muss wissen, wie der andere arbeitet, was ich von ihm erwarten kann und in welcher Form er seine Informationen an mich weitergibt. „eHealth“ fördert und fordert diese Zu-

nen, was bei einem Patienten gemacht wurde und was dabei heraus kam. Zudem lässt sich der Kontakt zwischen Spitälern und zuweisenden Ärztinnen und Ärzten sowie mit nachbehandelnden Institutionen rationeller gestalten. Gerade zur Vermeidung von so genannten „blutigen Entlassungen“, die viele als Folge der Einführung von Fallpau-

eHealth-Strategie von Bund und Kantonen Der Bundesrat hat am 27. Juni 2007 die „Strategie eHealth Schweiz“ gutgeheissen. «eHealth» soll der Bevölkerung den Zugang zu einem effizienten, sicheren sowie kostengünstigen Gesundheitswesen gewährleisten. Im Rahmen eines gemeinsamen Projektes des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), des Bundesamtes für Kommunikation (BAKOM) sowie der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) wurde ein Dokument dazu erarbeitet. Der Steuerungsausschuss von Bund und Kantonen zur Umsetzung der „Strategie eHealth Schweiz» hat im April 2008 die Aufträge für sechs Teilprojekte erteilt. Die Ergebnisse dieser Aufträge wurden im Rahmen einer Anhörung den Akteuren des Schweizer Gesundheitswesens vorgestellt. Die überarbeiteten Empfehlungen wurden daraufhin dem Steuerungsausschuss von Bund und Kantonen zur Geneh-

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migung unterbreitet: Am 19. März 2009 wurden die Empfehlungen „Standards und Architektur» und am 20. August 2009 die Empfehlungen der anderen fünf Teilprojekte verabschiedet. Die verabschiedeten Empfehlungen bilden die Grundlage für die Umsetzung der „Strategie eHealth Schweiz»- sowie für ein koordiniertes Vorgehen auf nationaler Ebene. Die Entscheide des Koordinationsorgans haben direkt keine Rechtskraft. Sie sind jedoch als Empfehlungen an alle Akteure zu verstehen. Bund und Kantone ihrerseits haben mit einer „eHealth»-Rahmenvereinbarung den Willen bekundet, die Entscheide im Rahmen ihrer Zuständigkeit umzusetzen. Weitere Informationen: www.e-health-suisse.ch

schalen befürchten, kann es nützlich sein, die weitere Entwicklung des Gesundheitszustands eines Menschen nach dessen Spitalaustritt ohne viel Aufwand nachverfolgen zu können. So lässt sich beispielsweise feststellen, welche Reha-Klinik oder andere Nachsorgeeinrichtung für welche Art von Patienten am geeignetsten ist und freie Kapazitäten hat. Solche „eHealth“-Instrumente sind bereits im Aufbau. „eHealth“ erleichtert auch die verschiedenen Qualitätssicherungssysteme. SM: Um die Möglichkeiten von „eHealth“ zu nutzen, ist wohl eine gewisse Weiterbildung nötig. Schmid: Das stimmt. International hat man die Erfahrung gemacht, dass bei der Entwicklung von „eHealth“ zu viel in die Technik investiert wird und zu wenig in die Menschen, die damit umgehen. Deshalb wollen wir entsprechende Aus- und Weiterbildungen fördern. Denkbar ist eine Art übergeordnetes Lehrmittel, das dann von den verschiedenen Weiterbildungsanbietern benutzt werden kann. SM: Es besteht ja die Befürchtung, dass die Einführung von „eHealth“ gerade für frei praktizierende Ärztinnen und Ärzte mit einem hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden sein könnte. Die erforderliche Weiterbildung könnte ein Teil dieses Aufwandes sein, aber auch die Anschaffung neuer Technologie. Interessanterweise kommt diese Befürchtung nicht in erster Linie aus der Ärzteschaft, sondern von den Versicherern, die davor warnen, wegen der Einführung von „eHealth“ könnten die Ärztinnen und Ärzte Tariferhöhungen verlangen. Ist da was dran? Schmid: „eHealth“ ist tatsächlich nicht eine Investition, die sich unmittelbar in Franken und Rappen rechnet. Sie hat aber einen breiten Nutzen, etwa weil man in einer Arztpraxis weniger herum rennen muss, um eine Information zu finden. Es sollte beispielsweise auch zu weniger Fehlmedikationen kommen. Der Nutzen fällt auch an verschiedenen Stellen an und es sind verschiedene Menschen, die davon profitieren. Somit rentiert sich die Investition in „eHealth“ finanziell gesehen über längere Frist dank effizienteren Abläufen schon.


SM: Ist „eHealth“ somit für ältere Praxisinhaber nicht so attraktiv, etwa für solche ab Mitte 50, von welchen es gerade in der Grundversorgung viele gibt? Sie selbst haben kaum mehr einen Nutzen davon, bevor sie in Pension gehen. Schmid: Zum Teil ist die Einstellung zu „eHealth“ eine Generationenfrage. Es gibt aber auch ältere Ärzte, die auf elektronische Dokumentation umstellen, um eher einen Praxisnachfolger zu finden. Wieweit sich „eHealth“ für eine einzelne Praxis lohnt, hängt auch von der Region ab. Wenn „eHealth“ in einer Gegend stark verbreitet ist, ist der Nutzen grösser, als wenn beispielsweise die regionalen Spitäler noch kaum mit technischer Vernetzung arbeiten. Denn „eHealth“ nützt ja dann am meisten, wenn alle Partner, die zusammenarbeiten müssen, darüber verfügen. SM: Werden die Ärztinnen und Ärzte über kurz oder lang gezwungen, „eHealth“ zu benutzen? Schmid: Nein, aus heutiger Sicht sollte sich „eHealth“ auf freiwilliger Basis entwickeln können. Es würde nicht der Schweizer Kultur entsprechen, kurzfristig einen gesetzlichen Zwang zu schaffen. Wir setzen auf Angebot und Nachfrage. Entscheidend wird auch sein, was die Patienten von einer Arztpraxis erwarten. SM: Aber die elektronische Versichertenkarte ist ja beschlossen und wird 2010 obligatorisch eingeführt. Müssen somit nicht alle Arztpraxen elektronisch aufrüsten? Schmid: Pflicht ist vorerst nur, dass die neue AHV-Nummer der Patientinnen und Patienten sowie die Kartennummer in jeder Abrechnung enthalten sind. Das kann auch ohne elektronisches Auslesen der Daten geschehen. Wir denken aber, dass eine elektronische Erfassung der administrativen Daten für jeden Leistungserbringer nützlich sein wird. Der medizinische Teil der Versichertenkarte, welcher das Aufladen gewisser medizinischer Daten erlaubt, muss von einem Arzt oder einer Ärztin nicht benutzt werden. SM: Die elektronische Abrufbarkeit von Gesundheitsdaten wäre natürlich auch für die Forschung interessant. Kann „eHealth“ auch für Forschungs-

projekte genutzt werden? Schmid: Eine Nutzung für Forschungsprojekte ist bis jetzt nicht geplant. Dass die Verwendung anonymisierter Daten zu Forschungszwecken später einmal ermöglicht wird, ist aber nicht auszuschliessen.

Oktober 2009 den Auftrag gegeben, bis Ende 2010 einen Vorentwurf für rechtliche Grundlagen zu unterbreiten. Welche Form diese haben werden, ist noch offen. Möglicherweise wird kein eigenes Gesetz erlassen, sondern bestehende Gesetze entsprechend angepasst.

SM: Die Kompetenzen bei „eHealth“ sind ja kompliziert. Das zeigt schon Ihre Stellung. Ihr Büro befindet sich zwar im Bundesamt für Gesundheitswesen. Aber Sie sind kein Bundesangestellter. Schmid: Doch, der Bund finanziert unsere Stellen, die Kantone kommen dafür mehrheitlich für unser Budget auf. Weil die Kompetenzen im Gesundheitswesen grösstenteils bei den Kantonen liegen, arbeiten wir im Auftrag des Bundes und der Kantone, welche durch die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und – direktoren (GDK) vertreten sind. Wir arbeiten zusammen mit den wichtigsten Akteuren im Gesundheitswesen an der „Architektur eHealth Schweiz“, schlagen Standards vor und koordinieren die verschiedenen kantonalen Initiativen.

SM: Wie viele Personen arbeiten gegenwärtig am „eHealth“-Projekt? Schmid: In den verschiedenen Arbeitsgruppen waren in den letzten zwei Jahren mehr als 100 Personen engagiert. Für die Geschäftsstelle des Koordinationsorgans stehen drei Vollzeitstellen zur Verfügung. Unsere Aufgabe ist vor allem die Koordination. Wir versuchen, die wichtigsten Personen, die mit „eHealth“ zu tun haben könnten, zusammen zu bringen. Denn „eHealth“ wird nicht durch ein in einem Büro erarbeitetes Papier vorangebracht, sondern nur durch die Auseinandersetzung unter allen Interessierten.

SM: Ein eidgenössisches „eHealth“-Gesetz ist nicht geplant? Schmid: Der Bund möchte ein einheitliches Rechtsumfeld für „eHealth“ schaffen. Deshalb hat der Bundesrat im

SM: Welchen beruflichen Hintergrund haben die Personen, die hier an der „eHealth“-Strategie arbeiten? Sind das IT-Fachleute oder Medizinalpersonen? Schmid: Aus dem IT-Bereich kommt niemand von uns, was zeigt, dass die Technik bei „eHealth“ das kleinste Problem ist. Ich komme aus dem gesundheitspolitischen Umfeld und dem Pro4.09 / soziale medizin

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jektmanagement, ein anderer Kollege aus dem Spitalbereich. Eine weitere Kollegin war im Onlinebereich tätig, beim Internetportal ch.ch. Der Umgang mit medizinischen Onlinediensten, die medizinisches Wissen vermitteln, gehört ja auch zur „eHealth“-Strategie. SM: Medizinische Informationsangebote auf dem Internet sind ja schon zahlreich und werden rege genutzt. Sie sollen dazu geführt haben, dass gewisse Patientinnen und Patienten sehr gut informiert sind und den Ärzten mit klaren Vorstellungen gegenübertreten. Was gibt es in dieser Hinsicht zu tun? Schmid: Diesbezüglich gibt es drei Schienen. Einerseits sieht die „eHealth“Strategie den Aufbau eines Gesundheitsportals vor, auf dem sich verlässliche Gesundheitsinformationen finden. Diverse Länder haben solche Portale aufgebaut. In der Schweiz gibt es bisher mehrere private Initiativen und regionale Portale. Die zweite Schiene ist die Qualitätssicherung bei den bestehenden Onlineangeboten durch ein Label oder eine Zertifizierung. Und auf einer dritten Schiene ist vorgesehen, den einzelnen über das Internet eine gesicherte Einsicht ins eigene Patientendossier zu ermöglichen. SM: Viele Onlineangebote mit Gesundheitsinformationen stammen von Gruppierungen, die eine ganz spezielle Ausrichtung haben, etwa eine anthroposophische oder homöopathische. Haben diese auch die Möglichkeit, ein Qualitätslabel zu erlangen? Oder muss man sich dazu an der Schulmedizin ausrichten? Schmid: Wir erteilen keine solchen Labels. Das tun selbständige Organisationen, welche sich dabei nach ihren eigenen Kriterien richten. Ein Onlineangebot mit einer Ausrichtung auf eine bestimmte therapeutische Schule hat aber durchaus eine Chance auf so ein Label. Voraussetzung ist vor allem, dass für die Nutzer erkennbar ist, wie der Dienst ausgerichtet ist, dass die dahinter stehenden Personen erkennbar sind, dass es eine Kontaktperson gibt und dass keine versteckte Werbung betrieben wird. Wenn dies gewährleistet ist, kann auch ein sehr speziell ausgerichteter Onlinedienst den geforderten Qualitätskriterien entsprechen. SM: Die medizinischen Informationen auf dem Internet können die Patientin-

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nen und Patienten auch verunsichern, weil sie widersprüchlich sind. Schmid: Das ist richtig. Deshalb muss die Kompetenz gefördert werden, kritisch und verantwortungsvoll mit den Informationen vom Web umzugehen. Die Zertifizierung mit einem Label ist ein Element dazu. Die Förderung der Gesundheitskompetenz hat durch die Angebote im Internet aber ganz allgemein an Bedeutung gewonnen. SM: Im Zuge der Sofortmassnahmen zur Krankenversicherung werden die Krankenkassen voraussichtlich verpflichtet, ihren Versicherten eine unabhängige Telefonberatung anzubieten. Ist das auch ein Thema im Rahmen von „eHealth“? Schmid: Dabei handelt es sich um eine Form von Telemedizin, von Behandlung auf Distanz. Das ist ein Teilaspekt von „eHealth“. Wichtig ist dabei, dass die Anbieter ein gewisses Qualitätsniveau gewährleisten. Die Dienstleistungen auf diesem Gebiet sind sehr unterschiedlich, dazu gehört auch die TeleHomecare, die Unterstützung von Chronischkranken auf dem Weg der Telekommunikation. In diesem Bereich ist noch sehr wenig standardisiert. SM: Es gibt Formen von Telemedizin, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind, etwa wenn eine medizinische Koryphäe aus Boston eine Operation in der Schweiz am Bildschirm mitverfolgt und Ratschläge gibt. Oder wenn ein schweizerischer Chefarzt eine medizinische Behandlung in Afrika aus der Ferne überwacht. Ist diese internationale Telemedizin auch ein Thema im Rahmen der „eHealth“-Strategie? Schmid: Nein, die Strategie von Bund und Kantonen hat diese Form von Telemedizin gegenwärtig nicht zum Gegenstand. Wir wissen aber, dass diese verbreitet ist. Gewisse Spitäler in Afrika und Asien legen ihre MRI- und Röntgenbilder auf elektronischem Weg internationalen Fachgremien vor. Daran beteiligt sind auch Schweizer Universitätsspitäler. Dabei spielt aber weitgehend das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Der Datenschutz scheint in diesem Bereich kein Problem zu sein, da die Befunde und Bilder in der Regel anonym übermittelt werden, ohne Namen des Patienten.

SM: Zum Schluss noch eine generelle Frage. Besteht ein Risiko einer Zweiteilung unserer Gesellschaft durch die ITTechnologie? Ist es möglich, dass Menschen, welche Online-Dienste nicht zu nutzen wissen, nicht mehr in den Genuss einer gleich guten Medizin kommen? Etwa weil sie nicht mit dem gleichen Vorwissen den Ärztinnen und Ärzten gegenüber treten können. Schmid: Nein, auf der Seite der Leistungserbringer wird es zwar einen gewissen Druck geben, moderne Informationstechnologien zu nutzen. Auf der Seite der Patientinnen und Patienten wird das aber nicht der Fall sein. Wer diese Technologien nicht nutzt und medizinische Hilfe benötigt, kann nach wie vor sicher sein, best möglich umsorgt zu werden – ja sogar besser als heute, weil die Ärztinnen und Ärzte über mehr Informationen verfügen. Um Menschen, die den Umgang mit Computern nicht kennen, die Nutzung des elektronischen Patientendossiers zu ermöglichen, haben wir den Vorschlag in die Diskussion gebracht, dass man eine Vertrauensperson bezeichnet, die stellvertretend das Dossier verwaltet. Das kann ein Hausarzt oder eine Hausärztin sein. Im Genfer Modellversuch ist ein so genannter „médecin de confiance“ vorgesehen. Grundsätzlich könnte aber auch jemand von den Angehörigen die Vertrauensperson sein. Wichtig ist, dass sich die Leistungserbringer im Gesundheitswesen ernsthaft mit dem Nutzen von „eHealth“ auseinandersetzen. Die IT-Technologie bringt Änderungen, überall. Jede Branche, die sich diesen Veränderungen gestellt hat, hat das aber aus Nutzenüberlegungen getan. Auch im Gesundheitswesen kommt es nur dann zu Veränderungen, wenn der Nutzen belegt ist. Wir denken, es ist besser, sich aktiv auf diese Entwicklung einzulassen, Initiative zu ergreifen, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen etwas anzureissen. Unsere Aufgabe sehen wir auch darin, möglichst viele Betroffene zu einer aktiven Auseinandersetzung zu motivieren. SM: Adrian Schmid, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.


dossier • eHealth

Assoziationen zu “eHealth“

Wieviel elektronische Offenheit darf (es) sein? Als ich das erste Mal den Begriff eHealth hörte, war meine spontane Assoziation: e und Health? Meine Gesundheit ist doch nicht e(-lektronisch)! Mein Körper ist real, materiell vorhanden, bei allen geistigen, teilweise auch ent-körperten Aktivitäten wie der Meditation, also meine Health ist auf gar keinen Fall e, weder die körperliche noch die geistige!

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och das ist gar nicht das Thema des vom BAG unter bundesrätlicher Führung lancierten und von den Kantonen mitgetragenen Projektes „eHealth“. Es geht, einmal mehr, um die elektronische Vernetzung von Leistungserbringern im Gesundheitswesen, die in einem Datensystem zusammengeschlossen werden sollen. Verglichen wird die Projektidee von einem der Verantwortlichen mit dem „eBanking“, das ja mittlerweile etabliert und funktionell ist. Ja? Aber nicht bei mir, ich (ver-)traue dem „eBanking“ und dessen Datensicherheit ebenso wenig wie mir die Idee einer allvernetzenden eHealth sympathisch ist. Altbacken? Ja, mag sein. Zum Beispiel: Habe ich einen Bankauftrag zu erledigen, so gehe ich an den Schalter meiner Hausbank, eine nette, persönliche Unterhaltung gratis mit eingeschlossen. Oder: Habe ich ein Gesundheitsproblem, so konsultiere ich meinen Hausarzt respektive dessen Vorzimmerdame, die entweder vermittelnd oder indirekt mein Problem löst, nette Unterhaltung auch hier inklusive. Der Hauptunterschied zwischen „eHealth“ und „eBanking“ ist wohl der, dass Letzteres nur von mir initiiert und verwaltet werden kann, beim Ersteren hingegen von mir zwar ein Einstiegs-Einverständnis abgegeben werden soll, danach jedoch die Datenverwaltung bei allen anderen

läge und damit auch die Kontrolle über die mich betreffenden Inhalte. Schliesslich soll die elektronische Plattform Leistungserbringer vernetzen, nicht die Patientinnen und Patienten. „eHealth“ würde also auf lokalen Datenbanken, zu welchen die Hauptakteure, die Patientinnen und Patienten, keinen Zutritt hätten, stattfinden. Ebenso wenig aber auch die Versicherer - ausser der „Schnittstelle Rechnungsstellung“. Gerade bei diesen Thema und der virtuellen Sicherheit meldet sich mein Misstrauen wieder. Und wie immer kommt alles Gute aus den USA (mit seinem beispielhaften Gesundheitswesen ...) und trägt den tollen Namen IHE („integrating the health care entrerprises“). Ah ja, also auch hier sorgt der beliebte Begriff Integration für Erfolg. Integrierte Patienten geben also

tausch etc. Leider wurde dabei verschwiegen, wie ineffizient die Datenleitungen sind und wie mühsam, unflexibel und komplex die Handhabung (kein integriertes Schreibsystem à la Word u.ä.) gestaltet ist. - So entzaubert der Alltag die Heilversprechen und Allmachtsphantasien der IT-Adepten meistens schneller als erahnt. „Nutzen und Qualität“ sollen mit dem eHealth-Projekt für die Patienten erhöht werden. Es bleibt die offene Frage: Von wem wird das System (dezentral) verwaltet? Eine Datenbank ist nur so gut, wie sie bewirtschaftet, sprich inhaltlich aktualisiert wird: ohne viel Arbeitsaufwand keine Qualität, wenig Nutzen. Wie e-literat und e-willig sind frei praktizierende Ärztinnen und Ärzte? Die vermeintliche Selbstverwaltung der Patienten ist auf den zweiten Blick gar keine, mögliche Kompetenzgerangel sind also bereits ausgeschlossen. Die Data-Hoheit liegt eindeutig bei den Leistungserbringern. „eHealth» meint eigentlich eDiseaseManagement, sollte ich meine eigene eAkte verwalten, so würde diese zum eIllness-Dokument (subjektives Krankheitserleben) mutieren. Aber das wurde

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Die vermeintliche Selbstverwaltung der Patienten ist auf den zweiten Blick gar keine, mögliche Kompetenzgerangel sind also bereits ausgeschlossen.

ihre Gesundheitsdaten an ein die Leistungserbringer integrierendes System ab. Wollen „die Leistungserbringer“ das überhaupt? Will das der einzelne Hausarzt, die Hausärztin? Meiner wohl kaum ... aber der ist möglicherweise so sonderbar wie ich misstrauisch, nicht zu vergessen, ein wenig altbacken sind wir beide. Apropos: Im Gesundheitsdienst, in dem ich tätig bin, haben wir diese „elektronische Revolution“ bereits hinter uns. Die ePa (elektronische Patientenakte) wurde uns als Wunderwerk angepriesen, das alle Vernetzungs- und sonstigen Probleme löst, sowohl die Behandlungskontinuität sicherstellt als auch die Effizienz, den fachlichen Aus-

ja bereits ausgeschlossen, indem den Leistungsbezügern die Fachbereiche erst gar nicht zugänglich sein sollen. Die Datengeber sind mit den Datenverwaltern nicht identisch. Der gläserne Patient, mit Einsichtsrecht (wie gehabt), aber ohne Kontrolle über den Dateninhalt und den Datenfluss? Und der Datenschutz? Die Schweizerische Ärztezeitung druckte bereits 2003 (Nr. 41) ein Editorial zu eHealthcare, die „care“ (Pflege/ Sorge) ist schon weggefallen: „Who cares?“ könnten wir also fragen ... Lenka Svejda-Hirsch, Ethnologin, Herausgeberbeirat Zeitschrift Soziale Medizin 4.09 / soziale medizin

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(sich) informieren, kommunizieren, entscheiden und handeln Gesundheitskompetenz zwischen Gesundheitsversorgung, Public Health und Politik

Die Anforderungen an die Menschen, zwischen gesunden oder ungesunden Nahrungsmitteln zu entscheiden, sich im Gesundheitswesen selbständig zu orientieren, Leistungen zu wählen oder etwa über Therapien oder die Unterbrechung von Therapien zu entscheiden, haben stark zugenommen. Gesundheitskompetenz besteht darin, gesunde Entscheide zu treffen. Gesunde Entscheide setzen Information und Verstehen voraus. von Therese Stutz Steiger Public-Health-Expertin; Mitarbeit: Doris Summermatter Kaufmann, Public- Health- Expertin

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ie Artikel von Erika Ziltener (Soziale Medizin 3.08) und Angie Hagmann (Soziale Medizin 1.09) haben die Frage der Gesundheitskompetenz vorwiegend aus dem Blickwinkel der Gesundheitsversorgung reflektiert. Der folgende Beitrag soll nebst dem medizinischen auch den gesamtgesellschaftlichen Kontext beleuchten. Dass soziale, ökonomische und Umweltfaktoren den Lebensstil, Erkrankungsrisiken und Lebenserwartung negativ beeinflussen können, ist im Bewusstsein von Gesellschaft und Politik zu wenig verankert. Selbst die Akteure der Gesundheitsversorgung beziehen Gesundheitskompetenz im breiteren Sinne ungenügend ein und fokussieren primär auf Gesundheitskompetenz im medizinischen Bereich. Gesundheit ist eine persönliche und gleichzeitig eine höchst politische Angelegenheit. Das Gesundheitssystem ist komplexer geworden; auf Grund der demographischen Entwicklung und der begrenzten Mittel wird von Bürgerinnen und Bürgern zunehmend Mit- und Eigenverantwortung gefordert. Dies lässt an ähnliche Forderungen im Zusammenhang mit Empowerment erinnern. Neu an der Gesundheitskompetenz ist, dass sie im engeren und weiteren Gesundheitsbereich ermöglicht, diese Verantwortung sowohl auf Angebotsseite als auch auf Nutzerseite zu entwickeln.

Gesundheitskompetenz – Begriffsbestimmung: Aus der Sicht von Public Health Gesundheitskompetenz wird als umfassendes Konzept verstanden, das es dem Individuum erlaubt, sich mit Hilfe seines sozialen Umfeldes im und ausserhalb des Gesundheitssystems gesundheitsbewusst zu verhalten bzw. die gesellschaftliche und politische Umwelt so zu beeinflussen, dass gesundheitsbewusstes Verhalten möglich ist. Im Krankheitsfall ist sowohl den an Diagnose, Heilung und Gesundheitsförderung beteiligten Professionellen als auch den PatientInnen bewusst zu machen, dass der autonome und selbstbestimmte Mensch, der Mitverantwortung für seine Gesundheit wahrnehmen will, im Zentrum steht. Die Definition der Gesundheitskompetenz bietet ähnliche Herausforderungen wie die Definition der Gesundheit selber. Es kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel wir diese Kompetenz reflektieren. Wird von der Ottawa Charta (1) oder den sozialen Determinanten ausgegangen, stehen salutogene Konzepte wie Lebensqualität und Le-


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Sicherheit und für gesundheitsförderliche Arbeitsbedin­gungen sowie eine angemessene Balance zwischen Beruf und Privatleben; e) Gesundheitspolitik: Informiertes gesund­heitspolitisches Handeln (Eintreten für Gesundheitsrechte, Stellungnahmen zu Gesundheitsfragen, Mitgliedschaften in Patienten- und Gesundheitsorganisatio­nen). Quelle: Kickbusch (2006)

benskompetenz im Vordergrund, in der Gesundheitsversorgung eher das Risiko- und Krankheitsmanagement und damit die Orientierung an den Defiziten. Kickbusch und Maag (2006) haben Gesundheitskompetenz definiert als die Fähigkeit des Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken. Diese Definition umfasst fünf wichtige Bereiche: a) Persönliche Gesundheit: Individuelle Ge­staltung der Gesundheit. Wissen und

An­wendung von entsprechendem Verhalten auch bei der Betreuung der Familie; b) Systemorientierung: Die Fähigkeit, sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden und gegenüber den Gesundheitsberufen als kompetente/r Partner/in aufzutreten; c) Konsumverhalten: Die Fähigkeit, Konsum- und Dienstleistungsentscheidungen unter gesundheitlichen Gesichtspunkten zu tref­fen; d) Arbeitswelt: Unfälle und Berufskrankheiten vermeiden, Einsatz für die

Diese Begriffsbestimmung meint eine Lebenskompetenz, welche die zahlreichen Entscheide im Umgang mit Gesundheitspotenzialen und –defiziten unter dem Aspekt der Gesundheit im Blick hat. Wie eingangs angedeutet, ist das Konzept von Gesundheitskompetenz vielschichtig und variiert je nach Perspektive. Für die Arbeit im Bereich Gesundheitskompetenz, sei es Forschung, Evaluation oder Intervention, ist jedoch zumindest eine Arbeitsdefinition vonnöten. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) beispielsweise hat sich für die oben genannte Definition von Kickbusch et al. (2005) entschieden, da sie vor allem umsetzungsorientiert ist, während andere Definitionen für den Forschungsbereich oder für einen einzelnen Sektor wichtig sind. Allerdings muss man je nach Art einer Studie oder eines Umsetzungsprojektes den Begriff meist einschränken und damit auf bestimmte Aspekte der Gesundheitskompetenz fokussieren. Ende August fand in Zürich die Jahreskonferenz von Public Health Schweiz zu diesem Thema statt. Sie stellte die Bereiche Bildung, Arbeit und Wirtschaft sowie die Gesundheitsversorgung ins Zentrum. Beleuchtet wurden aus dieser Perspektive die Chancen, die sich in den entsprechenden Bereichen aus dem Konzept der Gesundheitskompetenz für die Verbesserung von Rahmenbedingungen ergeben. In der Schlussrunde wurde ein Modell für die Situierung von Health Literacy gezeigt. Darauf ist sehr gut ersichtlich, wie Salutogenese und Pathogenese, wie Ressourcen- bzw. Risiko4.09 / soziale medizin

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dossier • gesundheitskompetenz

orientierung und die Gesundheitsdeterminanten miteinander verknüpft sind. Gesundheitskompetenz muss nicht nur in der Bevölkerung gefördert werden, auch Leistungserbringer, Krankenversicherungen, Bildungswesen, Arbeitgeber und Wirtschaft müssen darauf sensibilisiert werden, damit sie die nötigen Rahmenbedingungen schaffen und selber bereit sind für den herausfordernden Umgang in Augenhöhe mit Menschen zur Heranbildung einer gemeinsamen Gesundheitskompetenz. In multisektoralen Projekten sind die wichtigen Partner systematisch zu identifizieren und in deren Prozessgestaltung mit einzubeziehen. Gesundheitskompetenz befähigt Personen zur Selbstbestimmung und zur Übernahme von Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit bezüglich ihrer Gesundheit. Sie ist eine Voraussetzung für die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu finden, zu gewichten, zu verstehen und Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen. Die gute Gesundheit und die hohe Lebenserwartung werden bekanntlich nicht ausschlaggebend durch die medizinischen Leistungen bestimmt. Mehrere Studien weisen darauf hin, dass der Gesundheitszustand einer Bevölkerung in den Industrieländern stärker durch sozio-ökonomische Faktoren und durch den Lebensstil bestimmt wird als durch die erbrachten medizinischen Leistungen (OECD, 2006) (2). Gesundheitsbewusstsein und damit Gesundheitskompetenz müssen im Alltag und auf gesellschaftlicher Ebene gefördert werden. Es genügt allerdings nicht, nur auf Verhaltensänderungen zu setzen, soll die Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig beeinflusst werden. Die Verhältnisse müssen ebenso stark gewichtet werden. Wird wie so oft Gesundheitskompetenz einseitig als Frage des Verhaltens thematisiert, wird ausser acht gelassen, dass sie auch Wissen und Einstellungen im Hinblick auf gesundheitsrelevante Rahmenbedingungen, wie z.B. die Lebens- oder Arbeitswelt, umfasst. Förderung und Erhaltung von Gesundheit und Gesundheitskompetenz bedingen ein Verständnis für die sozialen Determinanten. Folgende Faktoren stehen im Blickfeld (Meyer 09):

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Mehrere Studien weisen darauf hin, dass der Gesundheitszustand einer Bevölkerung in den Industrieländern stärker durch sozioökonomische Faktoren und durch den Lebensstil bestimmt wird als durch die erbrachten medizinischen Leistungen

==Einkommen und sozialer Status ==soziale Unterstützung und soziale Netze ==Bildung und Ausbildung ==Teilnahme am Arbeitsmarkt ==Arbeit und Arbeitsbedingungen ==soziale und physische Lebenswelt ==persönliches Gesundheitsverhalten, Gesundheitskompetenz und Bewältigungsstrategien ==gesunde frühkindliche Entwicklung ==Geschlecht und kulturelles Umfeld. Die Erforschung dieser Faktoren könnte als Wegweiser zur Verbesserung von Entscheidungsprozessen und damit der Gesundheit der Bevölkerung dienen.

Aus der Sicht der Gesundheitsversorgung Im medizinischen Bereich wird auch von Patientenkompetenz gesprochen. Zu beachten ist, dass es im Gesundheitswesen viele NutzerInnen gibt, die die Rolle des Patienten nur passager oder kaum einnehmen. Die Zunahme an chronischen Krankheiten jedoch verlangt einiges von den Betroffenen ab; es geht um ein eigentliches Selbstmanagement verbunden mit der Anwendung von schwierigen medizinischen Applikationen, bei denen das Gesundheitspersonal den PatientInnen nicht immer zur Seite stehen kann. Das Wort Gesundheitskompetenz hat seinen Ursprung im englischen Begriff Health Literacy, der zu Beginn dieses Jahrtausends an Bedeutung gewann. «The degree to which individuals have the capacity to obtain, process, and understand basic health informa-

tion and services needed to make appropriate health decisions» (3) (NielsenBohlmann et al., 2004, 32). Wie im Folgenden dargelegt, erscheint auch diese Definition, primär entstanden aus der Sicht der Medizin, als zu eng. Ärzteschaft und Angehörige anderer Gesundheitsberufe erkannten, dass PatientInnen mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben spezielle Instruktionen und besondere Betreuung benötigten, um in gleichem Masse von einer Therapie profitieren zu können wie besser Gebildete.

Mangelnde Gesundheitskompetenz als Einschränkung Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu verstehen und damit sinnvolle Entscheide über die eigene Gesundheit und die medizinische Betreuung zu fällen. Gesundheitsinformationen können sogar Personen mit höherer Bildung überfordern. In den USA weist etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung ungenügende Gesundheitskompetenzen auf. Ungenügende Gesundheitskompetenz kann folgende Fähigkeiten einschränken: ==Ausfüllen von komplexen Formularen, Auffinden von Leistungserbringern und medizinischen Dienstleistungen ==Auskünfte geben über den Verlauf der eigenen Krankengeschichte, persönliche Hygiene und Pflege ==Selbst-Management einer chronischen Krankheit, Verstehen, wie Medikamente einzunehmen sind. Quelle: U.S. National Library of Medicine and the National Institute of Health (2009) unter: http://www.nlm.nih.gov/medlineplus/healthliteracy.html


Aus übergeordneter Sicht Wie oben dargelegt, ist Letzteres nicht allen Menschen möglich. Bildung und sozioökonomischer Status sind beispielsweise Faktoren, die mit bestimmten Ressourcen und Verhaltensweisen in Bezug auf Gesundheit korrelieren. Vor dem Hintergrund des wachsenden Druckes zu mehr Mit- und Eigenverantwortung kann sich der Graben zwischen Gesunden und Nichtgesunden weiter vergrössern. Die Gesellschaft steht vor der Herausforderung, solche Unter-

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Das beinhaltet, dass Menschen sich im Gesundheitssystem allgemein zurechtfinden können müssen und dass sie im Krankheitsfall verantwortungsvoll mit diesem umgehen. Es heisst auch, dass sie gegenüber den Professionellen im Gesundheitswesen wenn möglich die Rolle als Partner einnehmen und entsprechend Mitsprache und Mitentscheidung einfordern. Um z.B. eine möglichst hohe Therapietreue zu erzielen, sind Kommunikationsfähigkeit und Selbsteinschätzung sowohl von Seiten der Ärztin als auch von Seiten des Patienten gefragt. Der Umgang mit der ärztlichen Therapie – nicht nur in Bezug auf Medikamente - ist ein beachtlicher Kostenfaktor in der Gesundheitsversorgung (WHO 2003, Stutz Steiger et al. 2008). Der Mensch im Gesundheitssystem von heute wird von verschiedenen Seiten gefordert. Insbesondere wird von ihm mehr eigenverantwortliches Handeln verlangt. Dies ist insofern positiv zu werten, als er in einem Gesundheitsmarkt neue Wahlmöglichkeiten vorfindet und damit auch als Konsument agieren kann, der das Angebot mitbestimmt (Olmsted Teisberg, 2008). Es bieten sich ihm heute mehr Optionen und Anreize für ein gesundheitsförderndes Verhalten. Damit steht der Mensch heute aber vor der Herausforderung, vermehrt Entscheidungen in Bezug auf seine Gesundheit zu treffen. Zum einen hat das auch damit zu tun, dass das Gesundheitssystem nicht (mehr) alles bezahlt, aber auch, dass es bzw. die Gesellschaft von ihm vermehrt gesundheitsförderndes Verhalten verlangt.

schiede aufzufangen. Welche Fähigkeiten oder Kompetenzen sind nötig, um diesen neuen Anforderungen gerecht zu werden und im heutigen Gesundheitswesen zu bestehen? Welche Lebensumstände oder Rahmenbedingungen sind nötig, damit ein gesunder Lebensstil erreicht wird? Welche Rolle spielen dabei die einzelnen Akteure? Interessant macht solche Reflexionen, dass sowohl Individuen als auch Institutionen – z.T. freiwillig, z.T. unfreiwillig – verschiedene Rollen gleichzeitig oder im Wechsel einnehmen, und dies mit unterschiedlichem Kompetenzniveau. Neben einer professionellen Rolle hat man auch diejenige als BürgerIn, KonsumentIn oder möglicherweise PatientIn (Rödiger, Stutz 2009) Auch das Selbstverständnis der PatientInnen hat sich verändert. In den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts liessen sie sich noch mehrheitlich bevormunden und wurden über ihre Diagnose – vor allem bei bösartigen Krankheiten - häufig im Ungewissen gelassen. In den 70er-Jahren setzte eine Entwicklung ein, die über den informierten zum mündigen, autonomen und kompetenten Patienten führt (Nagel).

Nutbeam hat zwischen drei Stufen der Gesundheitskompetenz unterschieden: funktional – damit sind die Grundkompetenzen wie Lesen gemeint -, kritisch – damit ist das Interpretieren und Hinterfragen angesprochen – sowie interaktiv – hier ist die Fähigkeit, sich mit Fachleuten auseinanderzusetzen, gemeint (Nutbeam 2000). 2008 hat er auch auf die unterschiedlichen Gesundheitskompetenzbereiche hingewiesen, die durch die Einnahme der beiden Blickwinkel entstehen: Sicht des Gesundheitswesens, Sicht von Public Health. Aus der Sicht des Gesundheitswesens wird Gesundheitskompetenz mit dem Begriff «Risiko» (risk) verknüpft; gemeint ist, dass sich mangelnde Gesundheitskompetenz in schlechteren Behandlungsergebnissen und höheren Kosten niederschlägt. Eine Verbesserung der Gesundheitskompetenz zielt auf bessere klinische Resultate auf individueller Ebene, und dies durch mehr Effizienz und Prozessoptimierungen innerhalb der Gesundheitsversorgung . Aus der Sicht von Public Health hingegen wird der Begriff mit «Potenzial» (asset) in Verbindung gebracht. Ge4.09 / soziale medizin

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sundheitskompetenz hat in dieser Perspektive eine Bedeutung für die öffentliche Gesundheit (Nutbeam, 2008; Pleasant et al., 2008). Gesundheitskompetenz soll nicht nur Lesen und Schreiben, Verstehen und Gewichten, kritisch Diskutieren und Handeln in Bezug auf die eigene Gesundheit respektive Krankheit beinhalten, sondern bedeutet eine Lebenskompetenz in Bezug auf Gesundheit. Diese Kompetenz umfasst unter anderem Fähigkeiten wie sich in der Gesellschaft zu orientieren, am Gesellschaftsleben zu partizipieren sowie Kontrolle über sein Leben zu haben. Das Ergebnis ist dabei nicht nur eine bessere eigene Gesundheit, sondern auch ein gesellschaftlicher Mehrwert, der sich in höherer Produktivität, besserer allgemeiner Gesundheit und besseren Rahmenbedingungen für Entstehung, Erhalt und Förderung von Gesundheit ausdrückt. Diese Sicht auf Gesundheitskompetenz entspricht derjenigen von Public Health und Gesundheitsförderung. Es geht um einen gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsgewinn. Vor kurzem wurde in einem australischen Artikel (Peerson et al. 2009), darauf hingewiesen dass man zwischen der Health Literacy (die sich auf den Alltag bezieht) und der „Medical Literacy“ (die sich auf die Gesundheitsversorgung bezieht) unterscheiden sollte. Auch solle der fehlende Konsens rund um den Begriff unbedingt überwunden und die ungenügenden Messinstrumente bestimmt und aufgebaut werden.

Informationsaufnahme und –verarbeitung; Kommunikation Vor dem Hintergrund der verschiedenen Konzepte zeichnen sich Themenkreise ab, die in Bezug auf Gesundheitskompetenz eine besondere Rolle spielen: Gesundheitskompetenz hat sehr viel mit Informationen und mit Entscheidungen zu tun, die jede/r für sich treffen muss. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen bringen verschiedene Kompetenzen und Defizite mit, die es zu berücksichtigen gilt. Die neue Publikation des SRK geht im Detail auf diesen Punkt ein (SRK 2009). Wie aus der Definition von Kickbusch hervorgeht, besteht Gesundheitskompetenz darin, gesunde Entscheide

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zu treffen. Gesunde Entscheide setzen Information und Verstehen voraus. Sich für Früchte und Gemüse zu entscheiden, bedingt, dass man um den gesundheitlichen Wert dieser Nahrungsmittel weiss und diese erschwinglich sind. Umgekehrt wird vorausgesetzt, gesundheitliche Risiken von zu viel Fett oder mangelnder Bewegung zu kennen. Allerdings genügt Wissen allein nicht, wie gerade Studien zum Risikoverhalten zeigen (Moore et al., 2008). Obwohl Herzinfarkte oder Schlaganfälle zu den häufigsten Todesursachen in den USA gehören, führen vier von fünf Amerika-

lichkeiten der Information und Kommunikation kann leider nicht im Detail eingegangen werden. Die Strategie eHealth Schweiz (5), die 2007 vom Bundesrat angenommen wurde und zu einem komplexen Umsetzungsprojekt von Bund und Kantonen führte, setzt die Gesundheitskompetenz der Menschen ins Zentrum. Ein Bereich der in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern eher unterbewertet und in seinem Potenzial unterschätzt wird ist die Selbsthilfe. Durch gezielte Stärkung und Aufwertung dieses Bereichs könnte die Wir-

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Entscheidend für die Risikoeinschätzung ist daher nicht das tatsächliche Risiko, sondern die Häufigkeit, mit der ein Risiko in den Medien erscheint.

nerInnen einen Lebensstil, der dieses Risiko erhöht. Weit weniger häufig auftretende Risiken, wie etwa ein Atomkraftwerkunfall oder von einem Blitz erschlagen zu werden, werden dagegen meist als viel höher eingestuft. Diese Fehleinschätzung liegt nicht nur am Unvermögen des Einzelnen, sondern hat auch mit anderen Faktoren zu tun. So haben Teilnehmende einer Studie diejenigen Infektionskrankheiten als gefährlicher eingestuft, die häufiger in den Medien vorkamen (Young et al., 2003). Entscheidend für die Risikoeinschätzung ist daher nicht das tatsächliche Risiko, sondern die Häufigkeit, mit der ein Risiko in den Medien erscheint. Dieselbe Studie zeigt, dass dies nicht nur für Laien, sondern auch für MedizinstudentInnen gilt. Die Medien spielen also eine wichtige Rolle: einerseits als eine der wichtigsten Informationsquellen für Gesundheit, andererseits in der Wertung und Gewichtung. Ein aktives Agenda-Setting im Gesundheitsbereich von Seiten der Professionellen wäre wünschenswert. Wang und Schmid haben festgestellt, dass drei der fünf am häufigsten genannten Informationsquellen für Gesundheit Medien sind (Wang und Schmid, 2007) (4). Auf die neuen Mög-

kungsbreite und –tiefe solcher Gruppen erhöhte werden. Insbesondere ist der Dialog zwischen dem Selbsthilfebereich und den Professionellen zu stärken und Infrastrukturen für diesen Bereich bereitzustellen und zu fördern.

Gesundheitskompetenz – Bedeutung von Entscheidungen Die heutige Wissens- und Informationsgesellschaft und unser liberales Gesundheitssystem fordern von der Bevölkerung immer mehr gesundheitsrelevante Kompetenzen. Gemäss der jüngsten breit angelegten Studie (Wang, Schmid, 2007) wollen PatientInnen mehr Mitsprache. Auch die Leistungserbringer übertragen dem Patienten mehr Eigenoder Mitverantwortung. Dies macht nochmals deutlich, wie stark der heutige Mensch in der Gesundheitsversorgung und im Alltag gefordert ist, Entscheidungen zu treffen. Dienstleistungen, Behandlungsmöglichkeiten und Produkte, die mit Gesundheit zu tun haben, sind in den letzten 15 Jahren immer zahlreicher geworden. Die Anforderungen an die Menschen, zwischen gesunden oder ungesunden Nahrungsmitteln zu entscheiden, sich im Gesund-


heitswesen selbständig zu orientieren, Leistungen zu wählen oder etwa über Therapien oder die Unterbrechung von Therapien zu entscheiden, haben stark zugenommen. Herausfordernd ist in diesem Zusammenhang auch der ganze Bereich der Früherkennungs-Programme (Fontana 2008), der sich zunehmend auch in der Schweiz etabliert. Sowohl Fachleute als auch NutzniesserInnen diskutieren Vor- und Nachteile solcher Screeningprogramme sehr kontrovers. Eine der wichtigsten Aufgaben von Gesundheitsfachleuten müsste sein, durch transparente und vollständige Information über die Sachlage es der Klientin zu ermöglichen, unter Abwägung aller Fakten eine für sie richtige Entscheidung zu treffen. Auch Fachleuten fehlt in diesem Bereich zum Teil der nötige Hintergrund, um zu beraten und im Dialog mit dem Klienten/der Klientin eine Entscheidung für oder gegen eine Partizipation zu ermöglichen. Hier ein paar Beispiele anhand der Gesundheitskompetenzbereiche nach Kickbusch und Maag (2008): persönliche Gesundheit: Erhaltung der eigenen Gesundheit (Gesundheitsförderung, Prävention) und Heilung von Krankheit, z. B. durch Ernährungsund Bewegungsverhalten, Lebensrhythmus, Sorge-Tragen für soziale Eingebundenheit und Unterstützung, Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen (für sich oder Kinder), Therapieentscheide und Therapietreue Systemorientierung: sich im Gesundheitswesen zurecht finden, Wahl der Informations- oder Beratungsstelle, der Ärztin, des Krankenhauses oder anderer Leistungserbringer, Wahl der Versicherung, der Versicherungsleistungen oder des Versicherungsmodells, Wahl der Franchise, Versicherungsansprüche kennen, Vorsorgeuntersuchungen kennen, Entscheidungshilfen kennen und nutzen Konsumverhalten: Wahl der Nahrungsmittel, Verkehrsmittel, Informationskanäle, Freizeitgestaltung und anderer gesundheitsrelevanter Angebote und Produkte Arbeitswelt: Wahl der Arbeit, des Arbeitgebers, Sensibilität für Arbeitsplatzsicherheit und -gesundheit, Arbeitsbedingungen, work-life balance

Gesundheitspolitik: Stellungnahme zu gesundheitspolitischen Vorlagen, Mitgliedschaft in Patienten- oder Gesundheitsorganisationen. Zusammengefasst kann man die Gesundheitskompetenz auch folgendermassen umschreiben: «Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit, so zu entscheiden und zu handeln, dass es für mich und meine Umwelt gesund ist» (Abel, 2008). Dieses Schlusswort von T. Abel an einem Expertentreffen weist auf die Wichtigkeit vom Entscheiden und Handeln hin. Die Auswirkungen des vorhandenen Grades an Gesundheitskompetenz sind noch nicht endgültig untersucht. Die Hypothese, dass eine höhere Gesundheitskompetenz zu besserer Gesundheit führt, scheint einleuchtend. Dennoch gibt es Studien, die dieser Hypothese widersprechen. Barragán et al. (2005) zeigen beispielsweise, dass Menschen mit geringerer Gesundheitskompetenz eher den Empfehlungen des Arztes folgen, einen HIV-Test zu machen. Paasche-Orlow et al. (2006) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis bei der Therapietreue: Mangelnde Gesundheitskompetenz korreliert mit höherer Therapietreue und besserer Virus-Suppression. Die Hypothese ist damit aber noch nicht widerlegt. Wie die erste Studie zeigt, hatten Menschen mit geringerer Gesundheitskompetenz auch ein grösseres Wissen über HIV-Tests als diejenigen mit höherer Gesundheitskompetenz. Paasche-Orlow et al. (2006) machen geltend, dass der Zusammenhang zwischen Gesundheitskompetenz und health outcomes näher untersucht werden müsste. So könne es auch sein, dass sich Menschen mit höherer Gesundheitskompetenz selbständiger verhalten und eigenständig Anpassungen in der Medikation vornähmen, wenn es etwa zu Nebenwirkungen komme. Ergebnisse wie diese weisen darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Gesundheitskompetenz und individueller Gesundheit im Fall von Selfmanagement von chronischen Krankheiten komplexer ist als angenommen. Eine ebenso wichtige Rolle spielt das Konzept von Gesundheitskompetenz, das diesen Studien zu Grunde liegt: Lesen-, Schreiben- und Rechnenkönnen

sind zwar wichtige Voraussetzungen, Menschen können jedoch durchaus auch ohne diese Fähigkeiten im Alltag funktionieren und Risiken einschätzen. Ebenso wenig geht höhere Gesundheitskompetenz mit der häufigeren Nutzung von Gesundheitsleistungen einher. Eine höhere Gesundheitskompetenz kann durchaus auch dazu führen, gewisse medizinische Massnahmen zu verweigern (Noll, 2005). Lohnt es sich etwa, eine Chemotherapie mit den damit verbundenen Nebenwirkungen auf sich zu nehmen, wenn sie die Überlebenschancen nur geringfügig erhöht? Darüber hinaus spielen Lebenseinstellungen und -situationen ebenso eine wichtige Rolle, wenn es um den Umgang mit Gesundheit und Risikoverhalten geht (Moore et al., 2008).

Schlussbemerkungen Im Konzept der Gesundheitskompetenz steckt einiges an Nutzen versprechendem Veränderungspotential für die Förderung der Gesundheit, die Prävention von Krankheiten und die Forschung im Bereich Gesundheit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene – und auch für das Gesundheitswesen. Folgende Fragestellungen sollen das verdeutlichen: Wird Gesundheitskompetenz ein Schlüsselelement für gesundheitliches Handeln im Alltag und in der Politik? (Sommerhalder, Abel)? Welche Kompetenzen, aber auch welche Rahmenbedingungen sind erforderlich, damit sich der Bürger / die Bürgerin gerade auch an den Schnittstellen zwischen Medizin und Alltag, sowie zwischen klassischer und Komplementär-Medizin effizient bewegen kann? Bietet die Förderung der Gesundheitskompetenz neue Chancen für ein „verbraucher-bestimmtes Gesundheitswesen“ und für Patienten und Gesundheitsfachleute? Führt Gesundheitskompetenz durch die gewichtigere Rolle von PatientInnen und NutzniesserInnen generell zu einem kritischen Hinterfragen von Gesundheitsleistungen, deren Qualität und Preis? Noch ist die erste Frage kaum ein Forschungsthema, während im klinischen im Bereich der Medizin doch et4.09 / soziale medizin

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liche Fragen forschungsmässig bereits angegangen werden. In den angelsächsischen Ländern liegt ein beachtliches Wissen über Patienteneinbezug und Patientenförderung vor (user involvement and influence) (6). Gerade Gesundheitskompetenz im Alltag wäre ein Thema, das sich nicht nur auf die höhere soziale Schichten, sondern auch auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen konzentrieren könnte. Es ist interessant zu beobachten, dass gewisse Projekte sich bereits auch mit kommunaler Gesundheitskompetenz befassen (dialog gesundheit 2009). Gesundheitskompetenz ist eine Herausforderung für Individuen (Bürger), für Fachleute im Gesundheitsbereich und andere Akteure sowie für Institutionen im privaten und öffentlichen Bereich. Die Gesundheitskompetenz bietet die Voraussetzung zur Entwicklung eines Gesundheitsverständnisses, das beispielsweise zwischen Laien (Patienten) und Professionellen im Gesundheitswesen konkretisiert werden kann. Gesundheitskompetenz ist aber auch ein hoch politisches Thema (Kickbusch 2009), geht es doch um Beteiligung, Mitsprache, Mitbestimmung, Chancengleichheit, Zugangsgerechtigkeit, Autonomie, Machtansprüche, Machtteilung; und dies nicht nur in der engeren Gesundheitsversorgung, sondern

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generell im wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Umfeld. Damit wird deutlich, dass es auch um Fragen der gesellschaftlichen Werte in diesen Bereichen geht. Von daher muss die Diskussion auch mit Partnern ausserhalb des engen Gesundheitsbereichs geführt werden, denn gerade auch was Alltagskompetenzen anbelangt, sind die BürgerInnen in den Bereichen Gesundheit, Ökologie, Soziales und Wirtschaft gleichermassen gefordert. Gesundheitsbildung und Patientenbildung (7) sind weiterzuentwickeln unter Einsatz von traditionellen Methoden und all den heutigen und künftigen technologischen Instrumenten. Hilfreich wäre auch, gerade Schnittstellen wie Medizin und Alltag, klassische Medizin, Komplementärmedizin und weitere Angebote bis hin zum Wellnessbereich besser und integrativer zu bearbeiten. Ein Anfang wurde mit der Bildung der Allianz Gesundheitskompetenz gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass sie künftig mit breiterem Engagement vorangetrieben werden kann, damit sich Netzwerkpartner gegenseitig stimulieren können und „neue“ Forschungsfragen mit kritischem Geist, aber mit „Goodwill“ entgegennehmen. Fragestellungen im Public-Health Bereich müssen gefordert und gefördert werden. Insbesonde-

re müssen im nationalen und internationalen Umfeld Messinstrumente entwickelt werden. Da kann die Schweiz mit ihrer Studie (ISMP ZH) entscheidend mitwirken. Die oben erwähnten Fragen harren einer vertieften Klärung – es ist erstaunlich, dass die Kompetenz des Menschen als Schlüsselfaktor im Bereich Gesundheit so wenig Beachtung gefunden hat. Fortschritte und begleitende Forschung im Sinne von Public Health in den Bereichen Bildung und Ausbildung, Arbeitsbedingungen, soziale Unterstützung, kulturelles Umfeld und Förderung des persönlichen Gesundheitsverhaltens und der zugrunde liegenden Gesundheitsdeterminanten könnten Antworten liefern. Gesundheitskompetenz und Bewältigungsstrategien (Coping) im Gesundheitssystem sind zu wenig akute Fragen und sie haben offenbar zu wenig technische und wirtschaftliche Brisanz. (1) Ottawa Charta: WHO 1986: http://www. euro.who.int/AboutWHO/Policy/ 20010827_2?language=German (2) Health at a Glance: OECD Indicators – 2005 Edition; http://www.oecd.org/dataoecd/56/ 31/35630897.pdf (3) Das Ausmass, in dem Individuen fähig sind, grundlegende Gesundheitsinformationen und -angebote, die nötig sind, um angemessene Gesundheitsentscheidungen zu treffen, zu erhalten, zu verarbeiten und zu verstehen . (4) Es gehört zu den Gesetzmässigkeiten der Medien, dass sie eher über seltene oder aussergewöhnliche Ereignisse berichten. Kommt hinzu, dass Medien die Gewichtigkeit von Informationen potenzieren können und in der Folge nicht nur Ereignisse wiedergeben, sondern gar selbst Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen – ganz im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung (Sturm und Rupprecht, 2007; Udris et al., 2008). (5) Strategie eHealth Schweiz: http://www. bag.admin.ch/ehealth/index.html (6) Wilson and Mabhala (2009): Key Concepts in Public Health. http://www.stiftung-careum.ch/de-ch/careum/projekte/patientenbildung.html (Zugriff 15.10.09) Literatur Abel,Thomas (2008), Einführung anlässlich des Expertenforums Ökonomische Bedeutung von Gesundheitskompetenz am 12. Dezember 2008 in Bern (unveröffentlicht). Barragán, Maribel; Giselle Hicks, MarkV.Williams, Carlos FrancoParedes, Wayne Duffus, Carlos del Rio (2005), Low Health


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Prävention und Gesundheitsförderung stärken – gemeinsam mit der Migrationsbevölkerung Schlechte sozioökonomische Bedingungen sind mit einem schlechten Gesundheitszustand und mit schädlichem Gesundheitsverhalten assoziiert. Die Regel-Angebote der Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz sollten deshalb verstärkt auf benachteiligte Personen ausgerichtet werden. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei jenen Gruppen der Migrationsbevölkerung gelten, die zusätzlich mit sprachlichen und soziokulturellen Barrieren oder mit Diskriminierungen und mangelnder Öffnung der Regelversorgung zu kämpfen haben. Das Projekt „Transkulturelle Prävention und Gesundheitsförderung“ widmet sich diesem Anliegen.

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ie Träger-Organisationen des Projekts „Transkulturelle Prävention und Gesundheitsförderung“ (siehe Kasten) möchten dazu beitragen, die Voraussetzungen für die Arbeit zugunsten der Schweizer Migrationsbevölkerung zu verbessern. Zu diesem Zweck ist der Stand des Wissens zur transkulturellen Prävention und Gesundheitsförderung in einem Synthesebericht gesammelt worden. Der Synthesebericht basiert auf einer Literaturanalyse und auf Umfragen bei Fachleuten und RepräsentantInnen der Migrationsbevölkerung. Die Erkenntnisse aus dem Bericht werden nun zusammen mit Empfehlungen für die transkulturelle Arbeit in die Praxis getragen. Sie führen unter anderem Gespräche mit EntscheidungsträgerInnen von Organisationen und veranstalten Workshops für Projekt- und

Angebotsverantwortliche, zum Beispiel für die Fachleute der Tabak- und Alkoholprävention. In diesem Beitrag stellen die ProjektleiterInnen die wichtigsten Schlussfolgerungen aus dem Synthesebericht vor (der Synthesebericht und weitere Dokumente des Projekts stehen unter www. transpraev.ch zum freien Download zur Verfügung). Die zentrale Erkenntnis aus dem Synthesebericht: Die Prävention und Gesundheitsförderung muss sich transkulturell öffnen.

Die Träger-Organisationen Mit dem Projekt „Transkulturelle Prävention und Gesundheitsförderung“ sollen Entscheidungsträger für die migrationsgerechte Arbeit sensibilisiert und Fachpersonen zur transkulturellen Gesundheitsförderung und Prävention motiviert und befähigt werden. Am Projekt arbeitet eine breite Allianz von Organisationen: Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention; Caritas Schweiz; Krebsliga Schweiz; Public Health Services; RADIX Schweizer Kompetenzzentrum für Gesundheitsförderung und Prävention; Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme; Schweizerisches Rotes Kreuz Das Bundesamt für Gesundheit unterstützt die Ziele des Projekts. Ein Beirat aus Fachpersonen der transkulturellen Arbeit – mehrheitlich aus der Migrationsbevölkerung – und ein wissenschaftlicher Beirat begleiten das Projekt inhaltlich. Die Finanzen stammen vom Tabakpräventionsfonds, dem Alkoholzehntel, Gesundheitsförderung Schweiz und von den beteiligten Organisationen.

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Transkulturalität geht von einem dynamischen Kulturkonzept aus: Kultur ist ständig in Bewegung und wandelt sich. Die symbolische Ordnung einer Gesellschaft wird von all ihren Mitgliedern gestaltet und umfasst viele verschiedene „subkulturelle Felder“, die wiederum von Mischungen und Durchdringungen geprägt sind. In der heutigen Zeit der Globalisierung hat diese Dynamik noch zugenommen. „Transkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit und Fertigkeit, individuelle Lebenswelten in der besonderen Situation und in unterschiedlichen Kontexten zu erfassen, zu verstehen und entsprechende, angepasste Handlungsweisen daraus abzuleiten.“ (Domenig 2007) Die transkulturelle Öffnung der Prävention und Gesundheitsförderung führt dazu, dass die Angebote der in diesem Bereich tätigen Organisationen jederzeit auch auf die Bedürfnisse von Personen mit Migrationshintergrund (und auf andere Gruppen mit besonderen Bedürfnissen) angepasst sind. Dieser tiefgreifende und nachhaltige organisatorische Wandel soll sich auf alle Angebote der Gesundheitsförderung und Prävention auswirken.

Verankerung in den Organisationen Der transkulturelle Ansatz kommt am besten zum Tragen, wenn nicht nur einzelne Projekte oder Angebote danach ausgerichtet werden, sondern sich die gesamte Präventionsfachstelle, NonProfit-Organisation etc. weiterentwickelt. Die Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention, die Dachorganisation zur Förderung des Nichtrauchens in der Schweiz, lässt zum Beispiel ihre Grundsätze und Produkte darauf prüfen, ob sie dem transkulturellen Ansatz gerecht werden. Organisationen, die in der Prävention und Gesundheitsförderung tätig sind, sollten ihren Willen zur transkulturellen Öffnung in ihren Grundlagenpapieren (zum Beispiel Leitbilder, Statuten) festhalten. Sie verpflichten sich damit, wenn möglich auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu erreichen und zu versorgen. Diese Verpflichtung

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Was bedeutet „transkulturelle Öffnung“?

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Wie alle EinwohnerInnen der Schweiz sollen auch Personen mit Migrationshintergrund die eigene Gesundheit beeinflussen und Entscheide im Umgang mit Gesundheit und Krankheit selbst treffen können.

wirkt sich auf die Arbeitsweise der Organisation aus. Präventionsangebote, die einen aufsuchenden Ansatz verwenden, sollten zum Beispiel gestärkt werden (zum aufsuchenden Ansatz siehe weiter unten). Selbstverständlich braucht es für die transkulturelle Umstrukturierung langfristig gesicherte Finanzen. Die Bereitschaft zu einer langfristigen Verpflichtung ist bei den Geldgebern (, oft sind es der Bund, die Kantone oder die Gemeinden) im Allgemeinen noch gering. Eine langjährige Planung der transkulturellen Präventionsarbeit beginnt deshalb damit, die Geldgeber zu überzeugen. Einige Argumente für die transkulturelle Arbeit sollen hier genannt werden: Chancengleichheit ist ein Recht aller EinwohnerInnen der Schweiz (Art. 2 Bundesverfassung). Die „Förderung der Gesundheitsvorsorge“ wird explizit als wichtiges Element der Integrationsarbeit im Ausländergesetz des Bundes genannt (Art. 53). Sie ist auch in Erlassen einiger Kantone festgeschrieben. Die Verbesserung der Gesundheit der Migrationsbevölkerung (insgesamt

rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung) gehört zu den Zielen des Bundesamtes für Gesundheit. Ein verbesserter Gesundheitszustand der Migrationsbevölkerung wirkt sich stark auf den Gesundheitszustand der gesamten Schweizer Bevölkerung aus, und damit auch auf die Gesundheitskosten. Der transkulturelle Ansatz bringt nicht nur Vorteile für die Migrationsbevölkerung, sondern auch für andere schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen. Zudem ist er nützlich für die interdisziplinäre, interregionale und internationale Zusammenarbeit, etwa für die Kooperation über den „Röschtigraben“ hinweg. Wie gesagt setzt die Verankerung der transkulturellen Arbeit eine Weiterentwicklung der gesamten Organisation voraus. Dies bedingt unter anderem, dass auf allen Ebenen der Organisation und in allen Phasen der Angebotsentwicklung und der Umsetzung Personen mit Migrationshintergrund mitarbeiten sollen. Dieser Prozess der Einbindung von Fachpersonen mit Migrationshintergrund hat in der Schweiz erst begonnen.


Die Mitarbeitenden brauchen Unterstützung bei der transkulturellen Öffnung, etwa in Form von Fortbildung. Vor allem während des Aufbaus eines Angebots oder Projekts benötigen die Projektleitenden und die Mitarbeitenden zusätzliche Zeit für die Analyse der Zielgruppe, die Kontaktaufnahme mit Schlüsselpersonen und die Einbindung bei der Planung.

Mit der Migrationsbevölkerung zusammenarbeiten Wie alle EinwohnerInnen der Schweiz sollen auch Personen mit Migrationshintergrund die eigene Gesundheit beeinflussen und Entscheide im Umgang mit Gesundheit und Krankheit selbst treffen können. Dazu braucht es einerseits zielgruppengerechte Information sowie die Fähigkeit, die Information zu nutzen (Health Literacy) – andererseits aber müssen auch Barrieren, die eine Selbstbestimmung der Migrationsbevölkerung behindern, beseitigt werden. Zu diesen Barrieren gehört etwa die noch ungenügende Zugänglichkeit von Angeboten der Prävention und Gesundheitsförderung. Personen mit Migrationshintergrund, die im Rahmen des Projekts „Transkulturelle Prävention und Gesundheitsförderung“ befragt wurden, betonen die Bedeutung von Sprachbarrieren und wünschen entsprechend muttersprachliche Beratungsangebote und übersetzte Informationsmaterialien. Die Sprache ist allerdings nicht die einzige Zugangsbarriere zur Gesundheitsversorgung, auch Mängel in der Zielsetzung und Organisation der Angebote können den Zutritt erschweren, zum Beispiel Öffnungszeiten, die den Bedürfnissen der Migrationsbevölkerung überhaupt nicht entsprechen. Die Bedeutung solcher Barrieren dürfte sehr gross sein, sie ist aber erst wenig erforscht. Der wohl beste Weg, die Bedürfnisse von Personen mit Migrationshintergrund besser zu berücksichtigen, besteht darin, ihre Sicht und Erfahrung vermehrt in Präventionsprojekten einzubinden. Die Vernetzung mit Organisationen, informellen Netzwerken und Schlüsselpersonen der Migrationsbevölkerung ist eine Voraussetzung der transkulturellen Arbeit. Die interkultu-

rellen VermittlerInnen sind dabei zentral (vgl. Claudia Ammann und Theres Bauer in Soziale Medizin 2.09). Auch Präventionsfachleute mit Migrationshintergrund, PräsidentInnen von Migrationsvereinen und politisch aktive MigrantInnen gehören zu den bedeutsamsten Schlüsselpersonen. Da die Vernetzungen der Migrationsbevölkerung über lokale und nationale Grenzen hinweg reichen, sollten sich auch Präventionsfachleute bemühen, über geografische und politische Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten.

Näher an die Zielgruppe heran Der so genannte Setting-Ansatz ist bedeutsam für die Arbeit mit benachteiligten Personen. Ein Setting ist ein sozialer „Raum“, in dem die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit bestimmter Personengruppen gestaltet werden können. Zu den wichtigsten Settings zählen Schule, Arbeitsplatz, Gesundheitswesen (ÄrztInnen, Spitäler) und die Gemeinde bzw. die Community. Hier können grosse Zielgruppen – gerade auch schwer zugängliche Gruppen – mit verhältnismässig geringem Aufwand erreicht werden. Transkulturelle Gesundheitsförderung in Settings bedeutet, die spezifischen Lebenswelten der Zielgruppe so zu nutzen, dass auch für die Migrationsbevölkerung und andere benachteiligte Menschen das gesunde Verhalten erleichtert wird. Die Fachpersonen der Gesundheitsförderung müssen ihre Arbeit in den Settings so anpassen, dass die Migrationsbevölkerung erreicht wird. Partizipative Arbeit und Vertrauensbildung spielen dabei eine zentrale Rolle, insbesondere der aufsuchende Ansatz. Bei der aufsuchenden Arbeit finden die Aktivitäten zur Prävention oder Gesundheitsförderung (Information, Beratung, Unterstützung) in Settings statt, in denen sich die Zielgruppe „daheim fühlt“. Dies bedingt, dass die Fachleute der Prävention und Gesundheitsförderung bis zu einem gewissen Grad ihr eigenes, vertrautes Umfeld verlassen. Im Setting der Zielgruppe müssen sie auch die Regeln der Zielgruppe akzeptieren. Dabei geht oft die formelle Distanz verloren, die zwischen Beratenden und Beratenen in der Schweiz mehrheitlich üb-

lich ist. Die Konflikte, die im Spannungsfeld von Professionalität und Informalität entstehen, sind für Fachleute in der Regel nicht ohne Unterstützung durch Massnahmen wie Fortbildung, Inter- und Supervision zu bewältigen.

Kommunikation anpassen Oft sind die Kampagnen und Informationen der Schweizer Prävention und Gesundheitsförderung stark auf eine mittelständische, relativ gut gebildete Bevölkerungsgruppe ausgerichtet. Sollen in Zukunft auch die bisher kaum erreichten Gruppen davon profitieren, müssen Botschaften und Kommunikationsformen angepasst werden. Oft sind inhaltliche Korrekturen weniger entscheidend als eine generelle Verstärkung der Kommunikationsbemühungen. Innovative, weniger sprachgebundene Ansätze sind hilfreich und dort gefordert, wo die Sprache als Kommunikationsmittel nicht genügt. In England sind etwa Theaterprojekte erfolgreich für die Tabakprävention eingesetzt worden. Ein grosses Potenzial dürfte auch darin liegen, die von der Migrationsbevölkerung bevorzugten Medien zu verwenden. Heute gibt es eine breite Palette von Zeitungen, Zeitschriften, Radiosendungen und Fernsehprogrammen, die von der und für die Schweizer Migrationsbevölkerung produziert werden. Andy Biedermann, Thomas Pfluger und Corina Salis Gross Public Health Services pfluger@public-health-services.ch

Literatur Synthesebericht des Projekts „Transkulturelle Prävention und Gesundheitsförderung“: Pfluger T, Biedermann A, Salis Gross C. (2008), Transkulturelle Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz. Grundlagen und Empfehlungen. Herzogenbuchsee: Public Health Services. www.transpraev. ch (französisch: www.prevtrans.ch). Bundesamt für Gesundheit (o. A.) quint-essenz. Checkliste Migration. Bern: Bundesamt für Gesundheit BAG. www. quint-essenz.ch. Domenig, D. (2007). Transkulturelle Kompetenz: Lehrbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe. Bern: Hans Huber Verlag. Bestellbar bei www.hanshuber.ch Eicke, M. und Zeugin, B. (2007). Transkulturell handeln – Vielfalt gestalten. Zur Bedeutung transkultureller Kompetenzen in einer Gesellschaft der Diversität (Diskussionspapier 17). Luzern: Caritas. Bestellbar bei www.caritas.ch Kaya B, Efionayi-Mäder D (2008): Migrationsgerechte Prävention und Gesundheitsförderung. Anleitung zur Planung und Umsetzung von Projekten. Bern: Bundesamt für Gesundheit und Gesundheitsförderung Schweiz (Download unter www. bag.admin.ch)

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dossier • gesundheitskompetenz

Eine Neuorientierung ist gefordert

Gesundheitskompetenz im Migrationskontext Gesundheitliche Chancengleichheit ist bis heute auch in der Schweiz nicht gewährleistet. Soll dies geändert werden, müssen Massnahmen auf verschiedenen Ebenen verfolgt werden. Neben dem Verhalten der einzelnen Menschen müssen auch die Verhältnisse in der Gesellschaft im Blickfeld der Akteure stehen. Die Förderung der Gesundheitskompetenz von MigrantInnen kann also nur ein Ansatz unter vielen sein, ist aber notwendig.

D

ie Chancen für das Gelingen einer guten Gesundheit sind in der Schweiz unterschiedlich verteilt und MigrantInnen mit eingeschränkten sozioökonomischen Res-

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sourcen sind besonders benachteiligt (Efionayi-Mäder und Wyssmüller, 2009; Rommel et al., 2006). Erfahrungen wie Krieg oder traumatisierende Flucht, ein unsicherer Aufenthaltsstatus, aber auch Arbeit in gesundheitsschädigenden Sektoren des schweizerischen Arbeitsmarktes wirken sich zusätzlich negativ auf die Gesundheit aus. Zu den Betroffenen gehören im Wesentlichen Menschen aus Südeuropa und aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, zunehmend aber auch MigrantInnen aus Afrika, Lateinamerika und Asien. Durch die Migration wird der Wert der mitgebrachten Bildungsressourcen oft zumindest temporär reduziert. Vorstellungen über Gesundheit und das sozialisierte Gesundheitsverhalten aus dem Herkunftsland sind im neuen Kontext nicht mehr vollständig geeignet, um sich zurechtzufinden - eine Neuorientierung muss stattfinden. Diese kann aber

erst beginnen, wenn die existenziellen Probleme, wie Aufenthalt und berufliche Perspektiven, in genügendem Mass gelöst sind (Besic und Bisegger, 2009).

Kompetenz für Gesundheit Grundsätzlich wird kaum bestritten, dass Gesundheitskompetenz mit Gesundheit zusammen hängt, auch wenn die Einflussfaktoren noch bei weitem nicht abschliessend untersucht sind (DeWalt et al., 2004; siehe auch SRK, 2009). Innerhalb des Konzepts der Gesundheitskompetenz werden in der Regel drei Stufen nach Nutbeam (2000) unterschieden: Die funktionale Gesundheitskompetenz ermöglicht es, Gesundheitsinformationen zu verstehen und umzusetzen, die interaktive Gesundheitskompetenz umfasst Fähigkeiten, sich über Gesundheitsthemen auszutauschen und die kritische Gesundheitskompetenz beinhaltet individuelle, soziale und politische Handlungsfähigkeit im Bereich der Gesundheit. Damit sollen Menschen durchaus als ExpertInnen ihrer selbst verstanden werden, wenn auch die Gefahr einer Überforderung (Hagmann, 2009) ernst zu nehmen ist. Wie so oft bei der Einführung oder Etablierung neuer Begriffe besteht die


Chance, festgefahrene Positionen zu klären, aber auch das Risiko, diese zu zementieren. Der Begriff Gesundheitskompetenz darf nicht, einmal mehr, dazu führen, dass die Gesellschaft dem einzelnen Individuum die Verantwortung für seine Gesundheit abschiebt. Das Potential des Begriffs und Konzepts Gesundheitskompetenz kann sich nur im Zusammenspiel mit unterstützenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Gesundheit entfalten - dies kann nicht genug betont werden.

Gesundheitskompetenz und transkulturelle Kompetenz In Bezug auf die hier angesprochenen MigrantInnen fragt es sich, ob diese eine geringere Gesundheitskompetenz aufweisen als SchweizerInnen oder ob sie nicht eher eine andere Gesundheitskompetenz haben (Domenig, 2007a). Die im Herkunftsland erworbene Kompetenz mag in der Schweiz nur teilweise anwendbar sein, auch weil die entsprechenden Gesundheitssysteme oft sehr unterschiedlich sind. MigrantInnen verfügen aber über Gesundheitswissen, wie auch über Unterstützung in ihrem sozialen Kontext. Die Migration selber kann sogar Kompetenzen fördern, wie z. B. Initiative, Flexibilität und Durchhaltewillen. Auf solchen Fähigkeiten und auf den Alltagserfahrungen der MigrantInnen muss Gesundheitsversorgung wie -förderung aufbauen. Die Anwendung des Konzeptes der Gesundheitskompetenz erfordert auch entsprechende Kompetenzen auf Seiten der Fachpersonen. Die Auseinandersetzung mit der migrationsspezifischen, aber individuellen Lebenssituation von MigrantInnen ist wesentlicher Bestandteil der sogenannten transkulturellen Kompetenz (Domenig, 2007b, siehe auch www.transkulturellekompetenz. ch). Diese basiert auf Hintergrundwissen, Selbstreflexion und Empathie. Transkulturelle Kompetenz trägt dazu bei, migrationsspezifische Problemlagen zu erkennen und adäquat zu handeln.

weder direkt fördern oder durch geeignete Massnahmen die Grundlage dafür schaffen. Zum einen sind dies z. B. Informationsbroschüren wie der Gesundheitswegweiser Schweiz in 18 Sprachen (gratis zu beziehen unter www.migesplus. ch) oder eine neu überarbeitete Broschüre in Zusammenarbeit mit den Bündnissen gegen Depression. Die Zielgruppe wird bei solchen Überarbeitungen jeweils konkret einbezogen. Es hat sich übrigens wiederholt gezeigt, dass

Dieser Artikel basiert auf einer Arbeit von Besic und Bisegger (2009). Der ausführlichere Beitrag ist im September in einer neuen Fachpublikation des SRK mit Unterstützung des Bundesamtes für Gesundheit im Seismo-Verlag erschienen. Bezugsangaben: Schweizerisches Rotes Kreuz (Hrsg., 2009). Gesundheitskompetenz. Zwischen Anspruch und Umsetzung. Reihe „Gesundheit und Integration – Beiträge aus Theorie und Praxis“. Zürich: Seismo. 248 Seiten, in Deutsch mit Einzelbeiträgen in Französisch, ISBN 978-3-03777-086-3, Fr. 38.- (+ Porto) in Buchhandlungen oder beim Verlag, www.seismoverlag.ch

}

Die Auseinandersetzung mit der migrationsspezifischen, aber individuellen Lebenssituation von MigrantInnen ist wesentlicher Bestandteil der sogenannten transkulturellen Kompetenz.

Konsequenzen für die Praxis

für die Migrationsbevölkerung angepasste Broschüren sehr gut an die gesamte Bevölkerung abgegeben werden können. Zum andern vermittelt das SRK transkulturelle Kompetenz an Fachpersonen im Gesundheitswesen, neu z. B. mit einem Fortbildungsangebot für HausärztInnen. Diese Kurse sollen unter anderem gewährleisten, dass Fachpersonen eine andere Gesundheitskompetenz ihrer KlientInnen und PatientInnen wahrnehmen und damit vorurteilsfrei umgehen können. Erfahrungen aus dem Migrationskontext können also die Diskussion um Gesundheitskompetenz auf pragmatische Weise befruchten. Es darf nicht darum gehen, den einzelnen Menschen unter dem Deckmantel eines Begriffes die Verantwortung abzuschieben. Der Gesundheitskompetenz des Individuums steht immer die Kompetenz der Gesundheitsfachperson gegenüber. Und für beide müssen geeignete gesellschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Corinna Bisegger,

Vor diesem Hintergrund erarbeitet das SRK Angebote, welche die Gesundheitskompetenz von MigrantInnen ent-

Psychologin Dr. phil., Schweizerisches Rotes Kreuz, Departement Gesundheit und Integration, Abteilung Grundlagen und Entwicklung.

Literatur Besic, Osman und Bisegger, Corinna (2009). Gesundheitskompetenz im Migrationskontext –Auf demWeg zu gesundheitlicher Chancengleichheit. In: Schweizerisches Rotes Kreuz (Hrsg.). Gesundheitskompetenz.ZwischenAnspruch und Umsetzung. Reihe „Gesundheit und Integration – Beiträge aus Theorie und Praxis“. Zürich: Seismo, 179-199. DeWalt, Darren A., Berkman, Nancy D., Sheridan, Stacey, Lohr, Kathleen N. & Pignone, Michael P. (2004). Literacy and Health Outcomes.A Systematic Review of the Literature. Journal of General Internal Medicine 19: 1228–1239. Domenig, Dagmar (2007a). Geringe oder andere Gesundheitskompetenz? Managed Care 1: 27. Domenig, Dagmar (Hrsg., 2007b). Transkulturelle Kompetenz. Lehrbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe, Bern: Verlag Hans Huber, 165–189. Effionayi-Mäder,Denise undWyssmüller,Chantal (2009).Migration und Gesundheit, in: Katharina Meyer (Hrsg.), Gesundheit in der Schweiz. Nationaler Gesundheitsbericht 2008, Bern: Verlag Hans Huber, 88–105. Hagmann,Angie (2009).Gesundheitskompetenz - der kompetente Kranke. Soziale Medizin 1.09: 11-12. Nutbeam, Don (2000). Health literacy as public goal: a challenge for contemporary health education and communication strategies into the 21st century, Health Promotion International 15(3): 259–267. Rommel, Alexander, Weilandt, Caren und Eckert, Josef (2006). Gesundheitsmonitoring der schweizerischen Migrationsbevölkerung. Endbericht, Bonn: Wissen­schaftliches Institut der Ärzte Deutschlands gem. e.V. (WIAD). Schweizerisches Rotes Kreuz (Hrsg., 2009). Gesundheitskompetenz. Zwischen Anspruch und Umsetzung. Reihe „Gesundheit und Integration – Beiträge aus Theorie und Praxis“. Zürich: Seismo.

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infos & rezensionen

Care -Ökonomie Im Dezember 2009 kommt das Olympe-Heft (Nr. 30) zu Care-Ökonomie. Neue Landschaften der feministischen Analysen und Debatten» heraus. Sie kann bei bestellungen@olympeheft.ch bestellt werden. Preis: Fr. 21.-.

Pharma-Skandal um Sandimmun Stephan Bosch, die Akte Sandimmun, ein Pharma-Skandal, rüffer & rub Sachbuchverlag, 176 Seiten, CHF 38.-, ISBN 978-3-907625-49-1, Neuerscheinung Oktober 2009. rsp. Dass dieses Buch grosses Aufsehen erregen würde, war zu erwarten, vor allem in der Pharma-Metropole Basel. Es deckt einen Skandal um das Immun­ depresssivum ‚Sandimmun’ auf, einen der rentabelsten Blockbuster aller Zeiten, welcher dem Pharmakonzern Sandoz über eine Milliarde Franken pro Jahr einbrachte. Das ab dem Jahr 1972 entwickelte Medikament mit dem Wirkstoff Cyclosporin unterdrückt die Abstossung fremden Gewebes und ermöglichte dadurch die Erfolge der Organtransplantation. In seinem Buch vertritt der Journalist Stephan Bosch die These, dem wahren Entdecker von Sandimun sei die verdiente Anerkennung verweigert worden. Nicht Jean-François Borel, den Sandoz öffentlich als Sandimmun-Entdecker feierte, habe den entscheidenden Anstoss zu Entwicklung des Medikaments gegeben, sondern dessen Chef Hartmann Stähelin. In Boschs Buch bekommen verschiedene bekannte Exponenten der Basler Pharmaindustrie ihr Fett weg. Etwa Sandoz-CEO Marc Moret, ein Mann, der in Basel wegen seines arroganten Verhaltens nach der Brandkatastrophe von Schweizerhalle als Antiheld gilt. Moret und Borel waren beide Welschschweizer, und dass bei Sandoz eine “welsche Mafia“ das Sagen hatte, war bekannt. Zusätzlich soll es laut Bosch eine “Ungarn-Mafia“ gegeben haben.

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Für Bosch ist die Bevorzugung Borels ein Skandal. Dass es auch sachliche Gründe dafür gegeben haben könnte, verschweigt er zwar nicht, gewichtet diese aber nicht sehr stark. Heute ist es jedoch eine Binsenwahrheit, dass die Lorbeeren für eine wissenschaftliche Entdeckung nur dem zufallen, der sich auch zu „verkaufen“ weiss. Somit ist es nachvollziehbar, dass der glänzende Kommunikator Borel ins Rampenlicht gestellt wurde und nicht Stähelin, der es vorzog, bescheiden im Hintergrund zu bleiben. Heutzutage ist zudem jedem und jeder klar, dass nur ein Team zur Entwicklung eines bahnbrechenden Medikaments wie Sandimmun in der Lage ist. Deshalb wirkt die Botschaft

“nicht Borel, sondern Stähelin“ etwas unglaubwürdig. Bosch betont zwar durchaus die Bedeutung des Teams, spitzt sein Buch aber doch auf eine Abrechnung zwischen Stähelin und Borel zu. ‚Die Akte Sandimmun’ ist jedenfalls eine lohnende Lektüre, welche auf unterhaltsame Weise ein interessantes Stück Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte aufrollt.

Spendenaufruf für Hurrikanopfer in El Salvador In der Nacht kam die Flut: Viele Leute in El Salvador hatten kaum eine Chance, sich vor den Wasser- und Schlamm-

lawinen zu retten, die mitten in der Nacht auf Sonntag, den 8. November, über sie hereinbrachen. Grosse Trauer herrscht bei der Partnerorganisation ALGES nach den Verwüstungen des Hurrikans Ida: Die Selbsthilfeorganisation der Kriegsversehrten verlor im Bezirk Aguilares eine Behinderte in den Fluten eines reissenden Flusses. Drei Teams von ALGES erfassten die materiellen Schäden: 821 Familien von Kriegsversehrten sind von den Zerstörungen betroffen. Anita Escher, Projektkoordinatorin von medico, erklärt, dass die aussergewöhnlich hohe Regenmenge dadurch zustande kam, dass die Ausläufer des Hurrikans Ida mit einer Unwetterfront vom Pazifik her zusammentrafen. Es regnete innert 12 Stunden örtlich 350 Liter pro Quadratmeter, dreimal soviel wie während des Hurrikans Mitch im selben Zeitraum. Ein trauriger Rekord. Nicht zum ersten Mal trifft eine Naturkatastrophe vor allem die Ärmsten, welche in risikoreichen Hanglagen ihre Hütten errichten müssen. Aber im Vergleich zu früheren Tragödien hat die neue, linksgerichtete Regierung des FMLN sich sofort mit den Opfern solidarisch erklärt, den Notstand ausgerufen, internationale Hilfe angenommen. «Erstmals gab es eine sofortige Reaktion der Regierung, Tausende wurden evakuiert. Die Leute sehen, dass sie Unterstützung erhalten, dass man sie nicht einfach liegen lässt», betont Anita Escher. Die Aktionen unserer Partnerorganisationen sind vielfältig: Die Melidas leisten psychosoziale Unterstützung für betroffene Gemeinden. ALGES sorgt sich um die durch menschliche und materielle Verluste hart getroffenen Familien der Kriegsversehrten. Die Hebammenvereinigung aus Suchitoto sammelt Babynahrung und weitere Nahrungsmittel für ihre Berufskolleginnen in stärker betroffenen Regionen. medico ruft dringend zu Spenden auf für die salvadorianischen Partnerorganisationen, welche momentan mit dieser solidarischen Nothilfe beschäftigt sind, sich aber ganz generell für eine langfristige Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzen. Spenden an PC 80-7869-1. Stichwort «El Salvador»


© Jea n- Ma rc G i boux pour MS F

Erste Hilfe für Menschen mit letzter Hoffnung.

Postfach, 8032 Zürich Tel. 044 385 94 44, Fax 044 385 94 45 www.msf.ch, kontakt@zurich.msf.org PK 12-100-2

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Unterstützen Sie mit Ihrer Unterschrift die Petition: Schweiz soll UNO-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung schnell ratifizieren Die Konvention basiert auf den bestehenden internationalen Menschenrechtsabkommen und garantiert deren Anwendung auf Menschen mit Behinderungen. Ziel ist der volle Genuss der grundlegenden Menschenrechte durch behinderte Menschen und deren aktive Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben. Die Konvention verbietet die Diskriminierung von Behinderten in allen Lebensbereichen und garantiert ihnen die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Die 2006 formulierte Konvention trat 2008 in Kraft und wurde bis heute von über 140 Staaten unterzeichnet und bis heute von 71 Staaten ratifiziert. Die Schweiz steht bisher abseits. Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und Sympathisanten fordern Bundesrat und Bundesparlament auf, die UNOKonvention und das Zusatzprotokoll zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung schnell und vollständig zu ratifizieren. Unterschreiben Sie noch heute! www.uno-konvention-behinderte.ch 4.09 / soziale medizin

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Am kommenden 7. März werden wir in der Schweiz über den Verfassungsartikel zur Humanforschung abstimmen. Umstritten ist dabei, wieweit mit Kindern und anderen nicht zustimmungsfähigen Menschen geforscht werden darf. Hier ein Kommentar, der für ein Ja am 7. März plädiert.

Forschung mit Kindern Der im September vom Parlament beschlossene Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen enthält nun doch inhaltliche Vorgaben. Gewisse Kreise bedauern das. Sie hätten eine reine Kompetenznorm bevorzugt, die lediglich festhält, der Bund sei zur Gesetzgebung auf dem Gebiet der Humanforschung befugt. Interessant ist, dass die Forderung nach einer Kompetenznorm aus zwei ganz unterschiedlichen Lagern kam, einerseits aus Forschungskreisen und andererseits vom Basler Appell gegen Gentechnologie. Der Basler Appell gegen Gentechnologie lehnt die so genannt fremdnützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen wie Minderjährigen, Demenzkranken, geistig Behinderten und Wachkomapatienten ab (vgl. S. 14). Deshalb spricht er sich auch gegen den jetzt beschlossenen Verfassungsartikel aus, der solche Forschung zulässt, wenn gleichwertige Forschungsergebnisse nicht mit urteilsfähigen Versuchspersonen gewonnen werden können und die betreffenden Untersuchungen nur zu minimalen Belastungen führen. Umgekehrt befürchten gewisse wissenschaftliche Kreise, die rechtlichen Bestimmungen über die Humanforschung würden sie zu sehr einschränken. Deshalb plädierten auch sie für eine reine Kompetenznorm. Hätte sich die Forderung nach einer Kompetenznorm durchgesetzt, wäre die entscheidende Auseinandersetzung aber nur hinausgeschoben. Denn zur Schaffung von gesamtschweizerischen Bestimmungen über die Humanforschung sind zwei

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Schritte nötig. Zuerst muss der Bund in der Verfassung ermächtigt werden, dieses Thema überhaupt zu regeln. Über diese Verfassungsänderung, die das Parlament im September verabschiedet hat, muss zwingend das Volk abstimmen, ohne dass jemand Unterschriften für ein Referendum sammeln müsste. Die Abstimmung wird am kommenden 7. März stattfinden, wobei sowohl das Volks- als auch das Ständemehr erforderlich sind.

Die Debatte hat bereits stattgefunden Ist der Verfassungsartikel dann angenommen, kann ein detailliertes Bundesgesetz über die Forschung am Menschen erlassen werden. Darüber kommt es nur dann zu einer Volksabstimmung, wenn 50‘000 Stimmberechtigte ein Referendumsbegehren unterschreiben. Der Entwurf für das Bundesgesetz liegt bereits vor und wurde auch schon ausgiebig diskutiert. Die Meinungen dazu sind weitgehend gemacht (wir haben uns in der Sozialen Medizin schon verschiedentlich intensiv damit auseinandergesetzt, z.B. in den Ausgaben 4.05, 2.06 und 4.08). Es handelt sich um eine Konkretisierung des Verfassungsartikels, über den wir am 7. März abstimmen.

Es geht um Grundrechte Wer als Verfassungsartikel eine reine Kompetenznorm fordert, verkennt den Charakter der Bundesverfas-

sung. Eine Verfassung ist dazu da, den Umfang der elementaren Grundrechte abzustecken. Und genau darum geht es in Zusammenhang mit der Humanforschung, um eine Abwägung zwischen der Selbstbestimmung des einzelnen Menschen und dem gesellschaftlichen Interesse an der wissenschaftlichen Forschung. Das Wesentliche in der bevorstehenden Abstimmungsdebatte sind aber nicht derartige verfassungssystematische Finessen. Im Vordergrund steht zu Recht die inhaltliche Frage, wieweit Kinder und andere nicht einwilligungsfähige Menschen als Versuchspersonen an medizinischen Studien teilnehmen dürfen. Dass es sich bei diesen um eine besonders schutzwürdige Menschengruppe handelt, stimmt. Umgekehrt ist es aber auch eine Tatsache, dass sichere Medikamente beispielsweise für Kinder und Menschen mit einer Demenzkrankheit nicht entwickelt werden können, wenn Studien mit solchen Menschen ausgeschlossen sind. Deshalb überzeugt die Stossrichtung des Verfassungsartikels: Forschung mit nicht Urteilsfähigen ja, aber nur wenn es wirklich nötig ist und die Belastungen und Risiken minimal sind. Es empfiehlt sich, am 7. März ja zu stimmen. Ruedi Spöndlin

Der vom Parlament beschlossene Verfassungsartikel und Begleitinformationen dazu finden sich auf der Website des Parlaments unter: http://www.parlament.ch/d/dokumentation/dossiers/do-humanforschung/Seiten/ do-humanforschung-gesetzestext.aspx


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