MM Magazin

Page 200

(200_201)

Point Of View

Rauschen im Ohr Tagsüber ist es heiß, brüllend heiß. Vielleicht 50, 60 Grad. Das kann man nur aushalten, weil es so trocken ist. Und Nachts ist es elendig kalt. Kein Windhauch. Kein Strauch oder Blatt, das rascheln könnte. Kein Flieger im Himmel. Das nächste Autobahnkreuz sechs Wochen weg. Nichts. Kurz vor dem Einschlafen höre ich nur das Rauschen des eigenen Blutes in den Ohren. Um vier Uhr morgens, wenn die Kälte in den Schlafsack kriecht, wache ich auf. Das Wasser in der Trinkflasche ist gefroren. Oben die Sterne, so hell wie nirgendwo sonst. Dann, wenn die Sonne aufgeht, die besten Stunden des Tages. Es braucht nichts. Gar nichts. Das waren mit die schönsten Tage meines Lebens. 1986. Nirgendwo zwischen Djanet und Tamanrasset in der algerischen Sahara. Nach zwei Monaten ohne Lebenszeichen von mir (Internet-Cafés? SMS? Hä?) schickte ich ein Telegram nach Hause. Das dauerte auf dem staubigen Postamt einen halben Tag und kostete ein Vermögen. Umgerechnet 14 Tage Essen. Ich war vier Monate unterwegs, analog, ohne Ziel, ohne Bindung. Into the Wild. Mit Rückfahrkarte. Mobiltelefone waren so groß wie Koffer, und GPS irgend etwas Militärisches. Layouts wurden geklebt, Fotos abgezogen, Reprofilme belichtet. Eine Angebotsanfrage dauert eine Woche. Und kam mit Briefmarke zurück (die wurden ausgeschnitten und nach Bethel geschickt). 2008 liegt die Knarre im Anschlag. Auf den Empfänger gezielt. Keine Antwort in 24 Stunden? Job weg. Ausgemustert. Loch in der Brust. Wir haben die Lunte gezündet. Raketenstart in Lichtgeschwindigkeit. Schneller als in der aktuellen BMW Kpgn. Wie die Beschleunigung des Beats: von Pop zu Jungle (40-190 bpm). Von Brief zu Blackberry. Von 128 zu G5. Von KB zu TB. Mein nächstes Handy gibt’s mit PB- (Petabyte), EB- (Exabyte) oder SMTB- (Schlagmichtodbyte) Chip. 70% der über 10-Jährigen in Deutschland nutzen täglich das Internet. In Afghanistan sind es 0,1%. Kommunikation ist die Waffe des neuen Jahrtausends. Sie reißt ein Loch zwischen Reich und Arm. 2005 organisierte ich mit zwei Freunden die „Bastard“-Reise um die Welt (www. bastard-project.com). Sechs Metropolen in drei Wochen: Mexico City, Los Angeles, Tokyo, Hong Kong, Bangkok und Dubai. Auf der Suche nach kultureller Identität sammelten wir Material für das Buch „Bastard – Choose my Identity“, das 2006 erschien. In Städten, in denen es kracht oder der Culture-Clash vorprogrammiert ist. Via Internet und Mail checkten wir unsere Kontakte. Wer macht was, wo, wann? Können wir vorbeikommen? Kein Problem. CU. Wir trafen Designer, Freaks und Freunde. Eine Fotografin schrieb uns: »I am an Indian born in Dubai, U.A.E, schooled in England, worked in Rome and India and now in the Gulf, I have English and French blood, do not speak my native language, but can speak Arabic, French and Spanish. I cook excellent Thai curry, travel the world, wear Gucci sandals and Banana Republic t-shirts, eat McDonalds.« Der Trip war schnell, verrückt, bunt. Das virtuelle Tempo haben wir am eigenen Leib erfahren. Alles schrumpfte zum globalen Dorf zusammen.

MMMAGAZINE

01 _ 2009

M/M Inside


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.