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Sinfonie Nr. 2 e-Moll

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IM FOKUS

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ZUM WERK SERGEI RACHMANINOW Sinfonie Nr. 2 e-Moll

RACHMANINOWS 2. SINFONIE UND DIE SELBSTZWEIFEL DES KOMPONISTEN

VON ANSELM GERHARD Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow hat nicht den besten Ruf – jedenfalls nicht als Komponist. Gleichwohl sind nicht nur seine vier Klavierkonzerte, sondern auch seine drei Sinfonien fest im Repertoire verankert. Die Musikgeschichtsschreibung hingegen räumt ihnen meist nur herablassende Fussnoten ein. Wie viele Komponisten, die nach 1900 am spätromantischen Idiom festhielten, steht auch der 1873 (ein Jahr vor Schönberg) geborene Rachmaninow unter Kitsch-Verdacht. Die Herkunft aus dem vorrevolutionären Russland macht ihn besonders suspekt.

Zu sentimental scheint die von Tschaikowski begründete Tradition einer elegischen Sinfonik.

Rachmaninows 2. Sinfonie knüpft offensichtlich an Tschaikowski an, insbesondere an dessen dreissig Jahre ältere 4. Sinfonie in f-Moll. Vom ersten Takt bis zum Schlussakkord entfaltet das 1907 vollendete Werk die verschiedensten Schattierungen von Melancholie. Eine deutschsprachige Biografie zitiert – ohne Beleg – eine Besprechung, die hier «Mütterchen Russlands gesammelte[n] Weltschmerz» erkannt haben will.

Auch wenn russische Sinfonien immer noch als Ausprägung einer ‹nationalen Schule› und somit als Randphänomen abgewertet werden: Rachmaninows Zweite ist von beeindruckender Stringenz. In allen vier Sätzen konkretisieren sich suchende Bewegungen im engsten Tonraum erst allmählich in thematischen Gestalten. Alle diese ‹Themen› sind von kleinsten Intervallen geprägt. Ihnen scheint der Zweifel an der grossen Geste eingeschrieben. In der alle Sätze überspannenden Motivik ist «ein in seiner Bewegung gehemmtes Sich-Aufbäumen» zu erkennen, um Boris Assafjews Charakterisierung von Tschaikowskis 5.

Sergei Rachmaninow (1873–1943)

© Wikimedia Commons

Sinfonie in derselben Tonart e-Moll aufzugreifen. Dabei mag man – vor allem im 2. Satz – melodische Anklänge an das mittelalterliche Dies irae ausmachen, das Rachmaninow immer wieder umgetrieben hat. Den «Kontrastreichtum» dieses Allegro molto rühmte ein Kritiker der Moskauer Erstaufführung als «ein ständig seine Farben wechselndes Chamäleon. […] Man möchte meinen, dieser Satz wäre der beste von allen, aber wenn man sich dann die anderen vergegenwärtigt, beginnt man zu schwanken.» Wie dem auch sei: Der perkussive Beginn dieses mitreissenden Scherzos weist in die Zukunft, nicht zuletzt auf das sinfonische Schaffen des 1906 geborenen Schostakowitsch. Irritierenderweise steht dieses Allegro molto – obwohl offensichtlich als Scherzo intendiert – im 4/4-Takt, wie alle anderen Sätze auch. Rachmaninow unterläuft jedoch das Risiko rhythmischer Monotonie, indem er auf weite Strecken im 3. Satz, im 4. Satz dann fast ausnahmslos die Viertel in Achteltriolen unterteilt. Zusätzlich aufgelockert wird der nicht als solcher bezeichnete 12/8-Takt durch den gelegentlichen Antagonismus von Vierteltriolen der Bläser und Vierteln der Streicher im Finalsatz. Nicht nur deshalb sind Zweifel angebracht, ob dieser Finalsatz in E-Dur – in der Lesart der sowjetischen Musikwissenschaftlerin Olga Sokolowa – als «ein freudiger Triumph des Lebens und der Kräfte des Lichts» gedeutet werden sollte. Denn auch hier schlägt Rachmaninow immer wieder einen elegischen Ton an, noch die letzten Takte vor den Schlussakkorden trübt er mit Mollakkorden ein.

Begonnen hat Rachmaninow seine ambitionierteste Sinfonie im Herbst 1906, fast gleichzeitig mit der temporären Übersiedlung nach Dresden. Bereits am 11. Februar 1907 lag eine vollständige Fassung im Particell vor. Doch beschlichen den Komponisten (ganz ähnlich wie Tschaikowski) bei der anschliessenden Orchestrierung quälende Selbstzweifel. Am 13. April 1907 schrieb er seinem Freund Nikita Morozow, die Sinfonie sei die «schlechteste» der drei Kompositionen, an denen er gerade arbeite. Gleichwohl erwies sich die Uraufführung am 28. Januar 1908 in Sankt Petersburg (und auch die Moskauer Erstauff ührung vier Tage danach) als grosser Erfolg.

Dennoch sah Rachmaninow gegen Ende seines Lebens – er starb 1943 in Kalifornien, nachdem er 1917 Russland für immer verlassen hatte – einschneidende Kürzungen vor. Erst seit einem guten Jahrzehnt wird stets die ungekürzte Fassung von 1908 gewählt. Mit etwa einer Stunde Dauer lässt sie dieses vielschichtige Werk in all seinen faszinierenden Facetten leuchten.

Sinfonie Nr. 2 eMoll

BESETZUNG 3 Flöten, 3 Oboen, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug, Streicher

ENTSTEHUNG 1906/07 in Dresden

URAUFFÜHRUNG 28. Januar 1908 in St. Petersburg unter der Leitung des Komponisten

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