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Pekka Kuusisto, Violine
RAUM FÜR DIE FANTASIE
VON CHRISTA SIGG Man muss die Musik nicht vom Sockel holen, um ihr näherzukommen. Pekka Kuusisto hat da angemessenere Methoden: Eine Bach-Partita bleibt natürlich eine Bach-Partita mit all ihren Qualitäten, aber das Tänzerische dieser Musik herauszuschälen, trifft den speziellen Swing des Komponisten oft mehr, als sich vor lauter Ehrfurcht nur noch auf die Perfektion zu konzentrieren. Überhaupt sollte man sich in der Klassik nicht abschotten. Der 45-jährige Geiger aus dem finnischen Espoo hat das nie getan, deshalb knackt er sein Publikum binnen Sekunden.
Ein Gespräch über seidene Mäntel, Geheimnisse und dicke Finger.
CS Pekka Kuusisto, Sie beginnen Ihre
Saison als ‹Artist in Residence› beim
Sinfonieorchester Basel mit Ralph
Vaughan Williams The Lark Ascending.
Zu dieser Romanze scheinen Sie eine besondere Beziehung zu haben. PK In letzter Zeit habe ich sie ziemlich oft gespielt, früher kaum. Aber der Geschmack entwickelt sich, genauso das Repertoire. Und mir fiel auf, dass die Aufführungstradition der ‹aufsteigenden Lerche› stark von der frühen Aufnahmetechnik geprägt ist.
CS Sie schmeichelt dem Stück nicht unbedingt? PK Alles war auf die Violine konzentriert, die dann auch entsprechend prägnant für die Mikrofone gespielt wurde. Das geht bei vielen Stücken in Ordnung, doch Vaughan Williams hat für die Geige über weite Strecken einen dunstigen Klang vorgesehen und dazu im Pianissimo. Wenn man das beachtet, wird die Struktur des Stücks viel interessanter und mehrdeutiger. Das lässt viel Raum für die Fantasie.
CS Gibt Ihnen das als Solist nicht auch mehr Freiheit? PK Unbedingt. Die Geige muss ja auch beides ausdrücken: die Stimme des Vogels und seine Flugbahnen. Manchmal sind das ganz simple Passagen, aber wenn man sie mit grosser Intensität oder zu gewichtig spielt, geraten sie meiner Meinung nach ungewollt komisch. Sich da zurückzuhalten, verleiht dem Stück mehr Poesie.
CS In Grossbritannien ist The Lark Ascending äusserst populär. PK Das geht über die Grenzen der klassischen Musik weit hinaus. Vor ein paar Jahren gab es in einer der grossen Tageszeitungen eine Umfrage, welche Musik man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, und The Lark Ascending lag deutlich in Führung – vor Bohemian Rhapsody von Queen. Das ist wie bei uns mit Jean Sibelius’ Finlandia, es gehört einfach zum Bewusstsein des Volks.
CS Ralph Vaughan Williams begann vor dem Ersten Weltkrieg, das Stück für
Violine und Klavier zu komponieren, dann hat er es 1920 für Violine und
Orchester umgearbeitet. PK Vaughan Williams war als Soldat in Frankreich, wo sein Gehör durch die Geschütze Schaden nahm. Und er hat den Krankenwagen gefahren und die Verletzten transportiert. All das ist ihm tief im Gedächtnis geblieben.
CS An manchen Stellen klingt The Lark
Ascending fast paradiesisch, und man gewinnt den Eindruck, in einen seidenen Mantel gehüllt zu werden. Hat sich Vaughan Williams eine Art Kokon oder Rückzugsort geschaffen? PK Dem würde ich zustimmen, aber ich meine, dieser seidene Mantel hat früher einer anderen Person gehört, die nicht mehr da ist. Diese Erinnerung ist eine sehr melancholische. Wenn man die Melodie genauer untersucht, steht sie zwar in Dur, aber die entsprechende Moll-Tonart klingt durch. So haben wir anstelle von G-Dur einen e-Moll-Akkord. Vaughan Williams wollte eine Art nostalgische Distanz haben.
CS Berührt Sie das Stück nach Ihren vielen Aufführungen noch? PK Oh ja, und mit The Lark Ascending lassen sich ausserdem so viele Türen öffnen.
CS Sie können vor allem auch Ihren speziellen Geigenton ausführlich vorstellen. Dagegen ist das zweite Stück, an dem Sie beteiligt sind, sehr kurz. PK Anders Hillborgs Arrangement von Johann Sebastian Bachs Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ funktioniert ein bisschen wie der Zwischengang in einem Menü. Es entstand im Rahmen von Kompositionsaufträgen, die das Schwedische Kammerorchester in Örebro vergab: Zu sämtlichen Brandenburgischen Konzerten sollten ‹verwandte› neue Stücke entstehen. So kam es auch zu Bach Materia, in dem Anders zum ersten Mal Ich ruf zu dir verarbeitet hat.
CS Bach Materia ist Ihnen gewidmet – und Anders Hillborg ist in dieser
Saison ‹Composer in Residence› beim
Sinfonieorchester Basel. PK Das freut mich besonders, denn Anders ist ein fantastischer, sehr offener Typ. Man kann mit ihm alles anstellen.
CS Das könnte man von Ihnen aber auch sagen. Woher kommt diese Neugier? PK Mit dem Jazz bin ich durch meinen Vater schon sehr früh in Berührung gekommen. Dann natürlich auch mit der Volksmusik, die ist bei uns ganz wichtig, und irgendwann mit der elektronischen Musik. Das Musikleben meines Vaters war in jeder Hinsicht aussergewöhnlich. Er hat wirklich alles ausprobiert, und davon habe ich sicher einiges geerbt. Meine Mutter war Musik-
lehrerin und eine Art Gegenpol zum Vater. Sie hat grossen Wert auf das Üben und Arbeiten mit den Stücken gelegt und wusste, worauf es ankommt – zum Beispiel, um ein professioneller Geiger zu werden. Diese klassische Ausbildung ermöglicht mir, das umzusetzen, was ich mir vorstelle.
CS Sie haben einmal damit kokettiert,
Ihre Hände seien für das Geigenspiel alles andere als ideal. Ein netter
Scherz. PK Aber nein, sehen Sie sich meine Finger an, die sind kurz und dick – bitte, bei Geiger*innen müssen sie doch lang und dünn sein! In den höheren Lagen sitzen die Töne sehr eng aneinander, und mit diesen Fingern habe ich echt ein Problem. Also übe ich mindestens eine Stunde am Tag, nur um da geschmeidig zu bleiben. Erst dann kommt das Repertoire dran.
CS Wie die meisten in Ihrer Familie komponieren und dirigieren Sie auch.
Spielt man mit diesem Blick in den
Maschinenraum der Musik anders? PK Sicher, wenn ich dann zum Beispiel das Tschaikowski-Violinkonzert spiele, kann das auch knifflig werden. Aber gerade beim Dirigieren versuche ich, das Stück aus der Perspektive des Komponisten zu sehen. Das hilft ungemein.
CS Spielen Sie noch Ihre Stradivari-Geige aus den 1720er-Jahren? PK Zum Glück ja, denn diese Geige ist extrem flexibel.
CS Haben Sie ihr Geheimnis inzwischen entdeckt? PK Wir kennen uns jetzt schon ein paar Jahre, und unsere Unterhaltung war von Anfang an ziemlich interessant. Wir sind also gute Freunde. Aber das Spiel mit dieser Stradivari ist jeden Tag ein neues Experiment. Es bleibt also aufregend, aber das mag ich ja!