Einheit und Gegensatz

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Symmetrie (convenientia) und Einheit (unitas) muss innerhalb von Raum und Zeit begrenzt bleiben, da es zeitlich der Veränderung und Wandelbarkeit und räumlich der Teilbarkeit unterworfen bleibt und somit niemals eine vollkommene Einheit darstellen kann.230 Das gemeinsame Verständnis von Schönheit bei Goethe und Augustinus als eine auf Einheit rekurrierende und auf ihr basierende Erscheinung lässt sich durch die gemeinsame Wurzel bei Plotin erklären. Ebenso wie Goethe der schönen Erscheinung von ebenmäßigen Kompositionen nicht widerspricht, allerdings auf die »verborgene Symmetrie« dahinter verweist, warnt Augustinus davor, dass man auf der Suche nach dem Schönen bereits vor der erscheinenden Vielheit stehen bleibt und in ihr bereits die Vollendung zu erblicken glaubt. Der anschauliche schöne Gegenstand ist vielmehr der Ausgangspunkt, von dem aus man die wahre Schönheit im eigentlichen Wortsinn aus dem Verborgenen heraus entdecken kann.231 Sowohl bei Goethe als auch bei Augustinus lässt sich aus Perspektive einer ästhetischen Theorie festhalten, dass die Schönheit der Dinge erstens auf die Wohlproportioniertheit der einzelnen Elemente und ihrer Bezüge zueinander zurückzuführen ist. Zweitens aber erwächst die Schönheit jener ebenmäßig gestalteten Dinge nicht aus der Ebenmäßigkeit der Erscheinung an sich, sondern aus der übergeordneten Idee, auf die diese Ebenmäßigkeit rekurriert. Sowohl bei Goethe als auch bei Augustinus ist diese übergeordnete Idee verkörpert im Begriff der Einheit. Unterschieden muss zwischen den beiden Denkern jedoch bezüglich des Wesens jener Einheit werden, ferner bezüglich der jeweiligen Motivation, die ein Streben nach Einheit zum Gut erhebt. Ist es bei Augustinus der Gedanke einer vollkommenen Form, die folglich als einzig mögliche Form dem summum bonum zugesprochen werden kann bzw. die Vorstellung, dass das höchste Gut eben eine vollkommene Einheit ist und jedes Rekurrieren auf diese vollkommene Einheit erstrebenswert, weil letztendlich eine imitatio dei darstellend, so ist das Streben nach Einheit im Falle Goethes zunächst weniger metaphysisch motiviert. Vielmehr lässt sich festhalten, dass Goethe nicht zuletzt durch seine naturwissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnisse zu einer Weltsicht gelangte, in der er ihm die Annahme tatsächlicher Gegensätze mehr und mehr zu einer unvertretbaren Illusion wurde.232 Unter den Paralipomena zu den »Propyläen« findet sich ein »Schema über das Studium der bildenden Künste«, in dem Goethe in Stichpunkten zunächst den Menschen und, in einem zweiten Schritt, »Begebenheiten des Menschen« als Gegenstand der bildenden Kunst umreißt:

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schen und Christlichen in Augustins »De vera religione«, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 23 (1924), S. 64102. Vgl. De vera religione 55 (insbesondere 55,151) und 59. Vgl. De vera religione 63,177. Die Vorstellung von tatsächlichen bestehenden Gegensätzen steht dem Erkenntnisstreben Goethes mit dem Ziel, ein sicheres Wissen zu erlangen, fundamental entgegen. Insbesondere in den Bemühungen um eine Farbenlehre erhält die Einsicht in eine »objektive Ordnung des subjektiven Wahrnehmens« ihre Ausfaltung, vgl. Gisella Schulz-Uellenberg: Goethe und die Bedeutung des Gegenstandes für die bildende Kunst, München 1947, hier S. 170-191, Zitat auf S. 185. 83


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