Hitchcock und der MacGuffin

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HITCHCOCK UND DER McGUFFIN WELCHE ROLLE SPIELEN DIE 40.000 DOLLAR IN PSYCHO ecosign/ Akademie f체r Gestaltung Philosophie B Der Fall Wagner im WiSe 2013/14 bei Bernd Draser Vorgelegt von Simon Broich am 01. M채rz 2014 simon.broich@ecosign.net


INHALT EINLEITUNG

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1. ALFRED HITCHCOCK

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2. DER MAC GUFFIN

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3. PSYCHO

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4. DIE 40.000 DOLLAR

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5. FAZIT

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LITERATURVERZEICHNIS

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EINLEITUNG Der filmische Begriff des MacGuffin entstammt einer Ausführung Alfred Hitchcocks in seinem berühmten Interview mit François Truffaut. Er beschreibt ihn wie folgt: „It might be a Scottish name, taken from a story about two men in a train. One man says ‚What’s that packckage up there in the baggage rack?‘, and the other answers ‚Oh, that’s a McGuffn.‘ The first one asks ‚What’s a McGuffin?‘ ‚Well‘, the other man says, ‚It’s an apparatus for trapping lions in the Scottish Highlands‘. ThThe first man says ‚But there are no lions in the Scottish Highlands.‘, and the other one answers ‚Well, then that’s no MacGuffin!‘. So you see, a MacGuffin is nothing at all.“ Aus dieser zunächst kryptisch und skurril anmutenden Antwort ergibt sich, dass es sich bei einem MacGuffin um ein Phänomen handelt, welches zunächst den alleinigen Zweck hat, die Geschichte voranzutreiben oder den Plot erst entstehen zu lassen. Wie Hitchcocks Beispiel der Löwenfalle zeigt, kann der MacGuffin mitunter sehr beliebig gewählt sein. Wichtig ist alleinig,dass der Held des Filmes diesen für wichtig erachtet. Bekannte Beispiele für einen MacGuffin in Hitchcocks Filmen sind etwa eine Geheimformel in THE 39 STEPS, der in Weinflaschen gefüllte Uran-Staub in NOTORIUS oder die 40.000 Dollar in PSYCHO. Mit letzterem wollen wir uns in dieser Arbeit beschäftigen. Dazu werden wir zunächst das Leben und Schaffen des Master of Suspense skizzieren. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den immer wiederkehrenden Motiven in Hitchcocks Filmen. Diese werden wir anhand von einigen Präzendenzwerken aufzeigen und näher beleuchten. Schließlich kommen wir zum Begriff des MacGuffins. Anhand von Beispielen und den wenigen Erläuterungen, die Hitchcock selbst in seinem Interview mit François Truffaut gegeben hat, werden wir aufzeigen, was es damit auf sich hat. Um zu dem konkreten MacGuffin in PSYCHO überzuleiten, sehen wir uns die Handlung und die Entstehungsgeschichte des Films etwas genauer an. Dabei wird uns auffallen, dass Hitchcock mit der Einbringung des MacGuffin, einen ganz bestimmten Zweck verfolgt. Um die Vorgehensweise besser zu verstehen, sehen wir uns PSYCHO im darauf folgenden Kapitel noch einmal genauer an, diesmal aus der Sicht der 40.000 Dollar. Im Fazit werden wir die neuen Erkenntnisse abschließend reflektieren.

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1. ALFRED HITCHCOCK Alfred Joseph Hitchcock wird am 13. August 1899 in London geboren. Sein Vater stammt aus Essex, besaß eine Geflügelhandlung. Sein Katholizismus zeigte sich in einer streng katholischen Erziehung des Sohnes, die großen Wert auf mitunter außergewöhnliche Strafmaßnahmen legte. Über seine Kindheit ist nicht viel bekannt. Die Strafmaßnahmen seines Vaters zeigen sich deutlich an einer bekannten Anekdote aus dem Leben des jungen Hitchcocks: Als er wieder einmal ausriss, um einer seiner liebsten Hobbies nachzugehen – Busfahrten von einem Ende der Stadt bis zum nächsten – dachte sich sein Vater etwas Besonderes aus. Er schickte ihn mit einem Brief zur nächsten Polizeiwache, in der ein befreundeter Polizist arbeitete. Dieser sperrte ihn für fünf oder zehn Minuten in eine Zelle – für den kleinen Hitch eine schier endlose Zeit. Hitchcock erklärt seine vermeintliche Angst vor Polizisten oft mit diesem Erlebnis. (vgl. Chabrol / Rohmer 2013, S. 26) Seine Familie hatte ein Faible für das Theater. Im Interview mit Françios Truffaut erinnert er sich, dass er als Kind schweigsam war. Er begnügte sich mit dem Beobachten, amüsierte sich alleine und erfand seine eigenen Spiele. Der Katholizismus mündet auch darin, dass Hitchcock auf das Jesuitencollege St. Ignatius in London geschickt wird. Hitchcock berichtet, dass sich bei ihm in dieser Zeit ein starkes moralisches Gefühl entwickelt hat. Er hatte Angst davor, mit dem Bösen in Berührung zu kommen. (vgl. Truffaut 2003, S. 21f.) Auf dem College war er ein eher mittelmäßiger Schüler. Den Höhepunkt bildete das Fach Geographie. Darüber hinaus war er mathematisch begabt und konnte zeichnen. Vor diesem Hintergrund erscheint es logisch, dass er anschließend den Weg des Ingenieursstudium einschlug. Dieser währt aber nur kurz. Er besuchte Kunst-Abendkurse und fand bei einer Werbeagentur einen Job, wo er für das Zeichen von Plakaten zuständig war. Nach einem weiteren Job bei einer Telegraphengesellschaft, bei der er einen Schauspieler kennenlernte, dem er bei Zeiten aushalf, landete er schließlich in der Filmproduktion. (vgl. Charbol / Rohmer, 2013 S. 26f.) Er war damals um die neunzehn Jahre und hatte schon seit längerer Zeit ein Interesse am Kino. Er ging abends alleine zu Premieren und fing an, Fachzeitschriften zu studieren. Noch während seiner Zeit bei der Telegraphengesellschaft W.T. Henley zeichnete er Zwischentitel für Filme, die ihm in Magazinen begegneten. Schließlich zeigte er sie bei der amerikanischen Filmproduktionsfirma Famous Players-Lasky vor und wurde eingestellt. Er war Leiter der Titelabteilung und arbeitete später für die Dramaturgie des Studios. (vgl. Truffaut 2003, S. 24) Einmal erkrankte ein Regisseur und der Hauptdarsteller sollte die Verantwortung für die Regie übernehmen. Hitchcock wurde im Studio sehr geschätzt. So verpflichtete man ihn zur Assistenz und „der ‚dicke junge Mann‘ stand ihm mit Begeisterung zur Seite“. (Charbol / Rohmer 2013, S. 27) Obwohl er vorher schon an einer Reihe von Filmen mitwirkte und Regie führte, beginnt für ihn seine Karriere mit THE LODGER von 1926, der zugleich auch sein erster Suspense-Thriller wird. Der Film wird sowohl ein finanzieller Erfolg als auch von den Kritikern gelobt. Der Name Hitchcock war danach nicht mehr nur noch Insidern bekannt, sondern erreichte die breite Öffentlichkeit. Rückblickend lässt sich sagen, dass vieles, was Hitchcocks Filme ausmachte, bereits damals sichtbar war. So zum Beispiel der unschuldig Verfolgte, gegen den sich alle Umstände zu verschwören scheinen, die Handschellen als „Symbol pervertierter Freiheit“ (Charbol / Rohmer 2013, S. 34) sowie eine gewisse Neigung für christliche Ikonographie. Vor allem lässt sich aber Hitchcocks virtuoser Umgang mit visuellen Effekten erkennen. (vgl. ebd.) 4


So beginnt der Film mit einer fünfzehn- minütigen Sequenz über einen Winternachmittag in London. In der ersten Einstellung zeigt er ein schreiendes Mädchen, dessen Haare er auf einer Glasplatte ausbreitet und von unten anstrahlt, so dass sie noch mehr auffallen. In einer anderen Szene richtet sich der namensgebende Mieter ein und geht in seinem Zimmer auf und ab, wodurch der Leuchter in der Wohnung darunter hin und her wackelt. Dazu hatte er die Decke aus dickem Glas machen lassen, so dass man den Mieter hindurch sehen konnte. (vgl. Truffaut 2003, S. 35f.) Man ahnt seine Vorliebe für solcherart Taschenspielertricks, die er erst später zügeln können wird. (vgl. Charbol / Rohmer 2003, S. 36) Seine folgenden Filme verwenden sehr viel weniger solcher Spielereien und meistens nur, um damit eine Emotion beim Zuschauer hervorrufen zu können. Damals fügte er sie oft zum Spaß : „Der Stil hat sich geändert. Heute würde ich mich mit dem schaukelnden Leuchter begnügen“ (Truffaut 2003, S. 41) Auch zeigt sich Hitchcock in THE LODGER das erste Mal selber in zwei Cameo-Auftritten. Erst als „reine Zweckmäßigkeit“, damit das Bild voller erscheint, während es später „zum Aberglauben“ und später für ihn nur noch ein „ziemlich lästiger Gag“ war. (Truffaut 2003, S. 44) Sein darauf folgender Film DOWNHILL von 1927 dagegen floppte bei den Kritikern, obwohl er heute durchaus sogar besser als THE LODGER empfunden wird. Nennenswert ist vor allem, dass in DOWNHILL erstmals das Motiv der Reise wichtig wird, dem man im weiteren Œuvre noch oft begegnen wird. Erstaunlich ist auch die symbolische Raffinesse: Die Reise des Protagonisten verläuft von Nord nach Süd – parallel zum Abstieg des Helden, ebenso in einer Sequenz des Deliriums in Marseille, in der vorwiegend in die Tiefe führende Treppen auftauchen. Die Mise-en-scène erscheint insgesamt durchdachter. Auf Grund des Misserfolgs wird Hitch aber formale Studien dieser Art zunächst einige Zeit unterbrechen. (vgl. Charbol / Rohmer 2013, S.38ff.) Einer der folgenden Filme, THE MANXMAN (1929) wurde von Hitchcock wenig geliebt. „Das einzig Interessante an The Manxman ist, dass es mein letzter Stummfilm war.“(Truffaut 2013, S. 52) Und in der Tat weist THE MANXMAN an vielen Stellen auf den aufkommenden Tonfilm hin. So spricht die Protagonistin in einer Szene den Satz, dass sie ein Baby erwarte, so deutlich aus, dass man es ihr von den Lippen ablesen kann. Der Regisseur behauptet THE MANXMAN sei „kein Hitchcockfilm“. (Truffaut 2013, S. 53) Das liegt offensichtlich daran, dass die Literatur, auf der der Film basiert, selbst einen starken Ruf hatte und in einer gewissen Tradition stand. Hitchcock musste das Werk respektieren und sich sehr eng an den Stoff halten. (vgl. Truffaut 2003, S. 53) Dies wird auch bei JUNO AND THE PAYCOCK von 1930 ersichtlich. Obwohl der Film gute Kritiken bekam, kam sich Hitch als „unehrlich vor“ (Truffaut 2003, S. 60) Hitchcock verstand den Stummfilm als „die reinste Form des Kinos“ (vgl. ebd.) Einzig Geräusche und die Stimmen der Figuren fehlten. Für ihn waren die großen Veränderungen, die der Tonfilm mit sich brachte, nicht gerechtfertigt. Die Technik des Stummfilms sei in ihren letzten Jahren nahe der Perfektion angelangt, behauptet François Truffaut. Mit dem Tonfilm kam wieder eine gewisse Mittelmäßigkeit zum Zuge. Hitchcock spricht oft von ‚Fotografien von redenden Leuten‘ (ebd.) Für ihn gilt, dass wenn „man im Kino eine Geschichte erzählt, sollte man nur den Dialog verwenden, wenn es anders nicht geht.“ (ebd.) Er sucht „zunächst nach der filmischen Weise, eine Geschichte zu erzählen durch die Abfolge der Einstellungen“. (ebd.) Allerdings entwickelt Hitchcock auch im Umgang mit dem Ton einen künstlerischen Anspruch. So gibt es im Film BLACKMAIL (1929) eine Szene, in der die Protagonistin auf dem Tisch ein Brotmesser, ähnlich der Mordwaffe, sieht. Zeitgleich kommentiert eine Nachbarin einen Zeitungsbericht, aus dem Alice aber immer nur das Wort „knife“ zu verstehen glaubt. (vgl. Charbol / Rohmer 2013, S. 56f.)

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Mit THE 39 STEPS dreht Hitchcock eine Art Urbild für eine Kriminalfilm-Handlung: Auf der einen Seite der strahlende Held, auf der anderen das Obskure, Böse. Durch die Umsetzung als perfekten Spionagefilm erhält der Regisseur die Möglichkeit, einige ausgefallene Ideen zu verwirklichen, die ihm auf dem Herzen lagen, wie zum Beispiel die Szene, in der Mr. Memory kurz vor seinem Tod sein geheimes Wissen in Agonie hervorbringt, wie bei einer Beichte. Bei der Botschaft handelt es sich en passant um eine „unverständliche physische Formel, also im Grunde eine völlig absurde und lächerliche Sache“ (Charbol / Rohmer 2013, S. 80) – ein offensichtlicher MacGuffin. Auf den Begriff werden wir später zurückkommen. THE 39 STEPS ist es, der den Namen Hitchcock weltweit bekannt macht und dem Regisseur Angebote aus Hollywood einbrachte. Da ist er also, der anspruchsvolle, kommerzielle Film. Im Jahr 1936 dreht Hitch SECRET AGENT. Erneut – wie der Name andeutet – ein Agenten-Thriller. Auch lassen sich wieder eine Reihe an Themen aus der Hand des Meisters erkennen: Das Drehbuch basiert auf einer seichten Erzählung, es gibt einen mutmaßlich Schuldigen und eine Reise in ein fremdes Land. Neu ist hingegen die Rolle des Widersachers. Im Gegensatz zu den düsteren Gestalten aus früheren Filmen ist der Antagonist ein „charmanter, aufmerksamer junger Mann, der umso gefährlicher ist, da er so sympathisch wirkt.“ (Charbol / Rohmer 2013, S. 82f.) Um seinen Ruf in Hollywood zu stärken, beginnt Hitchcock noch im selben Jahr mit SABOTAGE, der in Hitchcocks Karriere einzigartig ist. (vgl. Charbol / Rohmer 2013, S. 85) Anhand von SABOTAGE wollen wir den Begriff des Suspense näher beleuchten. Im Gegensatz zu einem Whodunit* handelt es sich dabei nicht um ein intellektuelles Rätsel. (Truffaut 2003, S.63) Bei SABOTAGE wird dies schnell deutlich, da der Täter, der für den Stromausfall verantwortlich ist, bereits in der ersten Sequenz entlarvt wird. Es geht somit „nicht um den Täter, es geht darum, die Zuschauer auf ihren Stühlen hin- und herrutschen zu lassen‘“. (Esser 1999, S. 79) Der Suspense* drückt sich in SABOTAGE folgendermaßen aus: Der Saboteur, ein Kinobetreiber, schickt seinen Stiefsohn mit ein paar Filmrollen und einem Paket zum Piccadilly Circus, den er zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichen soll. Der Stiefvater und das Publikum wissen, dass sich in dem Paket eine Bombe mit Zeitzünder befindet. Der Junge macht sich auf den Weg, wird aber immer wieder aufgehalten. Das Publikum fühlt sich gezwungen ihm zuzurufen, er möge sich doch beeilen. Dadurch werden wir als Zuschauer in eine Art Komplizenschaft gezwungen. Die Bombe explodiert schließlich mitsamt dem Jungen. Hitchcock beteuerte dies als einen schlimmen Fehler, da der Junge dem Publikum über den Film hinweg sehr sympathisch geworden war. (vgl. Esser 1999, S. 79f.) Wir stellen fest: Emotionen sind ein wichtiger Bestandteil des Suspense. Dabei muss es nicht notwendigerweise um Leben und Tod gehen. So ist eine Telefonistin in EASY VIRTUE voller Suspense, als sie einem Paar zuhört, die über das Heiraten reden. (vgl. Truffaut 2003, S. 62)

*Who done it – Wer hat es getan? – Ein Film, bei dem es um die Aufklärung geht, wer eine Tat begannen hat.

*engl. Spannung, Ungewissheit

Mit dem Oscar-prämierten Film REBECCA wird „der ‚Hitchcock-Touch‘, der bis dahin lediglich Merkmal war, zum Entwurf einer Welt. Die Spontanität unterwirft sich einem System“ (Charbol / Rohmer 2013, S. 100) Die Protagonistin in REBECCA erinnert sich: ‚Mein Vater malte immer die gleiche Blume. Er glaubt, daß es den Künstler, wenn er einmal seinen Gegenstand gefunden hat, nur noch danach verlangt, ausschließlich diesen zu malen‘ (ebd.) Und in der Tat wird Hitch nicht mehr von seinem Stil abweichen. (vgl. ebd.) Springen wir ins Jahr 1948. Hitchcock ist inzwischen in Hollywood etabliert. Er beschließt, eine eigene, unabhängige Firma zu gründen – Transatlantic Pictures – um UNDER CAPRICORN zu drehen, dass ihm sehr am Herzen lag. Da er wie schon einmal bei THE MANXMAN einen Misserfolg befürchtet, beschließt er, zuvor einen Film zu probieren, der günstig gedreht werden kann. ROPE wurde im TMT-Verfahren* verwirklicht. Die Schnitte wurden quasi unsichtbar durch bildfüllende Jackenrücken realisiert. Durch die wenige Schnittarbeit war es möglich, die Produktionszeit auf 13 Tage zu verkürzen. (Charbol / Rohmer 2013, S. 140f.)

* TMT = ten minute take Dabei wird die etwa 10 minütige Projektionsdauer einer Filmrolle von 300 Metern für eine Einstellung komplett ausgenutzt.

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REAR WINDOW bot Hitchcock 1954 „die Möglichkeit, einen vollkommen filmischen Film zu machen“ (Truffaut 2013, S. 211) Der Film besteht nahezu vollkommen aus drei Stücken. Zum einen „der unbewegliche Mann, der nach draußen schaut. […] Das zweite Stück läßt in Erscheinung treten, was der Mann sieht, und das dritte zeigt seine Reaktion. Das stellt den reinsten Ausdruck filmischer Vorstellung dar, den wir kennen.“ (ebd.) Hitchcock leitet dieses Stilmittel vom sogenannten Kuleshow-Experiment ab: Es zeigt die Einstellung einer Person und lässt darauf das Bild eines toten Babies folgen. Der Zuschauer liest im Gesicht der Person Mitleid ab. Wird die Einstellung des Babies durch die eines leeren Tellers ersetzt, lesen wir im Gesicht der Person Hunger ab. (vgl. Charbol / Rohmer 2013, S. 211) Nachdem wir einen Einblick in die wiederkehrenden Motive in Hitchcocks Werk erhalten haben, lässt sich sagen, dass Hitchcock wohl von Anfang seiner Laufbahn an den Willen hatte, nur Dinge zu filmen, von denen er visuell inspiriert wurde und die ihn dramaturgisch interessierten. Er eliminierte systematisch ‚dramaturgische Löcher‘ und ‚Flecken von Langeweile‘ (Truffaut 2003, S. 303) Entscheidend ist dabei, dass er sich das Ausgangsmaterial einverleiben kann. Er ist sich sicher, dass er „keinen guten Film zustandebringen [könne], den zur Gänze ein anderer geschrieben hätte.“ (Truffaut 2003, S. 309) Er praktizierte das Filmemacher wie eine Religion, wie folgendes Zitat zeigt: „Wenn ich ins Atelier komme und die schweren Türen sich hinter mir schließen, egal ob in Hollywood oder in London, mache ich keinen Unterschied. Eine Kohlengrube bleibt eine Kohlengrube.“ (Truffaut 2003, S. 329) Wenige Filmschaffende in Hollywood wurden selber so zur Ikone wie Hitchcock. Kein anderer Regisseur ist so sehr zum Bild geworden wie „der kleine dicke Mann mit den Trompeterbacken, ein Blick blasierter, abgründiger Genüßlichkeit, Dyonisos, der Apollo gefressen hat. Körper und Antlitz in so einfache Linien übersetzt, als gelte es, Modell für einen Grundkurs in Portrait-Karikatur zu bilden, und ein Markenzeichen, das sich für die Vernetzung unterschiedlichster Angebote auf dem Pop-Markt eignete.“ (Seelen 1999, S. 186)

2. DER MAC GUFFIN Das vermeintliche Leitmotiv in FOREIGN CORRESPONDENT (1940) ist ein Geheimnis, das ein alter niederländischer Politiker bewahrt – die berühmte Geheimklausel, ein bekannter MacGuffin. Doch um was genau handelt es sich bei einem MacGuffin? Erst einmal ist es ein Vorwand, eine Finte. Beim Dreh spricht man auch von „gimmick“. Hitchcock führt ihn auf die Geschichten des britischen Schriftstellers Rudyard Kipling zurück. Diese handeln oft von indischen und britischen Soldaten, die an der afghanischen Grenze gegen Eingeborene kämpfen. Immerzu ging es auch um den Raub geheimer Festungspläne. Dies nannte man MacGuffin – also eine kryptische Bezeichnung für den Raub von Dokumenten, Papieren oder Geheimklauseln. Hitchcock hat sich bei seiner Arbeit immer vorgestellt, „die Papiere, die Dokumente oder Konstruktionsgeheimnisse der Festung müßten ungeheuer wichtig sein für die Personen des Films, aber ganz ohne Bedeutung für mich, den Erzähler.“ (Truffaut 2003, S. 125f.)

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Hitchcock erinnert der Name MacGuffin an Schottland. Er stellt sich folgendes Gespräch zwischen zwei Männern in einem Zug vor: „Der eine sagt zum anderen ‚Was ist das für ein Paket, das Sie da ins Gepäcknetz gelegt haben?‘ Der andere: ‚Ach das, das ist ein MacGuffin.‘ Darauf der erste: ‚Und was ist das, ein MacGuffin?‘ Der andere: ‚Oh, das ist ein Apparat, um in den Bergen von Adirondak Löwen zu fangen.‘ Der erste: ‚Aber es gibt doch überhaupt keine Löwen in den Adirondaks.‘ Darauf der andere:‚Ach, na dann ist es auch kein MacGuffin.‘ Diese Geschichte zeigt […] die Leere, die Nichtigkeit des MacGuffin.“ (Truffaut 2003, S. 126) Der MacGuffin brachte Hitchcock immer wieder in komische Situationen mit Autoren. Diese richteten ihr Augenmerk auf den MacGuffin, der für Hitch total unwichtig war. So sucht der Protagonist in THE 39 STEPS nach einem Mann, dem ein Finger fehlt und die Spionin am Beginn des Filmes wird auf Grund eines großen Geheimnisses, dem sie auf der Spur war, erdolcht. Diese Umstände sind für die Figuren immens wichtig, für den Plot jedoch auswechselbar. Warum die Geschichte dadurch dennoch nicht an Wert verliert, zeigt ein Einblick in die Entstehung von THE 39 STEPS, den uns Hitchcock gibt: In der ersten Fassung des Drehbuchs erreicht der Protagonist einen Berggipfel, von dem aus er unterirdische Flugzeughallen entdeckt. Der MacGuffin bestand also aus Luftfahrtgeheimnissen. (vgl. Truffaut 2003, S. 126) „Wir glaubten, der MacGuffin müßte großartig sein, und zwar sowohl inhaltlich als auch visuell. Dann haben wir uns die Idee genauer vorgenommen. Was würde der Spion nach der Entdeckung solcher Flugzeughallen machen? […] Was würden in diesem Falle die potentiellen Feinde des Landes machen?“ (Truffaut 2003, S. 126) Es wurde sogar daran gedacht, die Hallen zu sprengen, was aber für den Film ein unmöglichen Aufwand darstellte. Hitchcock weiter: „Wir haben uns das alles überlegt und eine Idee nach der anderen fallengelassen, bis wir zu etwas ganz Einfachem gekommen sind.“ (Truffaut 2003, S.127) Schließlich wird der MacGuffin eine mathematische Formel, die mit der Konstruktion von Flugzeugmotoren in Verbindung steht. Mitunter kann der MacGuffin sogar lächerlicher Natur sein, wie das Liedchen der alten Dame in THE LADY VANISHES. (vgl. Truffaut 2003, S. 127) Oft, wenn die Hauptfigur im Laufe eines Films in Lebensgefahr gerät, verkommt der MacGuffin zur Nebensache. Diesem Phänomen werden wir später bei PSYCHO begegnen. Hitchcock deckt den MacGuffin oft nach dem zweiten Drittel auf, um einem erklärenden Ende aus dem Weg zu gehen. Für ihn sei das Wichtigste, was er gelernt habe, „daß der Macguffin überhaupt nichts ist.“ (Truffaut 2003, S. 127) Für ihn ist einer der besten MacGuffins auch gleichzeitig „der leerste, nichtigste, lächerlichste – der von North by Northwest. […] Da haben wir den MacGuffin, reduziert auf seinen reinsten Ausdruck: nichts.“ (ebd.) Schließlich griff auch Slavoj Žižek den Begriff des MacGuffins auf, wenn er fragt, ob nicht der Ring in Wagners Opernzyklus DER RING DES NIBELUNGEN „the greatest MacGuffin of all times“ (Žižek 2008, S. 224) ist. Diese Arbeit unternimmt den Versuch, auf Žižeks Frage eine Antwort zu geben.

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3. PSYCHO Die Buchvorlage für PSYCHO stammt von Robert Bloch, einem Protegé von H.P. Lovecraft aus einer kleinen Stadt in Wisconsin. Er hatte bereits diverse Gruselstories veröffentlicht und fand Gefallen an schockierenden Zeitungsmeldungen. Schon in der Romanvorlage baut Bloch eine Ungewöhnlichkeit ein: Er erschuf eine mehr oder weniger sympathische Heldin, steckte sie in Schwierigkeiten und ließ sie plötzlich, nach einem Drittel des Filmes, umbringen. Dies war es, was Hitch an dem Stoff am meisten beeindruckte. (vgl. Hahn / Gießen 1999, S. 119f.) Der Beginn von PSYCHO ordnet sich in ein für Hitchcock gängiges Expositionsprinzip ein: „vom Entferntesten zum Nächsten, die Stadt, ein Gebäude in dieser Stadt, ein Zimmer in dem Gebäude“. (Truffaut 2003, S. 260) Dazu wurde uns der Titel der Stadt, in dem die Handlung spielt eingeblendet: Phoenix. Eine nach Hitch wenig elegante Lösung. „Meistens habe ich das Bedürfnis, einen Ort, auch wenn man ihn kennt, subtiler einzuführen.“ (ebd.) Bei PSYCHO ist das anders: Hitchcock war es in diesem Fall sogar wichtig „den Namen der Stadt […] auf die Leinwand zu schreiben, dazu den Tag und Stunde des Handlungsbeginns, um auf ein sehr wichtiges Faktum zu kommen: Es war siebzehn Minuten vor drei nachmittags, und das ist der einzige Moment, an dem dieses arme Mädchen Marion mit Sam, ihrem Geliebten schlafen kann.“ (Truffaut 2003, S. 261) Das Paar unterhält sich und wir erfahren „Marios […] und Sam, ihrem Geliebten […] fehlen die Mittel zu einem normalen Familienleben.“ (Truffaut, 2003, S.260) In der nächsten Szene wird Marion von ihrem Arbeitgeber damit beauftragt, 40.000 Dollar auf die Bank zu bringen, die er soeben von einem Kunden für den Kauf eines Hauses erhalten hat. Sie verschwindet mitsamt dem Geld aus Phoenix. (vgl. Truffaut 2003, S.260) In einem heftigen Regenschauer findet sie Bates‘ Motel, das von Norman Bates geführt wird, einem großen sympathischen jungen Mann, der so schüchtern ist, dass er vor lauter Stottern kaum das Wort Badezimmer über die Lippen bekommt, als er Marion ihr Zimmer zeigt. (vgl. Jansen 1999, S. 403f.) Er erzählt ihr, dass er mit seiner kranken Mutter in dem Haus aus viktorianischer Zeit oberhalb des Motels wohnt. (vgl. Truffaut 2003, S.260f.) Im Gespräch mit Norman scheint es, als würde dieser Marion (eher unbeabsichtigt) davon überzeugen, das Geld zurückzubringen: ‚Ich glaube, wir sind alle in unseren eigenen Fallen gefangen. […] wir werden alle manchmal verrückt.‘ (Duncan 2003, S. 159) Marion ist aber vor allem damit beschäftigt, die Bargeldbündel zu verstecken und hüllt diese in eine Zeitung ein, die sie auf dem Nachttisch liegt. (vgl. Jansen 1999, S. 404) Als sie danach vorm Schlafengehen unter die Dusche geht, wird sie überraschend von einer alten Frau mit unzähligen Messerstichen ermordet. Die Frau verschwindet so plötzlich, wie sie gekommen ist. Wenn Norman die Leiche entdeckt, ist er überaus bestürzt, macht sich aber auf, um alle Spuren der Tat zu beseitigen. (vgl. Truffaut 2003, S. 261) Wer PSYCHO einmal gesehen hat, wird diese Szene wohl nicht vergessen, wie penibel Norman Bates das Badezimmer reinigt. Immer wieder schrubbt und wischt Norman über die Fliesen. (vgl. ebd.) ‚Wenn ich geh‘ aus die Badraum, morgens fruh, die Badraum ist sauber, immer.‘ (Jansen 1999, S. 403) Manch einer behauptet, Hitchcocks Reinlichkeit spiegelt sein Gründlichkeit im Schnittraum wieder. Nachdem er alle Spuren beseitigt hat, packt Norman Marions Leiche, ihr Gepäck und und ihre Kleider in ihr Auto. Es scheint, als habe er das Zeitungspaket übersehen. Erst als er noch einmal in das Zimmer zurückgeht, entdeckt er es und wirft es in ihren Kofferraum. Anschließend versenkt er den Wagen in einem Sumpf hinter dem Haus. (vgl. Jansen 1999, S. 405) 9


Drei Personen nehmen Marions Spur auf: ihre Schwester Lila, ihr Liebhaber Sam und der Versicherungsagent Arbogast, der von dem Kunden, den Marion um das Geld gebracht hat, beauftragt wurde. Dieser sucht diverse Motels im Umkreis ab, doch Norman Bates erregt bei ihm besonderen Verdacht, als er sich weigert, ihn zu seiner Mutter zu bringen. Arbogast berichtet Lila und Sam von seinem Verdacht und macht sich heimlich auf, das Haus über dem Motel in Augenschein zu nehmen und mit Normans Mutter zu sprechen. Als er die Treppe in den ersten Stock* erstiegen hat, wird er ebenso plötzlich wie zuvor Marion erstochen. (vgl. Truffaut 2003, S. 261)

*Bei Hitchcock ist der erste Stock in der Regel der Ort, an dem die herrscherische Mutter wohnt.

Lila und Sam haben derweil den Sheriff der Stadt kontaktiert und erfahren zu ihrem Erstaunen, dass Normans Mutter bereits seit zehn Jahren tot ist. Auch sie begeben sich zum Haus. Nur knapp kann Sam Lila vor einer Attacke der Mutter retten. Im anschließenden Kampf erfahren wir, dass es Norman ist, der sich als seine Mutter ausgibt. Am Ende des Filmes erfahren wir, dass Norman eine Persönlichkeitsstörung aufweist, die ihn dazu führt, dass er, wenn er sich mit seiner Mutter identifiziert, zu einem pathologischen Mörder wird. (vgl. ebd.) Eine interessante Entdeckung hat Slavoj Žižek in der zweiten Sequenz von PSYCHO gemacht: kurz bevor der Ölmillionär, dem Marion seine 40.000 Dollar entwenden wird, das Büro mit ihrem Chef betritt, sehen wir Hitchcock durch das Fenster auf dem Gehweg stehen. Der reiche Mann trägt „denselben Stretson-Hut – er ist also eine Art Ersatz für Hitchcock, der von ihm in den Film geschickt wird, um Marion in Versuchung zu führen und dadurch die Geschichte in die erwünschte Richtung zu treiben“ (Žižek 2002, S. 200) Und in der Tat wendet Hitchcock eine Reihe an Tricks an, um das Publikum zu verwirren.„Dieser Film ist sehr interessant konstruiert. Er war, was das Spiel mit dem Publikum betrifft, für mich die aufregendste Erfahrung. In PSYCHO habe ich das Publikum geführt, als ob ich auf einer Orgel gespielt hätte.“ (Truffaut 2003, S.264) Alles zielt darauf hin, dem Publikum möglichst keine Gelegenheit zu geben, sich auf den Mord an Marion vorzubereiten. Selbst die erste Sequenz dient dazu, „das Publikum auf den sexuellen Aspekt hinzuweisen. Später im Motel, glaubt man wegen dieser ersten Szene […], Perkins sei nur ein Voyeur. (Truffaut 2003, S. 262) Bei der ersten Hälfte* von PSYCHO handelt es sich um genau das, was man in Hollywood einen roten Hering nennt. Das „heißt ein Dreh, der die Aufmerksamkeit ablenken soll, um den Mord besonders stark zu machen, daß er wirklich völlig überraschend kommt.“ (Truffaut 2003, S. 263) Alles wird mehr oder weniger künstlich in die Länge gezogen, um „das Publikum mit der Frage zu fesseln: Wird sie gefasst oder nicht?“ (Truffaut 2003, S. 264)

* Žižek weißt darauf hin, dass der Mord an Marion den Film in Übereinstimmung des Goldenen Schnitts trennt, bei dem das Verhältnis des kleineren zum größeren Teil genau dem Verhältnis des größeren Teils zum Ganzen entspricht

Die Gestaltung des Plots war so innovativ, dass Hitch darauf bestand, niemanden mehr nach Beginn des Films in den Kinosaal zu lassen: ‚No one … BUT NO ONE … will be admitted to the theater after the start of each performance of Psycho. […] You must see it from the beginning. (Hahn / Giesen 1999, S.124) Nicht allein nach dem selbstdiktierten Maßstab des reinen Films gilt PSYCHO oft als der Gipfelpunkt des Hitchcockschen Werks. Thematisch erreicht PSYCHO einen Grad der Entwicklung, bei dem keine Steigerung mehr möglich ist. Und so handelt es sich bei vielen der folgenden Filme um Variationen und Rückgriffe. Mit Norman Bates „hat der Schrecken Gestalt angenommen und sich verselbstständigt. Bates ist der Inbegriff der von Angst dominierten Hitchcockschen Welt“. (Jendricke 2005, S. 107)

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4. DIE 40.000 DOLLAR Im Folgenden wollen wir nachverfolgen, wie Hitchcock mit den von Marion entwendeten 40.000 Dollar – dem MacGuffin in PSYCHO – den Zuschauer auf die falsche Fährte lockt. Erstmals taucht das Geld in der zweiten Sequenz auf. Tom Cassidy, ein Ölmillionär betritt das Büro, in dem Marion arbeitet und erklärt ihr auf auf dringliche Art, dass er von dem Geld seiner Tochter ein Haus als Hochzeitsgeschenk kaufen werde. Aus Angst davor, so viel Geld über das Wochenende in seinem Büro zu haben, bittet ihr Chef Lowery Marion darum, das Geld zur Bank zu bringen, um es in einen Scheck zu konvertieren. (vgl. Sequenzprotokoll, S.3) Ihre Kollegin ergreift das Geld mit der neckischen Bemerkung, dass Cassidy wohl gewusst haben müsse, das Marion das Geld gut gebrauchen könne. (vgl. ebd.) Marion fragt Lowery, ob sie sich den Nachmittag frei nehmen könne, da sie an Kopfschmerzen leide. Beim Hinausgehen fragt ihre Kollegin, ob Marion eine Kopfschmerztablette haben möchte, worauf sie entgegnet, dass bei Unglücklichsein keine Tabletten helfen. Sie werde es über das Wochenende ausliegen. (vgl. ebd.) In ihrer Wohnung sehen wir, wie Marion sich umzieht und ihre Koffer packt. Dabei wandert ihr Blick immer wieder auf den Umschlag mit dem Bargeld. (vgl. ebd.) Einige Zeit später befinden wir uns mit Marion in ihrem Wagen an einem Highway. Sie hat die Nacht im Auto verbracht und wird von einem bedrohlich wirkenden Polizisten geweckt. Marion erweckt Verdacht bei ihm und er fragt nach ihrem Führerschein. Sie holt die Papiere aus ihrer Tasche, penibel darauf achtend, dass der Polizist nicht den Geldumschlag entdeckt. (vgl. ebd.) Als Marion weiterfahren kann, verfolgt der Polizist Marion einige Zeit, während sie immer wieder nervös in den Rückspiegel blickt. (vgl. ebd.) In der nächsten Sequenz hält Marion an einem Gebrauchtwagenmarkt in Bakersfield. Sie hat offensichtlich vor, ihren Wagen gegen einen mit kalifornischem Kennzeichen zu tauschen. Dabei entdeckt sie der Polizist, dem sie zuvor begegnet ist und beobachtet sie von der gegenüberliegenden Straßenseite. Nichtsdestotrotz schließt sie den Kauf ab und macht sich wieder auf den Weg. (vgl. Sequenzprotokoll S.3f.)

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Während der Fahrt hört sie die Stimmen ihrer Kollegin und ihres Chefs und auch die Cassidys, der vorhat, einen Detektiv einzuschalten. Es fängt heftig an zu regnen und Marion macht Halt bei Bates Motel. (vgl. Sequenzprotokoll, S.4) Als Marion in ihrem Zimmer das Geld in eine zuvor gekaufte Zeitung einwickelt, hört sie Stimmen aus dem alten Haus über dem Motel. Es scheint, als wäre es Norman, der mit seiner Mutter streitet. (vgl. ebd.) Sie schreibt in ein Notizbuch, wieviel Geld ihr nach Kauf des Autos noch bleibt – offenbar spielt sie mit dem Gedanken es wieder zurückzubringen – wirft den Zettel dann aber zerrissen in die Toilette (vgl. ebd.), was nebenbei bemerkt auch schon ein Schockmoment für das Publikum darstellen sollte. Noch nie zuvor wurde eine Toilette auf der Leinwand gezeigt. (Hahn / Gießen, 1999, S. 121) Anschließend geht sie unter die Dusche, wo sie schließlich von Norman, respektive seiner Mutter ermordet wird. Anschließend folgen wir der Kamera, die sich aus Marions Auge windet, anschließend den Blick auf das Geld richtet und in einer Einstellung auf das Haus endet. Wir hören, wie Norman aufgeregt seine Mutter fragt, wo das Blut herkomme und er aufgeregt in das Zimmer stürmt, überwältigt vom Anblick der toten Marion. Er schließt die Tür und schaltet das Licht aus. (vgl. ebd.) Bei der berühmten Duschszene handelt es sich um eine für damalige Zeiten stilistische Novität. Der für die Filmplakate, den Vorspann und das Storyboard verantwortliche Saul Bass hatte an der „fast stroboskopischen Schnittfolge“ (Hahn / Gießen 1999, S. 123) wesentlichen Anteil. „Vierzig, sechzig Schnitte in zwei, drei Minuten“ (Hahn / Gießen 1999, S. 124) hatte es zuvor nicht gegeben. Mit dem Geld im Vordergrund sehen wir, wie Norman Marions Leiche in den Duschvorhang einwickelt, die Duschwanne und den Boden putzt. (vgl. ebd.) Er legt Marion mitsamt ihren Besitztümern in ihr Auto und holt bei einem zweiten Gang in das Zimmer die Zeitung mit dem Geld. Danach schiebt er den Wagen in einen benachbarten Sumpf. (Sequenzprotokoll S. 4f.) Marions Schwester Lila sucht Sam in seinem Laden auf, um sich nach ihrem Verbleiben zu erkundigen. Fast im selben Augenblick betritt Arbogast den Laden. Er ist weniger an Marion interessiert als am Geld seines Auftraggebers. (vgl. Sequenzprotokoll S. 5) Als Lila und Sam Bates Motel aufsuchen, kommt es zu einer Auseinandersetzung, in der Sam Norman beschuldigt, die 40.000 Dollar an sich genommen zu haben. (vgl. ebd.) In der letzten Szene des Filmes wird schließlich Marions Wagen (und damit das Geld) mit einem Kran aus dem Sumpf gezogen. (vgl. ebd.) Wie wir sehen, steht das Geld bis zu Marions Tod immer im Fokus. Es ist „genau das Geld, […], das Marion aus der Bahn ihres alltäglichen Treibens warf und sie auf eine fatale Reise schickte.“ (Žižek 2002, S. 215) Durch die ständige Fokussierung auf das Geld trägt Hitchcock dem Publikum Rechnung, das immer vorgreifen möchte und anscheinend genau weiß, was als nächstes kommt. Aus diesem Grund kommen Marions Flucht, das Geld und auch anderen Nebensächlichkeiten wie der Wechsel des Autos eine solche Bedeutung zu, um die Gedanken des Zuschauers zu lenken. (vgl. Truffaut 2003, S. 264) In der Kamerafahrt nach Marions Ermordung lässt sich genau der Übergang zwischen den beiden Teilen des Filmes lokalisieren. Hier sehen wir die beiden Hauptmotive in einer Einstellung. Die Einstellung bezeichnet den „Moment des Übergangs von einer Oberfläche

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zu ihrer Rückseite, vom Register des hysterischen Begehrens zu jenem des psychotischen Triebs. (Žižek 2002, S. 210) Anders als in anderen Hitchcock-Filmen sind wir „weit entfernt von der üblichen Hitchcockschen Subversion der Oberfläche des idyllischen Alltagslebens durch ihre düstere Kehrseite.“ (ebd.) PSYCHO vermittelt von Anfang an ein Bild von Sorgen und Ängsten des Alltags, die „Hysterie des kapitalistischen Alltagslebens“. (ebd.) Eben diese wird mit ihrer krankhaften Kehrseite konfrontiert. Beide Welten stehen im Verhältnis, wie die beiden Seiten einen Möbius-Bandes: Fährt man eine Seite nur lange genug entlang, findet man sich auf der anderen wieder. Dies ist es, was wir in der genannten Sequenz erleben: „Die Spirale tritt hier zuerst durch den Abfluß ein, dann durch das Auge ab. (vgl. Žižek 2002, S. 210)

5. FAZIT Fassen wir die Ergebnisse dieser Arbeit zusammen. Wie wir gesehen haben, handelt es sich bei Alfred Hitchcock um einen herausragenden Regisseur. Bereits am Anfang seiner Karriere zeigte sich ein starkes Gefühl für das Visuelle. Schon bei THE LODGER wusste er, wie er eine Geschichte zu seiner machte. Dabei zeigt sich, dass seine besten Filme entstanden, wenn er sich nur sehr lose an die Romanvorlage hielt. So war es etwa auch bei VERTIGO, THE BIRDS oder eben PSYCHO. Filme wie THE MANXMAN, die hingegen eng an eine erfolgreiche Literatur gebunden sind, markieren Tiefpunkte in Hitchcocks Schaffen, über die der Meister selbst nur äußerst ungern spricht. Ob es sich bei Hitchcocks Werken um Autorenkino handelt, sei dahin gestellt. Die Meinungen gehen auseinander. Fest steht jedoch, dass die Filme (mit Erfolg) sehr weit von ihrem Ausgangsmaterial abweichen. Neben seinem Gespür für gute Geschichten zeichnet ihn auch seine Obsession für Symbole aus, die er, wann immer es geht, in seine Filme einbaut, mit der Zeit immer subtiler. Schon in frühen Filmen wie beispielsweise THE RING gibt es diese visuellen gimmicks: Auf einem Fest wird Champagner ausgeschenkt und ein Toast auf die Heldin ausgebracht. Man merkt, dass sie überhaupt nicht da ist, sondern mit einem anderen Mann verschwunden ist. Der Champagner im Glas sprudelt nicht. In VERTIGO, einem Spiel mit Faksimilen und Devotionalien erreicht dies wohl seinen Höhepunkt. Das Aufkommen des Tonfilms nimmt Hitchcock wenig euphorisch auf. Er muss mitansehen, wie der Tonfilm dem Kino nicht nur Dialoge und Geräusche hinzufügt, sondern diesen insgesamt wandelt. Viele Filme gleichen seiner Meinung nach „Fotografien von redenden Leuten“. Das Kino verkommt immer mehr zum Theater, in dem nicht die Handlung, sondern Dialoge das Geschehen bestimmen. Er hält mit seinem Begriff des „reinen Kinos“ dagegen. Ein Präzedenzwerk dazu ist REAR WINDOW, der zu einem großen Teil auf Blicken basiert: Wir sehen den Protagonisten, wir sehen, was er sieht und schließlich seine Reaktion. Hitchcock prägt den Begriff des Suspense. Man kann sagen, dass er seinerzeit den Alleinanspruch auf dieses Metier hatte. Unvergessen ist die Szene des kleinen Jungen, der unwissend die Bombe zum Piccadilly Circus transportieren soll und auf tragische Weise

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umkommt. Der Film ROPE handelt von nichts anderem als dem Spiel mit dem Wissen des Zuschauers und dem Unwissen der Figuren auf der Leinwand. Im Grunde basiert PSYCHO komplett auf diesem Spiel mit dem Publikum. Hitchcock hat es gespielt wie eine Orgel. Es gelang ihm, das Publikum auszutricksen, wenn es sich wieder einmal dachte „Ich weiß, was als nächstes kommt.“ Sehen wir uns PSYCHO an, so gibt es im ersten Drittel nahezu keine Sequenz, in der es nicht um das Geld geht. Vom Augenblick des Diebstahls, über die Autofahrt, bis zur Überlegung im Motel ist es zu sehen, wird erwähnt oder führt zu einer Reaktion der Protagonistin. Alles, um vom eigentlichen Hauptmotiv des Filmes abzulenken, dem pathologischen Mörder Norman Bates. Interessant in dieser Hinsicht ist auch die an Marions Ermordung anschließende Szene: Wir sehen eine Kamerafahrt von Marions Leiche über das Geld zum Haus von Normans Mutter, so als ob wir uns von dem Geld verabschieden würden, um zu einem neuen Thema überzugehen. Erwähnenswert in PSYCHO ist auch, dass sich das Geld im Brennpunkt zweier Begriffe befindet. Das Geld verkörpert neben dem MacGuffin auch den red herring. Im Filmsprech bezeichnet die Redewendung ein Ablenkungsmanöver, dass uns von der richtigen Fährte wegbringen soll. Worin besteht aber nun das Recht, die 40.000 Dollar als MacGuffin zu bezeichnen, als „nichts“? Ist es nicht immanent wichtig für die Handlung? Die Antwort darauf ist einfach. Aus Hitchcocks Geschichte über die beiden Männer im Zug lassen sich drei Kriterien ableiten: 1. Ein MacGuffin muss für den/die Protagonisten von immenser Bedeutung sein. 2. Ein MacGuffin muss in die Geschichte passen. 3. Ein MacGuffin ist austauschbar. Wenden wir die Kriterien auf die 40.000 Dollar an. Das Geld ist für Marion zunächst wichtig. Es ist ihr Schlüssel, um mit Sam zusammenleben zu können. Dafür nimmt sie es auf sich, es zu stehlen. Ebenso passt es sich in das Universum, in dem der Film spielt, gut ein. Eine solche Handlung ist sehr leicht denkbar. Der dritte Punkt zielt auf die Leere des MacGuffins. In PSYCHO wäre das Geld sehr leicht ersetzbar. Die Kriterien dafür ergeben sich aus den ersten beiden Punkten. Für die Handlung wäre es nur wichtig, das der MacGuffin Marion zu Bates Motel und damit zu Norman führt. Denkbar wäre etwa, dass Marion von ihrem Chef zu einem Kunden geschickt wird, einen Umweg fahren muss, bei dem sie in den Regenschauer gerät und deshalb bei Bates Motel einen Zwischenstopp einlegen muss. Sämtliche Ereignisse davor könnten dieselben sein. Es ist nicht klar, ob Hitchcock der Erfinder des MacGuffins ist. Doch keiner hat ihn wohl so exzessiv eingesetzt. Slavoj Žižek fragt etwa, ob der Ring in Wagners DER RING DES NIBELUNGEN nicht der größte MacGuffin aller Zeiten sei. Und in der Tat kann man den Ring als MacGuffin avant la lettre bezeichnen. Auch er erfüllt die genannten Kriterien. So verfügt er zwar über gewisse Zauberkräfte, diese werden aber so gut wie nicht genutzt. Er ist einfach nur apriori wertvoll und erstrebenswert. Auch in der heutigen postmodernen Popkultur findet sich die Idee des MacGuffins häufig wieder. Stichwörter sind etwa der Koffer in PULP FICTION oder der Teppich in THE BIG LEBOWSKY. Abschließend lässt sich also sagen, dass der MacGuffin eins der vielen Motive ist, mit denen Hitchcock das Kino geprägt hat.

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LITERATURVERZEICHNIS Duncan, Paul (2003): Alfred Hitchcock. Taschen: Köln. Charbol, Claude / Rohmer, Éric (2013): Hitchcock. Alexander Verlag: Berlin. Esser, Michael (1999): Bange machen gilt – Spannung, Suspense und Schicksal. In: Beier, Lars-Olav / Seeßlen, Georg (Hrsg.): Alfred Hitchcock_. Bertz: Berlin, S. 75 – 92. Hahn, Roland M. / Giesen, Rolf (1999): Alfred Hitchcock. Droemersche Verlagsanstalt: München. Hendrike, Bernhard (2005): Alfred Hitchcock. Rowohlt Taschenbuch Verlag: Reinbek. Jansen, Peter W. (1999): Psycho (1959/60). In: Beier, Lars-Olav / Seeßlen, Georg (Hrsg.): Alfred Hitchcock. Bertz: Berlin, S. 185 – 222. Seelen, Georg (1999): Mr. Hitchcock Would Have Done It Better – Oder: Warum es keine wirkliche Nachfolge von Alfred Hitchcock gibt. In: Beier, Lars-Olav / Seeßlen, Georg (Hrsg.): Alfred Hitchcock. Bertz: Berlin, S. 185 – 222. Truffaut, François (2003): Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?. Heyne: München. Žižek, Slavoj (2002): Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Suhrkamp: Frankfurt am Main. Žižek, Slavoj (2008): Enjoy your Symptom!: Jaques Lacan in Hollywood and Out. Routledge: New York.

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