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Buchvorstellung

Do, 19.05. | 19.15 Uhr

Die eiserne Marie Die Geschichte des Wolfskindes Liesabeth Otto Im Mai 1994 war die Filmemacherin Geschwistern schlägt fehl und so werden Ingeborg Jacobs im Gebiet Kaliningrad aus wenigen Wochen acht lange Jahre, unterwegs. Für eine Reportage suchte die sie über die Dörfer zieht – fast immer sie Russlanddeutsche, als sie auf die allein. Nur selten schließt sie sich anderen alte Ostpreußin Liesabeth Otto traf. Sie Kindern an, die in der gleichen Lage sind wurde neugierig, lebten damals doch nur wie sie: „Wolfskindern“. So nannte man noch rund zwanzig bis dreißig ehemalige die ostpreußischen Kriegswaisen und KinEinwohner in dem Gebiet. Als sie auf der, die von ihren Eltern getrennt wurden Deutsch zu erzählen begann, war sogleich und die der Hunger ins ländliche Litauen klar: Liesabeth Ottos Lebensgeschichte ist trieb. Wie viele Kinder es bei Kriegsende einmalig. Die Filmautorin fragte sie, ob waren, ist nicht bekannt. Schätzungen gesie einverstanden sei, vor hen davon aus, dass sich die Kamera zu treten und 1948 ca. 5.000 deutsche durfte sogleich mit den Kinder und Jugendliche Dreharbeiten beginnen, in Litauen aufhielten. die wenige Monate später Im Jahr 1953, Liesabeth im Gebiet Kaliningrad, ist fünfzehn Jahre alt, in Litauen und der ruswird sie wegen eines sischen Taiga fortsetzt Diebstahls zu sieben Jahwurden. Staunend und ren Straflager verurteilt oft erschüttert erhielt das und kommt ins KinderFilmteam dabei Einblick gefängnis in Kineschma in ein einzigartiges Lean der Wolga. Weil sie ben. sich außerordentlich gut Liesabeth Otto stammt führt, wird sie nach zwei aus Wehlau, einer KleinJahren begnadigt. Aber Ingeborg Jacobs stadt östlich von Königsder 17-jährigen gelingt berg. Ende Januar 1945 es nicht, Fuß zu fassen. ist sie sieben Jahre alt, als sie von dort Allein und mittellos, ohne Arbeit, ohne mit der Mutter und den beiden älteren Wohnung und ohne jede Aussicht auf Geschwistern über Pillau bis nach Dan- eine Existenz, begeht sie aus lauter Verzig flieht, wo die Mutter nach mehreren zweiflung wieder einen Diebstahl – um Vergewaltigungen durch sowjetische zurück ins Lager zu kommen, wo sie ein Soldaten stirbt. Auf sich gestellt ziehen Dach über dem Kopf, Schutz und etwas zu die drei Kinder zu Fuß nach Osten in ihre essen hat. Doch statt im Kinderstraflager Heimat zurück, doch das Elternhaus ist endet der Gefangenentransport in einem von sowjetischen Soldaten besetzt und so Frauenstraflager bei Archangelsk am hausen sie in einem leer stehenden Haus Weißen Meer. Dort wird aus Maritje die vor der Stadt. Wo sich ihr Vater befindet, „eiserne Maria“: Sie ist kräftig, lässt sich wissen sie nicht. Einige Wochen später von niemandem etwas sagen und kann läuft Liesabeth nach einem Streit mit gut arbeiten. Nach vier Jahren Haft unter Bruder und Schwester davon. Der Hunger skrupellosen, gewalttätigen Frauen, die treibt die Kleine aus dem besetzten Ost- mit dem Urteil „mehrfach lebenslänglich“ preußen nach Litauen: bei Bauern findet ohnehin nichts mehr zu verlieren haben, sie Unterschlupf, solange es dort Arbeit wird sie vorzeitig entlassen. gibt, sonst übernachtet sie in Scheunen, 1959 beginnt Liesabeth Ottos Irrfahrt Wäldern oder unter Brücken. Sie wird als durch die Sowjetunion. Von Taganrok Deutsche mit Hunden gejagt, bei Hitler- nahe Rostov am Don geht sie nach Spielen aufgehängt, vergewaltigt und mit Baku, dann wieder zurück nach Litauen, einem Sack über dem Kopf in einen Fluß schließlich nach Sibirien. Immer wieder geworfen. Um nicht weiter aufzufallen, versucht sie – durch eine Ehe mit einem nennt sich Liesabeth bald Maritje, „kleine Russen längst Maria Logwinenko - ihre Maria“ auf Litauisch. Verwandten zu finden. 1975 findet sie endDie stets beabsichtigte Rückkehr zu ihren lich durch Vermittlung des Roten Kreuzes

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ihren Vater und Bruder wieder. Kaum ein halbes Jahr vergeht bis zur Ausreise in den Westen. Mit einem Eimer voller Beeren, einem Koffer und der neunjährigen Tochter an der Hand kommt Liesabeth Otto im September 1975 in Braunschweig an. Die 38-Jährige will ein neues Leben beginnen, erlernt innerhalb kürzester Zeit wieder ihre Muttersprache, lebt zuerst beim Vater, schließlich in einer eigenen kleinen Wohnung. Doch sie fühlt sich nicht willkommen in Westdeutschland. Weihnachten 1976 packt Liesabeth Otto ihre Koffer – und fährt zurück hinter den eisernen Vorhang. Anfang der achtziger Jahre gelingt es Liesabeth Otto unter großen Schwierigkeiten, in ihre alte Heimat, ins Gebiet Kaliningrad, das ehemalige nördliche Ostpreußen, zurückzukehren. 2010 erhält sie endlich ihre deutsche Staatsangehörigkeit zurück. Daraufhin zieht sie wieder nach Deutschland und lebt nun in der Nähe von Hannover. Wenn sie aber das Heimweh packt, besucht sie Tochter und Enkelkinder im Gebiet Kaliningrad. Nur hier fühlt sie sich zu Hause, in ihrem kleinen Holzhäuschen und einem Garten, in dem sie Kartoffeln und Gemüse anbaut. Ingeborg Jacobs Die Autorin- und Filmemacherin Ingeborg Jacobs stellt ihr 2010 erschienenes Buch „Wolfskind. Die unglaubliche Lebensgeschichte des ostpreußischen Mädchens Liesabeth Otto“ vor. Im Rahmen der Abendveranstaltung wird auch der 30minütige Dokumentarfilm „Irgendwo gebettelt, irgendwo geklaut…“ (1995), in dessen Mittelpunkt das bewegende Schicksal des „Wolfskindes“ Liesabeth Otto steht, gezeigt.

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