Johann Gottfried Seume

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II.

1781-1787

»Ein unternehmender Geist überwindet alles« Der Schritt durch das Ranstädter Tor auf die Straße nach Westen war für Seume Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Sein Entschluß, »auf allen Fall meine eigene Kraft zu versuchen. Das konnte in Leipzig und überhaupt im Vaterlande nicht geschehen«, wurde eine langwierige »Ich-Suche«. Mehr als drei Jahrzehnte vor ihm, im Mai 1748, verläßt auch der neunzehnjährige Theologiestudent Gotthold Ephraim Lessing die Stadt heimlich. Der Grund ist eine angedrohte Schuldhaft, weil er für Schauspieler der Neuberschen Truppe gebürgt hat. Er geht über Wittenberg nach Berlin. Nach Seume flüchtet der gleichaltrige Theologiestudent Johann Paul Friedrich Richter – als Schriftsteller nennt er sich Jahre später Jean Paul – im November 1784 heimlich aus der Stadt. Allerdings flüchtet der vor seinen Gläubigern. Seume hat seine Schulden bezahlt. Johann Gottfried Seume will über Paris – »wer sieht nicht gern zuvor Paris?« – nach Metz in die Artillerieschule. In Frankreich konnte auch ein Bürgerlicher Offizier werden. »Ohne eben Neigung zum Soldatenstande zu haben, las und studierte ich doch schon unwillkürlich solche Bücher, wo der Riesenkampf der menschlichen Natur hell und lebhaft geschildert war ...« In seiner letzten Nikolaischulzeit erhält er die Erlaubnis, sich das sächsische Militärlager bei Schönau an der Straße nach Weißenfels anzusehen. 33


Dort trifft er auch Friedrich Wilhelm von Hohenthal, der ihm erlaubt, zwei Nächte zu bleiben: »... Und war in einer ganz neuen Welt, an die bisher meine Phantasie nur wenig gedacht hatte. Ich hatte damals schon mathematischen Sinn genug, mich um den glänzenden blitzenden Donnereinbruch der Reiterei weniger zu bekümmern, obgleich mein Vetter Dragoner war, und meine ganze Aufmerksamkeit auf die Behandlung und Bewegung des Geschützes und den Marsch zu richten ...« Für Kriege hat Seume späterhin allerdings kein Verständnis. Es war wohl eher »eine jugendliche Albernheit«.

Kupferstich, Merian d. Ä. 1655

Er wandert zunächst über die Landstraßen, kommt durch Dürrenberg, Roßbach, Freyburg, und schreibt eine nicht überlieferte »rührende Elegie« über seinen Zustand. Am zweiten Abend ist er bei Erfurt, am dritten, nach 20 Meilen, fast 190 km, in Vacha. Die kleine alte Stadt, erst seit 1816 zum Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach und heute zu Thüringen gehörig, war über Jahrhunderte zeitweise im Besitz verschiedener Länder, Fürsten, Besatzer. Die Bindung an Hessen ist die älteste. 34


Seume kehrt in einer Schenke ein. Hier warten schon Soldatenwerber des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel. Die Anwerbung von Söldnern mußte allerdings ohne Tricks, Zwang oder Gewaltanwendung geschehen, so der Befehl des Landgrafen. Im Fall Seume werden sie das auch nicht gebraucht haben: Entweder noch beinahe 44 Meilen (400 km) wandern ins französische Metz mit unsicherem Ausgang, oder das Angebot für eine besoldete Abenteuerreise ins ferne Amerika annehmen. Ein paar Tage später ist er Soldat in hessischen Diensten, um im Auftrag Englands die amerikanische Unabhängigkeit militärisch verhindern zu helfen ...

Illustration zu Seumes Anwerbung, aus dem 19. Jahrhundert

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Der Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel (*1720-†1785) hatte durch seine Heirat mit Maria, Tochter des englischen Königs Georg II. (*1683-†1760), Verbindungen zum Inselkönigreich. Allerdings trennte sich seine Ehefrau schon 1749 von ihm, nachdem er zum Katholizismus konvertiert war. Seine aufwendige Lebensführung und die schwierige Lage des Ländchens nach dem Siebenjährigen Krieg – er stand auf der Seite Preußens – ließen ihn mit England Verträge abschließen über die »Vermietung« von Soldaten zum Einsatz im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) zwischen den englischen Kolonien und der britischen Kolonialmacht. Das brachte hunderttausende Taler ein. Der Landgraf war nicht der erste und nicht der einzige Soldatenhändler. Der Bischof von Münster hatte das schon 1665 betrieben, 1685 Herzog Johann Georg III. von Sachsen und viele andere. Im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg kamen ca. 30.000 deutsche Söldner zum Einsatz: aus HessenKassel, Braunschweig, Anhalt-Zerbst, Nassau, Ansbach-Bayreuth und anderen Fürstentümer. Ein einträgliches Geschäft, das gerade im Aufklärungsjahrhundert heftige Proteste nach sich zog und z.B. in Schillers »Kabale und Liebe« gebrandmarkt wurde. – Man bringt den Friedrich II. von Hessen-Kassel frischen Rekruten zur Festung Ziegenhain J. H. Tischbein d.Ä., 1773 in Schwalmstedt nach Nordhessen, die schon 1537 bis 1546 aus einer mittelalterlichen Burg enstanden war. Seit 1776 ist die Festung Sammelplatz für die Söldner, das »Rekrutendepot« für den Landgrafen Friedrich II. 36


Grundriß der Festung Ziegenhain, für den Landgrafen das »Rekrutendepot«. (Matthäus Merian, 1655)

Am 4. Juli 1781 ist er mit etwa 400 weiteren Rekruten Angehöriger des hessischen Militärs. Sie werden befragt und vermessen (in preußischen Zoll). Seume war 1,63 m groß – und als »George Seime« eingetragen. Er hat auch nicht mögliche Beschwerde eingelegt gegen die Art der Anwerbung. Seine späteren Aufzeichnungen, in denen er den Vorgang in der Vachaer Schenke wesentlich drastischer bewertet, hatten andere Gründe: In Sachsen durften die Untertanen bei angedrohten Strafen nicht ohne ausdrückliche Zustimmung des Landesherrn in »fremde Kriegsdienste« eintreten. Seume mußte den Eintritt ins hessische Militär, zumal gegen die aufständischen Kolonien in Amerika, zu seinen Gunsten darstellen. Zu seinen Kameraden gehörten »ein verlaufener Musensohn aus Jena, ein banquerotter Kaufmann aus Wien, ein Posamentierer aus Hannover, ein abgesetzter Postschreiber aus Gotha, ein Mönch aus Würzburg, ein Oberamtmann aus Meiningen, ein preußischer Husarenwachtmeister« und andere ... 37


»Da es den meisten gegangen war wie mir, oder noch schlimmer, entspann sich bald ein großes Komplott zu unser aller Befreiung ...» Seume will man das Kommando übertragen, er lehnt ab und nimmt auch nicht an den Vorbereitungen teil. »Außer dem glänzenden Antrage kitzelte mich vorzüglich, dem Ehrenmanne von Landgrafen für seine Seelenschacherei einen Streich zu spielen, an den er denken würde, weil er verteufelt viel kostete ...« Der Fluchtplan wird verraten durch einen Schneider aus Göttingen, der eine Unteroffiziersstel-

Hessische Grenadiere, 1776

le bekommt und »eine Hand voll Dukaten«. Zahlreiche Rekruten erhalten harte Strafen, müssen aber letztlich doch mit auf die Reise gehn. Bis heute dementieren hessische Wissenschaftler und Heimatforscher den Vorgang, er ist aber in den hessischen Unterlagen aktenkundig. Die Soldatenschacherei ihres Landgrafen und die Umstände sind ihnen verständlicherweise bis heute peinlich. – Im folgenden Frühjahr geht es »endlich von Ziegenhayn nach Kassel, wo uns der alte Betelkauer in höchst eigenen Augenschein nahm, keine Sylbe sagte«. Betel ist ein südostasiatisches Genußmittel aus dem Samen der Betelnuß. Mit gelöschtem Kalk vermengt und in Blätter des Pfefferstrauchs gewickelt, wird es gekaut. Der Atem wird besser, die Zähne aber schwarz. Der Landgraf wird nicht besonders schön ausgesehn haben, wenn er den Mund aufmachte. 38


Von Kassel aus geht der Marsch nach Hannöversch-Minden und schließlich auf flachen Kähnen die Weser hinunter. In Bremerlehe warten schon die englischen Transportschiffe. Das Gebiet mit Schiffsanlegeplatz an der Geeste liegt nordöstlich von Bremerhaven. Von hier aus werden seit 1776 die hessischen Söldner für die Engländer in den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verschickt. Am 10. Juni 1782 fahren die Schiffe los, am 13. August kommen sie bei der Halbinsel Halifax an. Gut neun Wochen Überfahrt werden es, nicht zweiundzwanzig, wie Seume schreibt. Allerdings haben die Segelschiffe mit heftigen Stürmen zu kämpfen, mancher geht über Bord, und die Soldaten sind unter Deck in engen Verschlägen untergebracht, »gedrückt, geschichtet und gepökelt«.

Englisches Transportschiff

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Die Halbinsel Nova Scotia (Neuschottland) im Südosten Kanadas am Atlantik (1902)

Seume freundet sich mit dem englischen Kapitän an, der ihm seine Reisebibliothek zum Lesen anbietet, als er ihn auf dem Deck im Horaz lesen sieht. Auch erhält er gelegentlich von ihm Zwieback und Rindfleisch. Die Lebensmittel auf den Schiffen sind z.T. schon verdorben, das Trinkwasser faulig. Unterwegs stirbt der Mönch aus Würzburg »aus reiner absoluter Faulheit, nur im Kloster kann eine solche Gedankenmißgeburt entstehen«. Siebenundzwanzig andere sterben auch und werden über Bord geworfen. Seume arbeitet oft mit den Matrosen, oder er liegt »mit dem Vergil oben im Mastkorbe«. Bald laufen sie in der geschützten Bucht von Halifax ein. Die Halbinsel Nova Scotia ist ab 1749 von den Engländern vereinnahmt worden, um einen Vorposten für das Militär zu errichten. Die befestigte Siedlung wurde nach Lord Halifax benannt. Im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg der englischen Kolonien (1775 - 3.9.1783) ist der Ort Halifax Ausgangspunkt für militärische Operationen der Engländer. 40


»Diese Insel und das Fort St. George am Eingange ist eben stark genug, mit gehöriger Besatzung jeder beträchtlichen Flotte die Annäherung zu verwehren«, schreibt Seume in »Mein Leben«. Dieser abgebrochene Lebensbericht bis zu seiner Söldnerzeit, der mit »Und nun ...« endet, erscheint erst 1813, drei Jahre nach Seumes Tod. Schon 1789 aber veröffentlicht er ein »Schreiben aus America nach Deutschland« in J. W. Archenholtz’ Zeitschrift »Neue Litteratur und Völkerkunde« – die »Ouvertüre meines Schriftstellerlebens« (Auszug):

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Seume lernt im Lager Halifax den hessischen Offizier Karl Ludwig August Heino Freiherr von Münchhausen kennen, u.a. weil sie beide Gedichte schreiben. »Seitdem waren wir fast überall zusammen, wenn uns der Dienst nicht trennte. Ein Mann von gesundem, gediegenem, ungelehrtem Verstande, welches ihm und mir sehr zustatten kam. Ich habe selten eine Seele für wahre Schönheit empfänglicher und enthusiastischer gefunden als die seinige. Die einzige Bedenklichkeit

Münchhausen, (*17. Februar 1759 in Hessisch Oldendorf, †16. Dez. 1836 Lauenau)

in unserer Freundschaft war, daß Münchhausen ein Edelmann war, der den Kopf voll alten Ritterwesens hatte, welches ich auf alle Fälle für halbe Barbarei hielt und noch halte ...« Seume wurde »Schreibersknecht« beim Oberst Hatzfeld und mußte »eine lange Zeit viel Regimentslisten« erstellen. – Nova Scotia und große Teile des angrenzenden Festlands sind Indianergebiet. Hier leben Huronen, ein Stamm der Irokesen, vor allem von der Jagd und dem Fischfang. Mit den Engländern und hessischen Soldaten unterhalten sie Handelskontakte. Seume interessiert sich sehr für »die Wilden«. »Unsere Wilden waren durchaus nur freundschaftliche Leute. Wenn man die armen Urbewohner nur nicht echt europäisch-christlich von allen Seiten so zurückzwänge, daß ihnen in kurzem nichts als der Hals von Kalifornien oder die unbekannten Eisländer übrigbleiben werden ...«. 42


Um 1793, wieder in Leipzig, schreibt er ein 111-zeiliges »Gedicht« gegen den Hochmut der Europäer mit ihrer scheinbar so »hohen Kultur«, das in der »Neuen Thalia« erscheint. Anspielungen auf bzw. Zitate aus dem Text finden sich noch in viel späteren Texten u.a. von Fontane bis Karl Kraus. Der Wilde (Auszüge) Ein Amerikaner, der Europens Übertünchte Höflichkeit nicht kannte, Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben, Von Kultur noch frei im Busen trug, Brachte einst, was seines Bogens Sehne Fern in Qvebeks übereisten Wäldern Auf der Jagd erbeutet, zum Verkaufe. Als er ohne schlaue Rednerkünste Um ein kleines hingegeben hatte, Eilt er froh mit dem geringen Lohne In die Arme seiner braunen Gattin. Aber ferne noch von seiner Hütte Überfiel ihn unter freiem Himmel Schnell der schrecklichste der Regenstürme. Schaurig zitternd unter kaltem Regen Eilt der gute brave wackre Wilde In ein Haus, das er von fern erblickte. Herr, ach laßt mich, bis der Sturm sich leget, Bat er mit der herzlichsten Geberde Den zivilisierten Eigentümer, Hier in euerm Hause Obdach finden. Willst du, mißgestaltes Ungeheuer, Schrie ergrimmt der Pflanzer ihm entgegen, Willst du Diebsgesicht mir aus dem Hause; Traurig schritt der ehrliche Hurone 43


Fort von seiner unwirtbaren Schwelle, Bis durch Sturm und Guß der späte Abend Ihn in seine friedliche Behausung Und zu seiner braunen Gattin brachte. Kurze Zeit darauf war unser Pflanzer Auf der Jagd im Walde irr' gegangen. Noch ein kleines schwaches Licht erblickte. Er ermannte sich, und nahte leise. Wer ist draußen? brach mit Schreckentone Eine Stimme aus der tiefen Höhle, Und ein Mann trat aus der kleinen Wohnung. Freund, im Walde hab ich mich verirret; Sprach der feine Europäer schmeichelnd, Gönnet mir die Nacht hier zuzubringen, Kommt herein, versetzt der Unbekannte, Und er führt ihn auf das moosge Lager, Holt den Rest von seinem Abendmahle, Und der Wilde gab ihm eine Schale, Angefüllt mit süßem Morgentranke. Als er lächelnd seinen Gast gelabet, Bracht er ihn durch manche lange Windung Durch den Dickicht auf die rechte Straße. Höflich dankte fein der Europäer; Finsterblickend blieb der Wilde stehen, Sprach: Herr, habt ihr mich noch nicht gesehen? Wie vom Blitz getroffen stand der Jäger, Ruhig ernsthaft sagte der Hurone: Seht, ihr fremden, klugen, weisen, Leute, Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen; Und er schlug sich seitwärts ins Gebüsche.

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Seume und sein Freund Serre, »ein junger, mutvoller, leichtsinniger Kerl«, planen inzwischen zu fliehen, um sich den Republikanern anzuschließen. »Die Gelegenheit wollte nicht kommen; Serre suchte sie also herbeizuführen, und er hatte eben den Entwurf gemacht, durch die großen Waldungen über die Buchten von Halifax nach Boston zu gehen; freilich eine Unternehmung auf Tod und Leben. Er hatte sich schon über die englischen Posten unterrichtet, für Munition und notwendige Bedürfnisse gesorgt, und die Ausführung war beschlossen, als eben der Friedensbote kam ...« Die Botschaft war: Es wird ein Friedensvertrag vereinbart zwischen den beteiligten Kriegsparteien. Am 3. September 1782 ist der »Frieden von Paris« unterzeichnet. Da ist Seume samt seiner hessischen Truppe schon mit englischen Schiffen auf dem Rückweg nach Bremen. Angekommen, planen sein Freund Serre und ein weiterer, um nicht an die Preußen verkauft zu werden, sich »den Fesseln der schändlichen Dienstbarkeit zu entziehen«. Seume verschläft den heimlichen Aufbruch, weil er angetrunkenist, und flieht allein. Vor den verfolgenden bewaffneten Soldaten steigt er in ein Boot. Der Fischer, der die Situation erkennt, bedeutet ihm, sich flachzulegen. An einer entfernten Landzunge springt er aus dem Kahn – und wird bald von den Preußen aufgegriffen und in die Garnison Emden gebracht: Seume hat noch die hessische Uniform an ... In einem Brief vom 17. Oktober 1786 an Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt: »Als wir zurückkamen, schämte ich mich, die Rolle eines bußfertigen Sünders zu spielen und nach Hause zu kehren ...« Und in seinem ersten Brief aus Leipzig an Karl von Münchhausen vom Juli 1792 schreibt er: »Ich ging von den Heßen in Bremen, weil ich nicht Lust hatte in diesem Verhältnis zu bleiben und zu Hause ebenso wenig Aussicht hatte. Meine Absicht war, nach England zurück zu gehen und mich nach Ostindien zu engagiren, aber die Preußen, die ich nicht genug gemieden hatte, zwangen mich an einem Zipfel von Ostfrießland wieder in den Dienst«. 45


Emden im späten 16. Jahrhundert

Die Garnison Emden wurde eingerichtet, bald nachdem Preußen 1744 Ostfriesland erworben hatte. Die Stadt an der Ems hat durch ihren Seehafen und den Handel seit Jahrhunderten überregionale Bedeutung. Während der Napoleonischen Kriege gehört sie zum Königreich Holland, dann zum Kaiserreich Frankreich. Nach dem Wiener Kongreß 1815 übergibt Preußen Stadt und Land an das Königreich Hannover. Ostfriesland ist auch die Gegend, in der Menno Simons die von Luther gehaßten und verfolgten »Täufer« sammelte, die der Folter oder Hinrichtung entgangen waren: Die »Mennoniten« wollen ihre Kinder erst im bewußten Alter taufen, fordern Trennung von Staat und Kirche, und Gewissensfreiheit. Das geht natürlich zu weit in Luthers Verständnis. Es stellt seinen Machtanspruch infrage. Später wandern die Täufer aus, in die USA, nach Rußland, Südamerika, kommen erst im 20. Jh. zurück. Der Ursprung der Freikirchen. »Ketzer« Seume war am richtigen Ort. 46


Zunächst saß er aber in der Emdener Garnisonskrankenstube als »ein verdorbener Student namens Normann ...«. Er hatte sich in den problematischen Söldnerunterkünften und Schiffen Krätze eingefangen, diverse Ausschläge usw. Im »Schreiben aus America« spricht Seume von einer » ... ekelhaften Art von Skorbut oder Fäulnis, oder Krätze ...«. Seume hat seit seiner Söldner-Zeit noch eine andere Verletzung, die er in seinen autobiographischen Schriften nicht erwähnt: »Bekanntlich hat er in seinen amerikanischen Feldzügen eine Schuss Wunde in den rechten Fuß erhalten, deren gute Heilung ihm wahrscheinlich keine Nachwehen empfinden lassen würde, wenn er nicht unglücklicher Weise während seiner nord-europäischen Campagen denselben Fuß ein oder wohl gar einige Mal noch erfroren hätte. Dies hat dem Fuß überhaupt eine gewisse Schwäche verursacht, dass er, oft mehrere Tage, nicht ausgehen kann« Veröffentlicht hat das Christoph August Tiedge 1809 mit Vorwort (s.o.) zu Seumes Gedicht »Kampf gegen Morbona«, ohne Seumes Kenntnis allerdings. Tiedge, 1752 in Gardelegen geboren, 1841 in Dresden gestorben, hatte in Halle Jura studiert, wo er auch seine ersten Gedichte veröffentlichte. Er war mit Seume befreundet und ›Lebensabschnittsgefährte‹ von Elisa von der Recke, im Herzogtum Kurland geborene Gräfin von Medem, wo sie mit Cagliostro bekannt wird. 47


Aus: J. G. Seume’s sämmtliche Werke. Leipzig, Johann Friedrich Hartknoch. 1853 (gekürzt)

In »Mein Sommer 1805« weist er erstmals selbst auf das Leiden hin: »Du mußt wissen, ich habe seit mehr als zehen Jahren eine Kontusion am linken Fuße, wodurch die Bänder eine Art von Schwäche bekommen haben, die mir jeden Fehltritt empfindlich macht. Die beste Stärkung ist nun Gehen; und ich pflege zuweilen wörtlich wahr zu sagen, ich muß nur einige hundert Meilen zu Fuß gehen, weil ich lahm bin«. 48


Das gibt seinem Ruf als »Wanderer« einen durchaus anderen Sinn ... In der Krankenstube besucht ihn Jacques Tapernon (um 1746-1824), der schon mit in Amerika war und nun in preußischem Dienst steht. Ein Bericht von ihm zu »Seume in Emden« ist 1823 veröffentlicht worden. Dirk Sangmeister, Germanist, Mitglied des Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt und auch Seumeforscher, hat ihn wiederentdeckt und in »Seume und einige seiner Zeitgenossen« 2011 abgedruckt. Die Erzählungen Tapernons, aufgezeichnet von Hermann Röpe, korrigieren einige falsche Darstellungen, u.a. von Göschen, die bis heute verbreitet werden. Seume ist in Emden vom Wachdienst befreit, unterrichtet neben anderen die älteste Tochter Charlotte (1767-1813) des Generals Courbière, die er 1804 in Eilenburg besuchen wird. Da er »keine Aussicht zur Befreiung ... aus den schmählichen Ketten des Soldatenstandes« hat, desertiert er wieder, läuft gut zwei Meilen bis zum Dorf Loga und kehrt in einer Schenke ein. Ein Bauer informiert den Amtmann über den Deserteur, der wieder nach Emden gebracht wird. Das Urteil: »Zwei Tage Spießruthen laufen«. Seumes Schüler bitten den General Courbière um Gnade. Der mildert das Urteil in acht Tage Gefangenschaft bei Wasser und Brot und setzt hinzu: »Doch wird es Arrestant nicht übel nehmen, wenn ihm dann und wann Fleisch gereicht wird ...«. Tapernon spricht bei den Garnisonsoffizieren vor, um Seume freikaufen zu können. Tapernon und ein weiterer Freund bürgen mit 35 Reichstalern, heute etwa 700 Euro. Im Gefolge des Generals Courbière reist Seume schließlich bis Magdeburg und von da nach Leipzig. An Jacques Tapernon schreibt er aus Leipzig am 27. August 1788: »... Ehemals Normann; zur Zeit Seume, aber immer derselbe ... Mein Logis ist jetzt im Schuhmachergäßchen in Heerdegens Hauße. Nicht ein recht martialischer Name?« 49


Leipzig von SĂźdwesten (Ausschnitt), Holzstich 1874

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