Hunde bitte an die Leine zu führen

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Inhaltsverzeichnis

Mein Hannover    06 Der 1. Tag Am Maschsee     10 Der 2. Tag In der Altstadt     42 Der 3. Tag Theater, Museum und Volkshochschule    70 Der 4. Tag Vom Café Kröpcke über den Aegi zum Gartenfriedhof    90 Der 5. Tag Die Oststadt oder auch Die List!    120 Der 6. Tag Vom Steintor nach Herrenhausen    146 Der 7. Tag In Linden!    184 196 Literaturverzeichnis    Danksagung    199


Gerhard Weber

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Mein Hannover

Liebe Leserin, lieber Leser, »Kulturspaziergänge – ausgerechnet in Hannover ?« Die Verblüffung stand meinen Freunden und Bekannten ins Gesicht geschrieben, als ich ihnen von dem Buchprojekt erzählte. Auf die Frage, was ihnen denn zu meiner Geburtsstadt einfiele, hörte ich Antworten wie - »Da hast Du mich auf dem falschen Fuß erwischt!« - »Der Maschsee, Hannover 96 und die Scorpions« - »Willst Du das wirklich wissen?« - »Einsilbig, langweilig« - »Gutes Hochdeutsch, schlechtes Wetter« Ich bin hier geboren und aufgewachsen, und wenn Sie mich früher Ähnliches gefragt hätten, meine Antworten wären wohl auch so ausgefallen. In der Tat ließ auch mich ihr einst abweisender, oft schroff empfundener Charakter, zunächst einmal als frisch gebackener Abiturient, die Stadt fluchtartig verlassen. Aber jetzt, nach der endgültigen Rückkehr in meine Heimatstadt, ist mir erneut deutlich geworden, dass sie so viel mehr zu bieten und sich auch in vielem gewandelt hat. Entdecken Sie mit mir in sieben Spaziergängen die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover, wie ich sie mir für Sie, nach 19 Jahren des Heranwachsens in den 60er und 70er Jahren sowie in meinen 6 Intendantenjahren an der Landesbühne Hannover zur Jahrtausendwende, nochmals neu erkunden durfte! 7


Während dieses Streifzugs durch Literatur, Geschichte und Architekturepochen, der auch die dunklen Seiten und Persönlichkeiten dieser Stadt nicht aussparen wird, mag sich Ihr ursprüngliches Hannover-Bild von einem grauen, anonymen Verkehrsknotenpunkt zwischen Frankfurt, Hamburg und Berlin ändern. Sie werden nach der Lektüre dieses Buches über die unerwartete Vielzahl von Künstler- und Dichterpersönlichkeiten staunen, die über die Jahrhunderte in Hannover geboren wurden und ihr Leben hier verbrachten. Für manche aber war diese Stadt ein Sprungbrett in andere deutsche Metropolen, und somit nur eine Station unter mehreren! Da Hannover durch den 2. Weltkrieg einer beinahe kompletten Zerstörung ausgesetzt war, wird der Großteil der von uns besuchten, ehemaligen Wohn- und Wirkungsstätten der Autoren nicht mehr in der historischen Bauweise vor Ihnen stehen. Umso wichtiger war es mir, durch die Anführung der zahlreichen, den einzelnen Persönlichkeiten zugeordneten Zitate, die Sie auch gut noch als eine Art abendliche Nachlese zu Rate ziehen können, auf diesem Wege eine Authentizität aufscheinen zu lassen. Aber keine Sorge, die Lektüre wird Ihnen nicht zu einer »trockenen Angelegenheit«, denn immer wieder kann ich Ihnen kulinarische Tipps für größere und kleinere Pausen geben. Nun denn: Lassen Sie sich verführen von einer unterschätzten Stadt, entdecken Sie eine faszinierende Geschichte, treffen Sie auf ein kulinarisch interessantes und feierfreudiges Hannover! Ich verspreche Ihnen, dass Sie am Ende sagen werden »Hannover – wer hätte das gedacht! Spaziergänge durch Hannovers Kultur und Geschichte? Unbedingt!« 8



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Der 1. Tag

Am Maschsee

Hannover ist nicht nur die Stadt im Grünen, sondern auch die Stadt am Wasser. Neben den beiden Flüssen Leine und Ihme sowie dem Mittellandkanal, eine der wichtigsten europäischen Binnenwasserstraßen, liegt citynah der mit seiner 78 Hektar Fläche beeindruckende Maschsee. Er wurde 1936 als »Arbeitsbeschaffungsmaßnahme« unter der Leitung des damaligen Stadtbaurates Karl Elkart feierlich eingeweiht. Egal bei welchem Wetter, er ist immer einen Spaziergang wert und lädt Radfahrer, Läufer, Paddler ein, seine Schönheit zu erschließen.

Maschpark um 1900 (Foto: Karl F. Wunder, Scan: Bernd Schwabe, Hannover)

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Der 1. Tag

Mein Maschsee: Der See war für mich der Ort meiner Kindheit, wo ich das Schwimmen, Rudern und, mit meiner ersten Freundin, das Küssen »erlernte«! Wir beginnen unseren Rundgang da, wo die Geibelstraße auf das Rudolf-v.-Bennigsen-Ufer stößt. Sie entdecken am Ostufer eine Vielzahl von Plastiken verschiedener Künstler, z. B. das Löwenpaar von Arno Breker, deren Herkunft mit der Entstehungsgeschichte des Maschsees auf einer Schautafel gegenüber erläutert wird. Rudolf von Bennigsen, 1824 in Lüneburg geboren, dann ab 1856 mit einer steilen Karriere Staatsanwalt in Hannover, seit 1867 Mitglied des preußischen Landtags und ab 1873 dessen Präsident, war ein weit über Hannover hinaus be- und anerkannter nationalliberaler Politiker, und als Vorsitzender der nationalliberalen Partei deren langjähriger Oppositionsvorsitzender im preußischen Landtag.

Rudolf von Bennigsen (* 1824 – † 1902) Holzstich um 1871

Friedrich Spielhagen, von 1860 bis 1862 als aufgeklärter Redakteur bei der Hannoverschen Zeitung tätig, schildert in seinen Erinnerungen eine Diskussion zu aktuellen 13

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Friedrich Spielhagen (* 1829 Magdeburg – † 1911 Berlin), Schriftsteller, (Illustrierte Zeitung, 1911)

Themen mit von Bennigsen auf der gemeinsamen Rückfahrt von der Einweihungsfeier des neuen Weserhafens in Geestemünde: »… waren wir in unserem Zwiegespräch auf ein bedeutenderes Thema geraten: die Einmischung der religiösen Fragen in die politischen. Herr von Bennigsen war der Meinung, dass beide streng auseinandergehalten werden müssten, wenn die Reinheit der Resultate nach beiden Seiten nicht den empfindlichsten Schaden leiden solle. Ich konnte ihm das im Prinzip zugeben, behauptete aber, dass wir es dabei mit einem frommen Wunsche zu tun hätten …« (Spielhagen, 1911). Da die Hannoveraner nicht eben glücklich über die verflossene Personalunion mit England und die verlorene Unabhängigkeit ihres Welfenreiches waren, legten sie nach der preußischen Annektion des Königsreichs Hannover und seines ungeheuren wirtschaftlichen Aufstiegs ab 1866 zunehmend gesteigerten Wert auf ihre sozialdemokratische und bürgerlich-liberale Tradition. Denn sie beherbergten nicht nur politische Leuchtfiguren wie von Bennigsen, son14


Der 1. Tag

dern zeitweise auch politische Finstermänner. So den in Hannover aufgewachsenen, einflussreichen Zeitungsmagnaten und Hitlerfreund Hugenberg und den als »Bluthund« beschimpften sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav Noske, der 1919 in Berlin den Spartakusaufstand niederkartätschen ließ und unmittelbar danach bis 1933 Oberpräsident in Hannover wurde. Wenn Sie soeben ein wenig neugierig auf die abwechslungsreiche Geschichte Hannovers geworden sein sollten, dann nehmen Sie sich zwei Minuten Zeit, sich auf eine der zahlreichen Bänke am Maschsee zu setzen: Achtung, Geschichtsexkurs! 1301 beginnt die Stadt erstmalig ihre Bürger unter der Regentschaft der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg zu registrieren. 1636, 12 Jahre vor Beendigung des 30 jährigen Krieges, der die Stadt in ihren Mauern unversehrt lässt, erklärt Herzog Georg von Calenberg Hannover zu seiner Residenz. Bis 1714, der Beginn der Personalunion Hannovers mit dem britischen Königshaus, erlebt Hannover als wachsende, barocke Residenz durch Kürfürstin Sophie und Gottfried Wilhelm Leibniz eine Blütezeit sondergleichen. Bis 1763, dem Ende des Siebenjährigen Krieges, ist Hannover eine Stadt ohne Herrscher. Es sind die stillsten und glanzlosesten Jahre der Stadtgeschichte. Bis 1851, dem Tode Herzog Ernst Augusts, mausert sich Hannover mit Niederlegung der Stadtmauern 1780, über die Französische Revolution, die zehnjährige napoleonischen Besatzung und die Erhebungen des Vormärz sowie die beginnende Industrialisierung hinaus, kontinuierlich zu einer lebendigen, norddeutschen Metropole für literarisch-künstlerische Größen der Zeit. 15


Trotz der preußischen Annektierung 1866 lässt der bereits 1848 herbeigeführte Regierungswechsel durch die bürgerliche Regierung Bennigsen-Stüve das Bewusstsein der Bürger bis weit über die Jahrhundertwende hinaus erstarken und gibt der Erweiterung des letztendlich bis heute die Innenstadt prägenden Bildes unter Leitung des Baumeister Laves weiteren Auftrieb. Doch nun wieder zurück zum Maschsee! Das »große Vergnügen« für Menschen aller Generationen aus Hannover und seiner Region bietet alljährlich im hannoverschen August, auch bei miesestem Wetter, das mittlerweile seit 15 Jahren veranstaltete Maschseefest. Es ist ein Magnet für Tausende von Besuchern, die Lust haben, in den drei Wochen an einem der unzähligen Stände mit Freunden etwas zu trinken oder sich von den an vier Bühnen wechselnden Livebands beeindrucken zu lassen. Im Winter war der See, auf dem ich im Frühjahr oder Herbst im Vierer des Schülerruderclubs Sport trieb, für mich willkommene Abwechslung zum Schulalltag in meiner nahen, heimatlichen Südstadt, indem ich mir selbst das Schlittschuhlaufen beibrachte. Passt das Wetter, dann ziehen im gemächlichen Tempo zwischen den Scharen von Schwänen die beiden mit Elektromotoren betriebenen, von uns Hannoveranern »Maschseedampfer« genannten Fahrgastschiffe ihre gemütlichen Runden. Ein spezielles drittes kurvt, ganz modern, als Solarmobil über den See. Vom Süduferanleger sind es wenige Schritte zu einem der ersten Restaurants Hannovers – »Die Insel« – mit der Möglichkeit, dort die zauberhaften Gerichte des gebürtigen Moselaners Norbert Schu zu genießen. – Der ausschließlich als Heidedichter verkannte Hermann Löns arbeitete von 1893 an als scharf beobachtender Journalist für 14 Jahre in Hannover. 1909 konnten ihn, wie 16


Der 1. Tag

so viele Hannoveraner, die ersten Sonnenstrahlen des aufkommenden Frühlings bei einem Spaziergang im noch damaligen Überflutungsgebiet wieder heiter und optimistisch stimmen (Löns, 1924): »Im November war es, da ging ich das letztemal über die Masch (…) Und dann kam die große Flut; die Mäuse ertranken, die Krähen verschwanden. Der Frost kam und brachte Eis und Schlittschuhläufer. Dann taute das Eis fort, die Frühlingsstürme verschlugen silberne Möwen zur Masch., die Flut lief ab, und das grüne Gras tauchte wieder auf. ›Oh Sonne! Hei, fein!‹ Ein dreijähriger, nacktbeiniger, blondlockiger Knirps war es, der das sagte (…). Als ich das hörte, fiel mir die Masch ein. Die Sonne und die Masch, das sind für mich engverbundene Begriffe.«

Hermann Löns (* 1866– † 1914), Der »Heidedichter«, (Wikipedia, Bild aus der öffentlich aufgestellten Infotafel am Lönsdenkmal in Müden, 11. Febr. 2009, Hajotthu)

Stadteinwärts auf der rechten Seite passiert man den 1963 eingeweihten Großen Sendesaal, in welchem regelmäßige Konzerte der NDR-Radiophilarmonie stattfinden, und das 1951 neuerrichtete Funkhaus Hannover, dessen Bau mittlerweile unter Denkmalsschutz steht. Mit ihm verknüpft sich meine Erinnerung an mehrere Lesungen im Kleinen Sendesaal, kuratiert von dem von 1965 bis 1972 17

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an der Uni Hannover, damals noch TU, lehrenden Literaturprofessor Hans Mayer. Hier machte ich als Schüler erste Bekanntschaften mit den Werken der noch jungen bundesrepublikanischen Literatur von u. a. so renommierten Dichtern wie Lenz, Johnson, Bernhard, Celan, Handke und Canetti. Durchaus selbstkritisch reflektiert Hans Mayer, ehemals Student von Ernst Bloch an der Leipziger Universität, in seiner Biografie »Ein Deutscher auf Widerruf« seine Jahre in Hannover – und vor allem die Stadt selbst: »… War es ein Fehler, nach Hannover zu gehen und dort abermals, wie vor siebzehn Jahren in Leipzig, ein Forschungs- und Lehrinstitut der deutschen Literatur nach meinem Konzept zu entwickeln? Das weiß ich nach wie vor nicht. Manchmal freue ich mich beim Rückblick über die an der Leine und der Aller getane Arbeit, häufiger noch spüre ich den bitteren Nachgeschmack einer Niederlage. Für beide Emotionen gibt es Fakten und Gründe. Da ich unerfahren wirkte im niedersächsischen Gelände, suchte ich Kronzeugen: Karl Krolow, den ich befragte, spendete kaum Trost. Auch erzählte er mir, wie er es schon aufgeschrieben hatte, von Jugenderinnerungen an Lodenkleidung, schlechtes Wetter und Halsentzündung. Sonst nichts? Blieben zwei Berichte über Jugendjahre in Hannover. Entmutigt vor allem, weil die Verfasser durchaus nicht zur selben Generation gehört hatten … Theodor Lessing kam 1872 in Hannover zur Welt, Karl Jakob Hirsch, der expressionistische Maler, Bühnenbildner und Schriftsteller, genau zwanzig Jahre später. Theodor Lessing schrieb sein Erinnerungsbuch ›Einmal und nie wieder‹, als man ihn aus der Technischen Hochschule Hannover vertrieben hatte: als Störenfried und als Beleidiger des früheren Mit18


Der 1. Tag

Löwenpaar von Arno Breker am Maschsee (Foto: G. Weber)

bürgers Paul von Hindenburg, des nunmehrigen Reichspräsidenten« (Mayer, 1988).

* In die Südstadt Einen ausführlichen Abstecher verdient aus vielerlei Gründen, bevor wir das Sprengel-Museum an der Ostecke des Nordufers aufsuchen, ein Besuch der architektonisch interessanten Südstadt und damit der Wohnorte ihrer vielen Dichterpersönlichkeiten, wie auch die Besichtigung der einzigartigen Sammlung im Hannah-Arendt-Raum der Stadtbibliothek in der Hildesheimer Straße. Zunächst verlassen wir aber das Ufer über die leicht ansteigende Straße Auf dem Emmerberge in Richtung der Planckstraße, wo wir einen neoklassizistischen Bau aus dem 19


Aufgang zum Sprengel-Museum (Foto: G. Weber)

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Jahre 1935 passieren, der in seiner Bescheidenheit auf den ersten Blick nicht verrät, dass hier die Staatskanzlei des Landes Niedersachsen ihr Zuhause hat. Seit 1968 ist sie die politische Schaltzentrale, mit der Hannover seit der Amtszeit des damaligen MP Gerhard Schröder erstmals BundesPublizität erlangte. Hier rekrutierte Schröder einen großen Teil seines späteren Stabes für das Bundeskanzleramt, z. B. Frank-Walther Steinmeier oder Uwe Karsten Heye, wodurch dann der Einfluss der NRW-SPD zurückgedrängt wurde. Die als eher grau und unspektakulär eingeschätzte Landeshauptstadt der Niedersachsen war nunmehr die Stadt von »Lessing, Leibniz, Lena« (Bild-Zeitung) und bekam erstmals in ihrer Nachkriegsgeschichte nicht nur durch die EXPO 2000 oder die Alkoholfahrt der Ex-Bischöfin M. Käßmann »Großstadt-Flair«. Die FAZ merkte auf: »Der Bär steppt an der Leine« und Hannover sei plötzlich der Hotspot Deutschlands!«

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Haus der Jugend (Foto: G. Weber)

Auf dem kurzen Weg vom Maschsee zur Hildesheimer Strasse lohnt sich die Betrachtung des »Hauses der Jugend« in der zum Seeufer fast parallel auf den Aegidientorplatz zulaufenden Maschstraße, mittlerweile etwas im Schatten des riesigen Nord LB Gebäudes gelegen. Es war, auch noch heute in dieser Funktion, der deutschlandweit erste Kulturbau der Nachkriegszeit, auch Bunkerjugend genannt. Der Bau wurde überwiegend mit Spenden aus dem McClay-Fond ermöglicht, was Bundespräsident Heuss bei der Grundsteinlegung 1949 einen besonders großen Dank wert war. Zudem diente dieses Haus auch der Landesbühne Hannover unter dem umtriebigen, legendären Intendanten Reinhold Rüdiger als erste, provisorische Spielstätte. Von 1998 bis 2004 wurde ich dann im später gegründeten, endlich eigenen Theater in der Bultstraße Reinhold Rüdigers Nachfolger. Im Besonderen war aber das Haus der Jugend in den frühen 60er Jahren für mich der Ort erster Begegnungen mit dem politisch-kulturellen Aufbruch dieser Zeit. Nie 21

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werde ich den ungeheuer beeindruckenden Vortrag des charismatischen Pastors Martin Niemöller gegen die Wiederaufrüstung vergessen, ebenso nicht die wilden, noch etwas ungelenken Auftritte der ersten damals sogenannten hannoverschen Beatbands im Europasaal des Hauses der Jugend. Quasi in Sichtlinie – 200 Meter weiter – sehen wir bereits den mächtigen, zehngeschossigen Turmbau der Stadtbibliothek, 1931 durch den Architekten Hans Bettex in der damals üblichen Klinkerbauweise gestaltet, die man vom weitaus namhafteren Baumeister Fritz Höger in noch größerem Umfang am Stefansplatz der hannoverschen Südstadt bewundern kann.

Turmbau der Stadtbibliothek (Foto: G. Weber)

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Wer sich für Höger-Architektur näher interessiert, sollte jetzt den zehnminütigen Spaziergang dahin nicht scheuen. Wir werden uns dann im Restaurant »Högers« bei einem Imbiss und beim Betrachten vieler interessanter Vorkriegszeitfotos seiner Architektur an den Wänden für die, wie 22


Der 1. Tag

der Hannoveraner zu sagen pflegt, etwas »dröge« Südstadt belohnen. Einen weiteren Höhepunkt von Högerarchitektur liefert dann, die Sallstraße überquerend, der mächtige Klinkergebäude-Komplex am Geibelplatz mit einer empfehlenswerten gastronomischen Alternative: das italienische Restaurants »La Forchetta«. Von hier aus besuchen wir die nahe Bandelstraße mit dem Haus Nr. 41. Hier wohnte von 1951–56 einer der bekanntesten deutschen Nachkriegslyriker: Der 1915 in Hannover geborene Karl Krolow. Bereits mit zwanzig Jahren erschienen seine ersten Verse im »Hannoverschen Anzeiger«: »Ein kaum Zwanzigjähriger, trat Krolow mit frühen Versen hervor. Unserer ersten persönlichen Begegnung erinnere ich mich genau. Er besuchte uns in der Redaktion – ein junger, überschlanker, schon damals leicht gebeugter Mann, fast noch jünglingshaft, ein wenig hektisch oder zumindest sehr sensibel und – wenn ich so sagen darf – voller Gedicht. Schüler Krolow hatte eine erstaunliche Sammlung expressionistischer Lyriker geschaffen. Mit ihnen lebte er in der Hoffnung auf Eigenes« (Rischbieter, 1991). Von 1935 bis 1942 studierte Krolow u. a. Romanistik und Germanistik in Göttingen und Breslau mit dann wechselnden Wohnsitzen in Darmstadt und Hannover als bereits arrivierter Lyriker. Seine wohl unerfreuliche Kindheit ließ ihn 1972 in »Deutschland, deine Niedersachen« dementsprechend an seine Heimatstadt auch nicht sehr positiv erinnern (Krolow, 1982): »Hannover war für mich ziemlich lange ein anderes Wort für naßkalt, naßkalt und zuweilen naßforsch. Die Schulwege in einer Gegend, in der es lange Februar war, viel länger als die üblichen achtundzwanzig oder neunund23

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zwanzig Tage! Oder November oder März: undeutliche Monate mit einer grünlodenen Luft. Meine Eltern ließen zum Streichen der Zimmer einen Malermeister kommen, der mit Hermann Löns Skat geklopft hatte. Das war, als Hermann Löns in der Großen Barlinge oder Am Bokemahle wohnte, grünlodene Straßen im Südteil der Stadt. Feuchte Kleider riechen für mich auf diese Weise noch jetzt nach Große Barlinge, Löns und Skatspiel. Ich bekam regelmäßig meine Mandelentzündung. Sie gehörte dazu – undenkbar: Hannover ohne Mandelentzündungen.« Von der Simrockstraße ist es nicht weit zu den Häusern der Tiestestrasse. In der heutigen Nummer 39 wohnte nach dem Ende des 1. Weltkriegs der seit 1901 in Hannover aufwachsende und 1896 in Braunschweig geborene, aus einer jüdischen Familie stammende Schriftsteller Werner Kraft (4. Mai 1896 Braunschweig – 14. Juni 1991 Jerusalem). Bis zu seiner durch ein Berufsverbot als Bibliothekar der Königlichen Bibliothek erzwungenen Emigration nach Israel, entstanden hier u. a. die Entwürfe für die Biografien von Karl Kraus, Rudolf Borchardt, Franz Kafka und Stefan George. Bereits als Jugendlicher veröffentlicht er in der Zeitschrift für expressionistische Literatur »Die Aktion« erste Texte, macht die Bekanntschaft von Theodor Lessing und debütiert in der Zeitschrift »Das hohe Ufer« mit einer Rezension von Rudolf Borchardts Prosa. Eine Rückkehr aus Israel nach dem Ende des 2. Weltkrieges an die Niedersächsische Landesbibliothek lehnt Kraft ab. Er stirbt 1991 in Jerusalem. In Parallelität zu seinem hannoverschen Kollegen Karl Jakob Hirsch reflektiert er in seiner autobiographischen Schrift »Spiegelung der Jugend« die Gratwanderung eines jüdischen Heranwachsen24


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den in den Vorkriegsjahren des Wilhelminismus zwischen der geliebten deutschen Literatur und einer zunehmenden Distanz zum Kriegsgejohle seiner Landsleute. Die Schilderung seiner Rückkehr in die ehemalige Heimatstadt unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg wirkt ernüchternd: »Als ich fünf Jahre alt war, zogen meine Eltern nach Hannover.Da war ich zuhause, da wuchs ich auf, pflanzenhaft. Als ich 1951 wieder hinkam, in die zerstörte und eben halbwegs wieder aufgebaute Stadt, war mir alles fremd und vertraut zugleich. Ich orientiere mich schwer in der Welt, hier war ich traumsicher. Nichts war da und niemand, nur ich, wie ich fünfzig Jahre früher dagewesen bin, ein kleiner Junge. Ich stand auf dem jüdischen Friedhof an der Strangriede, wo meine Eltern begraben sind. Er ist eng und häßlich, von Häusern eingefaßt, aber durch Erinnerung geweiht. Die Grabsteine weg. Die meiner Großeltern standen.« (Kraft, 1973).

Karl Jatho (* 1873– † 1933), Flugpionier, 1907 / 08, (Wikipedia, gemeinfrei)

In der Tiestestraße 1 wohnte der hannoversche Flugpionier Karl Jatho, der hier von 1902–1904 lebte und nach dem der hannoversche Flughafen in Langenhagen genannt 25


wurde. 1873 als Sohn eines Eisenbahnbeamten in Hannover geboren, machte er zunächst als Amateur-Hoch-Kunstradfahrer auf sich aufmerksam. Nach ersten Schwebeversuchen 1896 mit einem selbstgebauten Gleitflieger gelang dem Kühnen dann immerhin 4 Monate vor den Gebrüdern Wright am 18. 8. 1903 auf der Vahrenwalder Heide mit seinem selbstgebauten Dreidecker der erste Motorflug – 75 cm hoch und 18 m weit! – Der 1933 in Hannover Verstorbene wurde von der Stadt auf dem Engesohder Friedhof mit einem Ehrengrab gewürdigt. Hannover kann sich einer weiteren Flieger-Persönlichkeit rühmen, nämlich der hier 1907 geborenen Elly Beinhorn, die drei Jahre das heutige Schiller-Gymnasium besuchte. Elly Beinhorn errang dann ab 1937 mit ihrem ersten 700–km–Langstreckenflug nach Guinea-Bissao und weiteren Rekordflügen (700 km) Weltruhm. Die mit zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen Bedachte war eine

Elly Beinhorn * 1907 Hannover – † 2007. Ottobrunn, 1932 (Wikipedia, gemeinfrei)

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Der 1. Tag

der ersten Frauen hinter einem Steuerknüppel und heiratete 1936 den Weltklasse-Rennfahrer Bernd Rosemeyer, der 1938 bei einem Rekordversuch tödlich verunglückte. Elly Beinhorn schrieb mehrere Bücher. Ihre auflagenstärksten waren »Mein Mann der Rennfahrer« und »Alleinflug«, das 2014 vom ZDF verfilmt wurde. Hier ein Ausschnitt: »Notlandung am Persischen Golf. Als ich an die Nordküste des Persischen Golfes kam, gab mein Motor einen hässlichen Knall von sich. Nanu was war denn los? Unter mir sah es für eine Notlandung nicht gerade hoffnungsvoll aus, da gab es nur Sumpf, nicht einen Fetzen trockenen Landes. Nach einer Atempause ging das Geknalle weiter, bis ich zuletzt wie ein Maschinengewehr durch die Landschaft flog. (…) Ich quälte mich noch bis Bandar Dilam, (…) bei dem es nach der Karte ein Notlandeterrain geben sollte. Ich kam wirklich mit der letzten Motorumdrehung in ein passendes Gelände, vier Kilometer vom Ort entfernt, hinein. Da hatte ich wieder einmal Glück gehabt!« (Beinhorn, 1983). Die beherzte Dame starb 2007 hundertjährig in Ottobrunn bei München. Bevor wir das berühmte Sprengel-Museum aufsuchen, werden wir auf unserm Rückweg von der Tiestestraße dorthin, die Hildesheimerstraße wieder überquerend, nun endlich die Stadtbibliothek an der Hildesheimer Straße mit ihrem Schwitters-Archiv besuchen. Nochmal zur Erinnerung: Sehen Sie sich unbedingt den Hannah-Arendt-Raum mit persönlichen Gegenständen dieser großen Autorin an. Die Stadt tat gut daran, nicht nur mit diesem Ausstellungsraum, sondern auch mit den jährlich von der Universität durchgeführten Hannah-Arendt-Tagen und einem daran gebundenen Stipendium, an diese große Intellektuelle 27

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zu erinnern, auch wenn sie, ähnlich wie noch viele andere namhafte Persönlichkeiten Hannovers, nur eine kurze Zeit in der Stadt aufwuchs bzw. lebte. Eine Gedenktafel am Hause Lindener Marktplatz verweist auf den Ort ihrer Geburt dort im Jahre 1906, den sie aber schon nach drei Jahren durch eine neue Stelle des Vaters als Ingenieur in Richtung Königsberg verließ. Ihr langjähriger Freund, der Philosoph Hans Jonas, beschreibt Hannah Arendt rückblickend so: »Scheu und in sich gekehrt, mit auffallenden, schönen Gesichtszügen und einsamen Augen ragte sie sofort als außergewöhnlich, als einzigartig in einer bisher undefinierbaren Weise heraus« (Jonas, 2005).

* Vom Sprengel-Museum zum Neuen Rathaus

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Von der Stadtbibliothek wird Sie Ihr Smartphone schnellstens über die Lemförderstraße und die Planckstraße zum Sprengelmuseum führen. Mein Sprengel-museum: Bei meinen einst sehr kurzen Hannover-Aufenthalten war es für mich stets eine »heilige Pflicht«, der großartigen Sammlung des Sprengel-Museums in ihrem 1969 eingeweihten Bau des Architekten Arne Jacobsen einen Besuch abzustatten. Für mich ist das Museum auch heute noch ein idealer, nie überlaufener Ort der Besinnung und Betrachtung von großer Malkunst. Von 2013 bis 2015 entstand durch das Schweizer Architekturbüro Meili & Ret ein Erweiterungsbau mit einer zusätzlichen Ausstellungsfläche von 5.200 qm für die bisher noch in Depots eingelagerten Meisterwerke. Nicht zuletzt 28


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wegen seiner klotzigen Form sowie der eher abweisend wirkenden, dunkelwandigen Außenfläche wurde er in Hannover sehr kontrovers aufgenommen. Durch seine einmalige Lage und das unglaubliche Geschenk des Namensgebers der für eine mittlere Großstadt sensationellen Ausstellung von 2000 Werken der Moderne des 20. Jahrhunderts, kann man, wie sonst kaum in einem gleichrangigen Museum, der Gegenwart entschlüpfen und in die Welt der größten Künstler des vergangenen Jahrhunderts eintauchen. Berührend und gleichzeitig verstörend ist für mich, in Verbindung mit dem tragischen Emigranten-Schicksal des wohl größten Künstlers aus Hannover, dem 1887 geborenen Kurt Schwitters, jedesmal der Besuch der Rekonstruktion des in seiner Wohnung in der Waldhausenstraße zwischen 1920 und 1936 entstandenen, dadaistischen MERZ-Baus. In einer Bombennacht des ausgehenden 2. Weltkriegs wurde er gänzlich zerstört. Die Nachricht davon, die den Künstler im englischen Ambleside erreichte, wertet man als Ursache für seinen frühen Tod im Jahre 1948. Wie das Originalgenie und gesellschaftliche Enfant Terrible Schwitters seine künstlerische Revolution in Folge des 1.Weltkrieges und der Novemberevolution in seiner von ihm REVON genannten Heimatstadt Hannover sieht, beschreibt er folgendermaßen: »Im Kriege, da hat es furchtbar gegoren. Was ich von der Akademie mitgebracht hatte, konnte ich nicht gebrauchen, das brauchbare Neue war noch im Wachsen, und um mich da tobte ein blöder Kampf um Dinge, die mir gleichgültig sind. Und plötzlich war die glorreiche Revolution da. (…) Ich verließ meine Arbeitsstelle ohne jede Kündigung und nun gings los. Jetzt begann das Gären erst richtig. Ich fühlte mich frei und mußte meinen Jubel hin29


ausschreien in die Welt. Aus Sparsamkeit nahm ich dazu, was ich fand, denn wir waren ein verarmtes Land. Man kann auch mit Müllabfällen schreien, und das tat ich, indem ich sie zusammenleimte und nagelte. Ich nannte es Merz, es war aber mein Gebet über den Ausgang des Krieges, denn noch einmal hatte der Frieden wieder gesiegt. Kaputt war sowieso alles, und es galt, aus den Scherben Neues zu bauen. Das aber ist Merz … Es war wie ein Abbild der Revolution in mir, nicht wie sie war, sondern wie sie hätte sein sollen« (Schwitters, 1974–1981). Die Moderne hält Einzug in Hannover: mit einem Paukenschlag machte sich im Juni 1920 das Allround-Talent Schwitters, bereits ausgestellt in Herwarth Waldens Berliner Galerie Sturm, zusammen mit dem einfallsreichen Verleger Paul Steegemann, als Dichter, bildender Künstler und Performer, wie man heute sagen würde, durch die Plakatierung seines Gedichtes »Anna Blume« an den hannoverschen Litfaßsäulen bekannt (Ausschnitt):

Kurt Schwitters vor 1927 (Foto: Genja Jonas, Quelle: Wikipedia commons, gemeinfrei)

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AN ANNA BLUME Rot ist das Girren deines grünen Vogels. Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes Tier / ich liebe Dir! Kurt Schwitters – einer der Begründer des Dadaismus – war sicherlich einer der einflußreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Geboren in der Rumannstraße 8, ging er in Hannover zur Schule und studierte in der Kunstgewerbeschule in Hannover und an der Akademie der Künste in Dresden. Da er an Epilepsie litt, war er im 1. Weltkrieg nur kurz Soldat, stattdessen wurde er als technischer Zeichner in ein Eisenwerk verpflichtet. Nach dem Krieg entwickelte er unter dem Begriff MERZ seine Vorstellung dadaistischer Kunst, die er in einer gleichnamigen Zeitschrift publizierte. Der Begriff soll aus dem Wort ›Kommerz‹ entstanden sein. Gemeint ist damit eine Technik, bei der aus Zeitungsausschnitten, Anzeigen, künstlerischen Fehldrucken, Reklameflugblättern und anderen Materialien Collagen entstehen. Zugleich arbeitete er auch als Lyriker und Schriftsteller – die Anna Blume kann man wohl als sein bekanntestes Gedicht ansehen. Interessant auch: 1932 trat er der SPD bei. Daß so ein künstlerischer Unruhestifter bei den Nationalsozialisten nicht gelitten war, liegt auf der Hand. Schwitters emigriert 1937 nach Norwegen, 1940, nach dem deutschen Überfall auf Norwegen, nach England. Nach seiner Internierung lebte er bis zu seinem Tode zunächst in London, später im Lake District. Seine Gebeine wurden 1970 nach Hannover überführt und auf dem Stadtfriedhof Engesohede beigesetzt. Die 2001 gegründete Kurt-und-Ernst-Schwitters-Stiftung hat einen Großteil seiner Werke gekauft und pflegt bis heu31


te das Andenken des bedeutenden Sohnes der Stadt Hannover. – Schwitters knüpfte seinerzeit Kontakte zu der ersten Riege der DADA-Künstler wie Hannah Höch, Raoul Hausmann, Hans Arp, nahm an DADA-Kongressen teil und organisierte in den 30er Jahren wilde MERZ-Abende in seiner Waldhausener Wohnung vor einer ständig wachsenden Fangemeinde. Karl Schodder, Mitarbeiter des umtriebigen hannoverschen Verlegers Paul Steegemann, berichtet eindrucksvoll von der ersten Merz-Matinee (Schodder, 1924): »Hannovers erste Merz-Matinée ging am 29. Dezember 1923 vor sich, in den Räumen des Etablissements Tivoli. Die Veranstalter, Herr Kurt Schwitters, Hannover-Waldhausen, und Herr Raoul Hausmann, Berlin, abhold jeder lauten Reklame, hatten an ihre Freunde und positiven Bewunderer Einladungen verschickt, denen aber nur wenige gefolgt waren (…). Nachdem man seiner Aufforderung, doch näher an die Bühne zu rücken, es sei dann gemütlicher, gefolgt war (und siehe, die Anwesenden füllten gerade die vier Reihen der Orchesterfauteuils), nahm Kurt Schwitters das Wort zu einer Begrüßung und Einleitung (…). Seine Ansprache gipfelte in dem Hymnus ›Freude schöner Götterfunken‹ – und auch hier verfehlten die zündenden Worte unseres Schillers nicht ihre begeisternde Wirkung. Kaum war der Beifall verrauscht, erschien Herr Raoul Hausmann, stellte sich artig vor: ›Mein Name ist Raoul Hausmann‹, und legte Mantel, Hut und Stock ab und tätigte das Manifest der Urlaute, in dem unanständig viel die Rede war von Margarine und Seele. Dann zog er auch noch den Rock aus und tanzte zu den Klängen eines Ragtime seinen Wang-wang, Rainbow oder irgend etwas anderes. Und nun ging es Schlag auf 32


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Schlag (…) Man hörte Lautgedichte ohne Sinn, dramatische Szenen in der Art des jungen Holländers Jan van Mehan. ›Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht‹, melodramatisch zu der Melodie ›Guter Mond, du gehst‹ usw. Raoul Hausmann brüllte zwischendurch seine Gedichte und tanzte wild mit einer Grazie, zu der seine polizeiwidrige Visage zwar in keinem Gegensatz stand, doch sehr gut paßte. Er tanzte so, wie Ringelnatz dichtet.« Doch dieser wohl berühmteste Künstler Hannovers wird immer ein Fremder, ein misstrauisch beäugtes Unikum in seiner Heimatstadt sein: »Die Hannoveraner sind die Bewohner einer Stadt, einer Großstadt. Hundekrankheiten bekommt der Hannoveraner nie. Hannovers Rathaus gehört den Hannoveranern, und das ist doch wohl eine berechtigte Forderung. Der Unterschied zwischen Hannover und Anna Blume ist der, daß man Anna von hinten und von vorn lesen kann, Hannover dagegen am besten nur von vorn. Liest man aber Hannover von hinten, so ergibt sich die Zusammenstellung dreier Worte: ›re von nah‹. Das Wort ›re‹ kann man verschieden übersetzen: ›rückwärts‹ oder ›zurück‹. Ich schlage die Übersetzung ›rückwärts‹ vor. Dann ergibt sich also als Übersetzung des Wortes Hannover von hinten: ›Rückwärts von nah‹. Und das stimmt insofern, als dann die Übersetzung des Wortes Hannover von vorn lauten würde: ›Vorwärts nach weit‹. Das heißt also: Hannover strebt vorwärts und zwar ins Unermeßliche. Anna Blume hingegen ist von hinten wie von vorne: A-N-N-A. (Hunde bitte an die Leine führen)« (Schwitters, 1974–1981).

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Mit einem letzten Blick aus dem italienischen Museums-Restaurant kann man sich vom Maschsee bei einem guten Essen verabschieden. Wenn Sie dann gestärkt aus dem Haupteingang wieder heraustreten, nehmen Sie den direkten Weg über die Willy-Brandt-Allee in den wunderschönen Maschpark. Er wurde 1902 im Zuge der Erbauung des Neuen Rathauses mit gestufter, vielfältiger Bepflanzung angelegt. Man sollte kurz auf der 1906 im Jugendstil errichteten Bogenbrücke über den lieblichen Maschteich verweilen, mit gutem Blick in dieser Oase der Ruhe auf eine der zahlreichen Skulpturen, wie die von Henry Moores »Schottisches Kreuz«, gestiftet von Bernhard Sprengel.

Neues Rathaus (Foto: G. Weber)

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Bei gutem Wetter sei jetzt ein kurzer Aufenthalt bei Kaffee und Kuchen in der Außengastronomie des Cafés Gartensaal im Erdgeschoss des Neuen Rathauses empfohlen, bevor wir uns dann dem Besuch des gegenüberliegenden, traditionsreichen Landesmuseums an der Wil34


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ly-Brandt-Allee widmen, das, 1902 eingeweiht, im Stil der Neorenaissance erbaut wurde. Das Erdgeschoss ist durch seine beeindruckenden didaktischen Dauerausstellungen »Menschen- und Naturwelten« zur Erd- und Menschheitsgeschichte bestens aufgestellt und Besuchermagnet für viele Schulklassen, aber auch vieler Familien an den Wochenenden. Umso betrüblicher ist es, wie wenig Hannoveranern die großartige Dauerausstellung »Kunstwelten« im 1. Obergeschoss bekannt ist mit dem Schwerpunkt Malerei des deutschen Impressionismus und deren umfänglichen Sammlungen mit Werken von Max Liebermann, Max Slevogt, Lovis Corinth und der so früh verstorbenen Paula Modersohn-Becker, der wohl Begabtesten des legendären Malerkreises im niedersächsischen Worpswede.

Frank Wedekind 1883 (Wikipedia, gemeinfrei)

Berührend, wie sie 1895 mit scheuen Worten an ihren Vater ihre erste Begegnung in der Bremer Kunsthalle mit den Werken ihres späteren Lehrers und Kollegen Modersohn beschreibt:

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»Du hörtest gewiss auch von der Haidepredigt, die der eine von ihnen, Mackensen, in einem eigens dafür gebauten Glaswagen malte (…). Natürlich alles ganz riesig realistisch, aber ganz famos (…) Sonst interessiert mich riesig ein Modersohn. Der hat die verschiedenen Stimmungen in der Heide so schön geschildert, sein Wasser ist so durchsichtig und die Farbe so eigenartig« (Busch und von Reinken, 1979).

Landesmuseum (Foto: G. Weber)

Wenn man das Museum in Richtung des Neuen Rathauses verlässt, sollte man wissen, dass einst, vor der fast vollständigen Zerstörung Hannovers im 2. Weltkrieg, hinter dem Landesmuseums an der Stelle der heutigen Heinrich-Kümmel-Strasse 3, laut Taufbuch »mittags viertel nach zwölf«, der große Dichter des 19. / 20. Jahrhunderts, Frank Wedekind, im Jahre 1864 geboren wurde. Bis 1872 wohnen die Wedekinds noch in Hannover am Weißekreuzplatz, dann ziehen sie in ein vom Vater gekauftes Schloss in der 36


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Schweiz. Später in Berlin erinnert ihn der Tiergarten »… auf das lebhafteste an Hannover. Es ist das was uns dort die Eilenriede war. Tiere befinden sich natürlich keine anderen darin als Mücken und Droschkenpferde.« Frank Wedekinds Theaterstücke, u. a. sein damaliges Skandalstück, die Teenager-Tragödie Frühlings Erwachen, am 20.11.1906 durch die Regielegende Max Reinhardt an den Kammerspielen seines Deutschen Theaters uraufgeführt, zogen mich als Regisseur in ihrer Radikalität und sprachlichen Einzigartigkeit immer wieder an, sie auf die Bühne zu bringen.Hier ein Ausschnitt aus der ersten Szene des Stückes, in der die pubertierende Tochter Wendla Bergmann, die am Ende des Stückes einen tragischen Tod aufgrund des Eingriffs einer »Engelmacherin« sterben muss, ihrer prüden und ängstlichen Mutter ein paar Zentimeterchen mehr Kürze von ihrem neuen Kleid abzuringen versucht (Wedekind, 2010): »Wendla: Warum hast Du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter? Frau Bergmann: Du wirst vierzehn Jahr heute! Wendla: Hätt ich gewusst, dass Du mir das Kleid so lang

Carl Sternheim (Wikipedia, gemeinfrei)

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machen würdest, ich wäre lieber nicht vierzehn geworden. Frau Bergmann: Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. (…) Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzesskleidchen einhergehen.«

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Eine ähnliche Faszination übten auf mich die Werke in der sperrig-kunstvollen Sprache von Carl Sternheim aus, der einige Jahre später als Wedekind, und zwar von 1879 bis 1884, ebenfalls in Hannover heranwächst und dann 1920, in dritter Ehe, Frank Wedekinds Tochter Pamela heiraten wird. Über Carl Sternheim werden Sie noch mehr beim Besuch der Boedekerstraße am 4. Tag unserer Spaziergänge erfahren. Doch nun verlassen wir über die großzügige Freitreppe das Landesmuseum und gehen, erneut durch den Maschpark, auf das Neue Rathaus zu, das im Jahre 1913 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht wurde. Der weithin sichtbare, auf ca. 6000 in die Masch gerammten Buchenpfählen fundamentierte Bau war mit seiner hohen Zentralhalle, zwei riesigen Innenhöfen, den zahlreichen Prunkräumen und dem 98 m hohen, durch einen Schrägaufzug zu erreichenden, für ein Rathaus einzigartigen Kuppelturm in seiner Entstehungszeit ein Bauwerk der Superlative. Von dort oben hat man einen umfassenden Rundblick auf Hannover und die der Stadt nahen Kleingebirge im Südosten wie den Deister. Das auf Betreiben des damaligen, ehrgeizigen Stadtdirektors Heinrich Tramm errichtete Rathaus war das erste von zwei am Vorabend des 1. Weltkrieges errichteten Repräsentationsbauten. Ihre Errichtung war dem ungeheuren Bevölkerungsanstieg der Stadt in den letzten Jahren durch die rasante Industrialisierung um fast die Hälfte, auf mehr als 315.000 Einwohnern geschuldet. 1914, ein Jahr nach 38


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der Einweihung des Neuen Rathauses, wurde die ebenfalls sehr protzige, vom renommierten Architekten Paul Bonatz entworfene Stadthalle im heutigen Hindenburgviertel als großer Konzert- und Versammlungssaal übergeben. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in der großen Eingangshalle des Rathauses die detaillierten drei Modelle der Stadtentwicklung seit dem Mittelalter, sowie das Monumentalgemälde Einigkeit des Schweizer Künstlers Ferdinand Hodler, im nach ihm benannten Saal im 1. Stock. Von der üppigen Treppe, die uns wieder aus dem Rathaus hinaus führt, schaut man geradewegs auf das nach dem berühmtesten Architekten von Hannover benannte und von ihm im Auftrag von G. Kestner 1824 erbaute Laveshaus am Friedrichswall 5. Wenn wir den Wall überquert haben, stehen wir vor dem im besten klassizistischen Stil erbauten, damals noch vor den Stadtmauern liegenden Wohnhaus. Es beherbergt heute die Architektenkammer Niedersachsens mit einer kleinen Dauerausstellung nicht realisierter Bauvorhaben der letzten 100 Jahre. Eine Besichtigung wert ist auch das Modell der vom Großunternehmer Hermann Bahlsen und dem Maler und Bildhauer Bernhard Hoetker 1916–1919 entworfenen monumentalen TET-Stadt, der Plan einer Wohn- und Fabrikanlage im Norden Hannovers. Von da aus sind es, rechtsseitig das Laveshaus verlassend, nur noch ein paar Schritte weit in den im 2. Weltkrieg fast komplett niedergebrannten und unmittelbar danach durch die hannoversche Stadtplaner-Legende Rudolf Hillebrecht wieder aufgebauten Altstadtkern. Hier haben Sie die Möglichkeit, einen ersten Blick in die mittlerweile gereinigte Leine zu werfen und am großartig restaurierten Hohen Ufer am Fuße des Leineschlosses und heutigen Landtags, eine Anzahl empfehlenswerter Lokale 39

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mit gehobener, gutbürgerlicher Küche für den Mittag oder Abend zu finden. Ich wünsche Ihnen einen »Guten Appetit« nach Ihrem ersten Spaziergang durch den Süden von Hannover!

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