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Straßen im Wandel
sensor 07/13
sensor 07/13
Straßen im Wandel
Neue Horizonte tun sich auf
Der Straßenabschnitt, der niemals schläft
Reise ans Ende der Stadt
Das Delta Lloyd-Gebäude wird demnächst plattgemacht. Das an dieser Stelle entstehende Büro quartier „Verso“ soll das Areal laut Aussage der Stadtplanungsdezer nentin „deutlich aufwerten“
Als Flaneur auf der Mainzer Straße Fast könnte man das, was da im Licht der Morgensonne steht, wo die Mainzer Straße von der Frankfurter abzweigt, für eine Strandbude halten: Die Liegestühle vor dem „Pavillon“ ziert der Name einer spanischen Brauerei; die mit bunter Kreide beschriebenen Menütafeln muten nach Urlaub an. Doch das urbane Biotop umgibt kein Sand, sondern Asphalt: knapp drei Kilometer bis zum südlichen Ende der Mainzer Straße. Noch einen Cappuccino auf den Weg, dann kann es losgehen: Flaneur spielen, wo sonst quasi niemand zu Fuß unterwegs ist. Auf der Ein- und Ausfallstraße, die einst nach Kastel führte und Wiesbaden heute mit den Anschlussstellen zur A66 und A671 verbindet. Eine „Reise ans Ende der Stadt“, frei nach Louis-Ferdinand Céline. Bis zur Kreuzung Gustav-Stresemann-Ring präsentiert sich der Straßenzug vornehmlich in grün. In den restaurierten Villen residieren Baufirmen, Versicherungen und Rechtsanwälte. Dazwischen mehrstöckige Wohnhäuser, kleine Vorgärten. Der Verkehr tröpfelt durch die Einbahnstraße Richtung Innenstadt, die Vögel machen hier mehr Krach als die Autos. Dort, wo die Lessingstraße
kreuzt, geht es mit der Mainzer bergab – buchstäblich: Sie versinkt in einer Unterführung. Für den Flaneur geht’s auf Straßenniveau weiter, begleitet vom Rauschen des nun vierspurigen Verkehrsaufkommens, das einen neuen Abschnitt einläutet: der Horizont weit, jetzt gesäumt von Hochhäusern. Die Sonne steht in vertikaler Linie am Himmel. Städtebauliche Rahmenplanung Über acht Spuren und drei Fußgängerampeln muss hinweg, wer auf die andere Seite möchte. Gerahmt wird die Kreuzung von Bürogebäuden mit bis zu zwölf Stockwerken. Zumindest im Verwaltungsgebäude an der oberen Ecke zum Gustav-StresemannRing muss das vielfache Motoren dröhnen, das zwischen den unzähligen Bürofenstern widerhallt, derzeit niemand mehr aushalten. Das ehemals dem Delta-Lloyd-Konzern gehörende Haus wird abgerissen, hier soll das Büroquartier „Verso“ entstehen. „Das Areal wird deutlich aufgewertet“, erklärt Entwicklungs dezernentin Sigrid Möricke. „Auch aus dem Betriebshof der Eswe gegenüber ließe sich deutlich mehr machen“, ergänzt Thomas Metz, Leiter
des Stadtplanungsamtes. Sein Büro liegt etwas weiter den Ring hinauf, innerhalb des 150-Hektar-Bereichs der städtebaulichen Rahmenplanung, mit der geregelt ist, wie man sich die Umgestaltung beiderseits der Mainzer Straße vorstellt. Ziel ist auch eine architektonische Aufwertung als südliches Entree zur Innenstadt. „Wir haben es mit einem Entlastungsstandort zu tun“, erklärt Metz. „Es lassen sich hier Dinge unterbringen, die ansonsten in die Innenstadt drängen würden. Es gibt in Deutschland Stadtzentren, die durch den Druck von Bürobauten komplett umgekrempelt wurden. Das wollen wir in Wiesbaden vermeiden und die bauliche Substanz der Innenstadt so erhalten, wie sie ist.“ An der Ecke zur Gartenfeldstraße ragt der neue „Terrum Tower“ in den Himmel, auch am Kulturpark entsteht ein Bürokomplex. An den Rohbau schließt sich das in der Entstehung befindliche B & B-Hotel an, das Mitte Juli eröffnen soll. „Die Mainzer Straße ist ein Tor zur Stadt, auf das Wiesbaden lange nicht unbedingt stolz sein konnte“, rief Stadtrat Dieter Schlempp den Gästen kürzlich beim Richtfest zu: „Das hat sich geändert.“
Dies im Ohr, gerät einem auf der Straßenseite gegenüber ein verwitterter Backsteinbau in den Blick, der nicht ins Bild passen will: die ehemalige Friedrichshalle. Erbaut im Jahre 1890, ist sie eines der wenigen historischen Gebäude an der Mainzer Straße. Früher wurde sie als Tanzsaal und Restaurant genutzt, heute befindet sich darin – quasi als Faust aufs Auge – eine Sanierungsgesellschaft. In der unmittelbaren Nachbarschaft dürfte sie kaum Aufträge bekommen. Hier wird nicht saniert, hier wird abgerissen und neu gebaut. Die Friedrichshalle aber soll bleiben, sagt Thomas Metz: „Als markanter Teil der historischen Stadtstruktur.“ Die Fassade des neu gebauten Justizzentrums unter der Hausnummer 124 erinnert hingegen an manches, was seit der Wiedervereinigung in Berlin hochgezogen wurde: eine Stein gewordene Fritz-Lang-Vision unserer urbanen Zukunft. Oder steckt gar eine Absicht dahinter, gerade der Heimstätte der Justiz ein möglichst bedrohliches Antlitz zu geben? Nächtliche Szenerie im Neonlicht Das Justiz- und Verwaltungszentrum im Rücken, entrollt sich die Nacht-
seite der Mainzer Straße, ihr nahezu unbewohntes südliches Ende, welches erst mit Anbruch der Dunkelheit richtig zum Leben erwacht. Auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen die Radarsäulen, mit deren rot blitzenden Ringen fast jeder Autofahrer schon Erfahrungen gemacht hat. Hier steht vieles, was das Gestaltungskonzept der Stadt als „minderwertige Architektur“ einstuft – Spielhalle, Bordell, Werkstatt, Möbelhaus und ein Wohnheim für Sozialhilfeempfänger. Für den Flaneur geht es unter der Eisenbahnbrücke hin-
durch, vorbei an Plakaten, Unkraut, vorbeizischenden Autos. Hinter einer der Plakatwände klemmt ein Schild von jemandem, der hier tatsächlich sein Glück beim Autostopp versucht haben muss. „Strasbourg“, „Wien“, „Mars“, „Venus“ und „Wiesbaden“ stehen als variable Reiseziele auf dem mehrfach klappbaren Pappdeckel. Der Gute muss ebenso flexibel wie humorvoll gewesen sein. Oder schlichtweg betrunken. Gefahrlos anhalten kann hier jedenfalls niemand. An der Hauswand eines dreistöckigen Gebäudes räkeln sich Frauen in
Strapsen: „Die Rote Meile“. Der Himmel ist mittlerweile dunkel, die Szenerie nur von Neon erleuchtet. Der Kahlgeschorene mit den Muskelpaketen und dem Mike-Tyson-Tattoo im Gesicht, der aus der „Roten Meile“ getreten kommt, um zu schauen, was der Flaneur da auf seinem Block zu notieren hat, sieht insgesamt wenig vertrauenerweckend aus. Also lieber weiter zur Brücke, die über der Salzbach führt. Weiter oben am Horizont fährt die Eisenbahn vorbei, zum Gleisdreieck Wiesbaden Ost. Irgendwo da vorne ist wieder Zivili-
Spenden Sie Licht in dunkelster Nacht! Wir begleiten im Kinderhospiz Bärenherz lebensverkürzend erkrankte Kinder und ihre Familien: Liebevoll, professionell, rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr – weil jede Minute Leben kostbar ist … Das Kinderhospiz Bärenherz ist eine Einrichtung der Bärenherz Stiftung in Wiesbaden. Bärenherz Stiftung Tel. 0611 3601110-0 info@baerenherz.de www.baerenherz.de
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sation: Biebrich. Der Flaneur ist angekommen. Am Ende der Stadt. Am Ende der Worte. Alexander Pfeiffer Fotos Kai Pelka Weitere Beobachtungen in der ungekürzten Version des Flaneur-Berichts, die wir am 15. Juli auf www.sensorwiesbaden.de veröffentlichen
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