Semper Magazin No.7

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Semper!

Eine musiktheatralische Kolumne

Der Tempel der Göttin Vesta in Rom stand auf dem Forum Romanum. Es gab nur sechs Priesterinnen, die Vestalinnen, und sie waren natürlich Jungfrauen. Warum schließt sich Julia in Spontinis Oper ihnen an, während ihr Geliebter Licinius in der Schlacht ist? Senta, die Tochter des geschäftstüchtigen Daland, könnte mit ihrem Erik glücklich sein und schwärmt von einem Finsterling, den sie nicht kriegen kann, dem fliegenden Holländer. Die Tempeltänzerin Nikija und ihr Solor haben sich in »La Bayadère« ewige Liebe geschworen, aber dann verliebt sich Solor in eine andere. Was ist denn da bloß los? Kann denn niemand mit der Liebe richtig umgehen? Doch, die Marschallin im »Rosenkavalier« – die hat sich geschworen, ihren Octavian frei zu geben, wenn es an der Zeit ist – »Hab mir’s gelobt, ihn lieb zu haben in der richtigen Weis’.« Das heißt, ein bisschen Weisheit, Gelassenheit und Verstand tun der Liebe manchmal ganz gut, aber ach, meistens ist das einfach nicht möglich, weil die Leidenschaft einen Strich durch all das macht. Und die Musik, die lebt natürlich von solchen Leidenschaften. Jemand hat die Oper mal »Das Kraftwerk der Gefühle« genannt, und das ist sie auch: Da geht es nicht zimperlich zu, da wird geliebt, gestorben, gemordet, intrigiert, geschluchzt, und alles in großem Maßstab. Es ist herrlich. Und wir dürfen zulassen, dass es uns überwältigt, denn alles kann man nun mal nicht allein über den Kopf bewältigen. Theodor Adorno hat geschimpft auf die, die immer nur die »schönen Stellen« hören wollen. »Infantil«, sagte er, würden solche Menschen nach »starrer Wiederholung« verlangen. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass die sogenannten »schönen Stellen« in der Musik einfach das Glück des Wiedererkennens in sich bergen, oder, wenn man sie zum ersten Mal hört, das Glück der Entdeckung. Ich weiß, wann in einer mir bekannten Oper oder in einem Konzert die und die »Stelle« kommt, die mir besonders gut gefällt. Aber die löse ich doch nicht aus dem Ganzen heraus! Die will ich doch nicht isoliert wieder und wieder hören, wie als Teenager auf dem Kofferplattenspieler

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semper secco immer dieselbe Single von Elvis Presley! Ein Musikstück erreicht uns, und einige Takte erreichen uns ganz besonders, das zeigt, dass alle Türen noch offen sind und etwas hereindringt. Lassen Sie sich in diesem Sinne ruhig reinfallen in schöne Stellen, und die Opern, Ballette, Konzerte der nächsten Wochen bieten Ihnen in der Semperoper genug davon. In den letzten fünf Jahren war ich Herausgeberin einer Reihe von Büchern, die sich ausschließlich mit Musik und Musikern beschäftigten. Eines davon hat der kanadische Psychologe und Neurowissenschaftler Daniel J. Levitin geschrieben, der ein Labor für »musikalische Wahrnehmung« in Montreal leitet. Was macht Musik mit uns? Was macht Musik so unwiderstehlich? Das wird dort erforscht, und sein Buch heißt »Die Welt in sechs Songs«, Untertitel: »Warum Musik uns zum Menschen macht«. In diesem Buch gibt es Antworten. Eine davon ist diese: »Die musikalische Überzeugungskraft hängt ab von einem Gefühl für Form; das gewöhnliche Sprechen ist nicht ganz so stringent organisiert. Man kann sagen, was man meint, aber ähnlich wie die Malerei, die Kochkunst oder andere Künste hat Musik eine Form, eine bestimmte Gestalt. Und das macht die Faszination aus. Es ist etwas, woran man sich erinnern kann. Gute Musik kann die Barrieren von Sprache, Religion und Politik überwinden.« Levitin beweist in seinem Buch, dass Musik nicht nur ein Mittel zur Zerstreuung ist, sondern ein wesentliches Element unserer Identität als Mensch, und er behauptet, dass es sechs

Elke Heidenreich, Autorin

Arten von Songs gibt, an denen sich alles Menschliche festmachen lässt – das sind Songs oder Lieder von Freundschaft, Freude, Trost, Wissen, Religion und Liebe. Das sind auch die Themen der Opern, und den Geist dieser Begriffe hört man auch in der Kammermusik, in den Sinfoniekonzerten, in den Liedern der klassischen wie der Pop- und Rockkomponisten. Das ist genreübergreifend, ohne die dumme Trennung von E- und U-Musik. Es gibt – für mich – nur die Kategorie gut oder schlecht, nicht ernst oder unterhaltend. Auch Ernstes unterhält, auch Unterhaltendes kann ernst sein. Levitins grenzüberschreitendes Buch hat ein schönes Schlusswort, ich möchte es Ihnen zitieren: »Die höchste Liebe ist die Liebe, die wir unserer Existenz selbst entgegenbringen, die Liebe zur Menschheit mit all ihren Schwächen, ihrer Destruktivität, ihren Ängsten, ihrem Geschwätz und ihren Rivalitäten. Die Liebe, die uns zur Güte führt, die wir manchmal auch haben, mitten im größten Stress, und zu dem heldenhaften Mut, Gutes zu tun, auch wenn uns niemand dabei zuschaut, ehrlich zu sein, auch wenn nichts zu gewinnen ist, und diejenigen zu lieben, die andere nicht liebenswert finden. Das alles und unsere Fähigkeit, darüber zu schreiben, es in Liedern zu besingen, macht uns als Menschen aus.«

Elke Heidenreich studierte nach dem Abitur Germanistik und Theaterwissenschaft. Ab 1970 arbeitete sie frei für Funk und Fernsehen, schrieb Drehbücher und Hörspiele und ab 1992 auch Erzählungen. Sie lebt in Köln, wo sie u.a. zwölf Jahre für die Kinderoper arbeitete. Sie ist Herausgeberin einer eigenen Edition, die sich nur mit Büchern zum Thema Musik beschäftigt. Seit 2012 gehört sie zum Kritikerteam des Schweizer »Literaturclubs«, der auch auf 3sat ausgestrahlt wird.


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