Semper Magazin No.6 12/13

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Anne Gerber, Autorin A. T. Schaefer, Fotograf

Verhängnisvolle Maskerade F romen ta l H a l év ys Gr an d op ér a »La ju ive / Die J üdin « kommt i n d e r I n s z e n ier u n g des Stu ttgarter Re giedu os J ossi W iele r & S e r gio Mor abi to an die Semperoper

TRÜ G E R I S CH E I DYLLE »La juive«, zu deutsch »Die Jüdin« – allein der Titel muss Assoziationen wecken: religiöse und ethnologische Klischees, finsterste politische und menschliche Abgründe, Gefühle von Schuldzuweisungen und Verdrängung, ein jahrhundertelanger Kampf um Gleichberechtigung. Als Fromental Halévys bekannteste Oper »La juive« am 23. Februar 1835 in Paris uraufgeführt wurde, schien erstmals diese Gleichberechtigung möglich zu sein: Seit der Julirevolution wurden den französischen Juden Bürgerrechte zuerkannt. Judenpogrome und antisemitischer Terror schienen endlich der Vergangenheit anzugehören. Hundert Jahre später wurde Europa eines Schlechteren belehrt. Und noch im 21. Jahrhundert führen religiöse Konflikte zu verheerenden Gewalttaten, gären Fremdenfeindlichkeit und Hass unter einer rissigen Oberfläche von Toleranz. »Das Stück stellt auf radikale Weise die Frage nach unterdrückten religiösen Minderheiten und fundamentalistischen Glaubenskämpfen«, erläutert Sergio Morabito die heutige Brisanz der »Juive«. Gemeinsam mit Regisseur Jossi Wieler hat er als Dramaturg und Koregisseur das Stück für die Stuttgarter Premiere 2008 neu aufgerollt – in einem subtilen Spiel mit dem verharmlosenden Märchen-Mittelalterbild der Restauration einerseits und einem allgegenwärtigen, in historischen Tiefen verwurzelten Fremdenhass andererseits: Die Idylle trügt hier. Die beschauliche Dorfkulisse, links das Münster, rechts das pittoreske Fachwerkhäuschen, ist nicht mehr als eine Illusion, eine Bühne für ein Schauspiel, auf das sich die ausgelassene Gemeinde vorbereitet. Nur einer möchte sich dem Treiben nicht anschließen: Eléazar, der Jude, der Spiel-

verderber, der mit seiner Tochter Rachel den Trubel skeptisch beäugt. Mehr und mehr vermischen sich die Ebenen des Spieles und der Realität; mit den mittelalterlichen Verkleidungen brechen unterdrückter Hass und Gewalt aus, schaukeln sich in alkoholtrunkenem Taumel in die Höhe. Die kleinstädtische Bühnenfassade ist so fragmentarisch wie die »heile Welt«, die sich in ihr abspielen sollte. Ins Wanken gerät das fragile Gerüst, als öffentlich wird, dass Rachels Geliebter nicht der angebliche jüdische Maler Samuel ist, sondern der einflussreiche Léopold, der nicht nur Christ, sondern sogar mit der schönen Eudoxie verheiratet ist. Eléazar sinnt auf Rache, das aufgepeitschte Volk fordert Vergeltung für die unzulässige Beziehung. Zwischen allen Parteien steht Kardinal de Brogni, der Eléazar einst aus Rom ausgewiesen hatte und dessen eigene Frau und Tochter in einem Feuer ums Leben kamen. Erst im Moment von Rachels gewaltsamem Tod offenbart Eléazar Brogni, dass das Mädchen dessen totgeglaubte Tochter ist, die der Jude damals rettete und aufzog. GLAU BENSFRAG EN Wie das düstere Pendant zu Lessings »Nathan der Weise« liest sich die Geschichte, die Fromental Halévy mit dem Librettisten Eugène Scribe, dem meistgespielten Dramatiker des 19. Jahrhunderts, erarbeitete. Halévy, damals Mitte dreißig und seit einigen Jahren an der Opéra National de Paris als Chef de chant engagiert, gehörte zu der ersten Generation der Juden, die in Frankreich als »Citoyens«, als gleichberechtigte Bürger leben und arbeiten konnten. Das Schicksal eines innerlich zerrissenen


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