Bach-Magazin 32 - Leseprobe

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Bach und das Gewandhaus­ orchester Das Bach Network Bachs rätselhafte „Echoflöten“ Georg Kinsky und Bach

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Herbst / Winter 2018 / 19

Heft 32


inhalt

INHALT

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Nachrichten Kurz und knapp Musikleben Bach 333 – ein klingendes Geburtstagsgeschenk Der „gesamte Bach“ zum 333. Geburtstag

Heitere und variantenreiche Tiefenwirkung Das Bach Network

Nachgefragt 24 Stuttgarter Generationswechsel Katrin Zagrosek ist neue geschäftsführende Intendantin der Bachakademie Stuttgart

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„Bach gehört zur DNA des Gewandhaus­ orchesters“ Interview mit Gewandhaus­ direktor Andreas Schulz

13 Zwischen Kaffeehaus und Tuchboden Die Leipziger Musiklandschaft nach der Gründung des „Großen Concerts“ 16

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Thema Bach und das Gewandhausorchester Vom „Bachischen Collegium Musicum“ zum „Großen Concert“

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Werk Bachs rätselhafte „Echoflöten“ Die Blockflöte im Branden­ burgischen Konzert Nr. 4 Pioniere „Studire Contrapunct mit wahrer Leidenschaft“ Heinrich von Herzogenberg zum 175. Geburtstag

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Forschung Besser gedruckt oder online? (Bach-)Werkverzeichnisse im digitalen Zeitalter Bach-Familie Johann Ernst Bach (1722–1777) Der Fürstlich SachsenWeimarische Hofkapellmeister Festival „Alles mit Bach und selten ohn’ ihn“ Der Intendant des Bachfestes Leipzig Michael Maul im Interview Forschung Neue Forschungs­ ergebnisse im BachJahrbuch 2017 Zusammenfassung der Beiträge

42 Verkannter Kritiker Georg Kinskys Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach 45

Musikleben Lustvolle Provokation statt blinder Tradition Die Geigerin und Dirigentin Chiara Banchini im Porträt

Werk 48 Die Schäferkantate Weltliche Urfassung des Osteroratoriums Rezensionen 50 gehört, Gelesen und besprochen CD- und Buch-Rezensionen Termine 56 Angekündigt

58 Vorschau / Impressum


thema

Bach gehört zur DNA des Gewandhaus­orchesters     Seit er 1998 das Amt des Gewandhaus­ direktors übernahm, leitet Andreas Schulz die Geschicke des traditionsreichen Hauses mit seinem weltberühmten Orchester. Die Musik von Johann Sebastian Bach ist für das Ensemble schon alleine deswegen eine tragende Säule, weil es fast wöchentlich den Thomanerchor in der Thomaskirche begleitet. Doch in den vergangenen 20 Jahren wurden Bachs weltliche Werke auch zunehmend in den Gewandhauskonzerten gespielt. Hagen Kunze sprach mit Andreas Schulz über das Thema „Bach und das Gewandhausorchester“.

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Von Hagen Kunze

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ergleicht man den aktuWie haben die Musiker diese ellen Gewandhaus-Spiel- Bach-Renaissance im Gewandhaus nach 1998 wahrgenommen? plan etwa mit dem von 1991, dann fällt auf, dass   Ob man da wirklich von einer heute viel mehr Bach geRenaissance sprechen kann, möchte ich in Frage stellen, aber grundsätzlich spielt wird als zu früheren Zeiten. kann ich sagen, dass die Kollegen es Warum ist das so? lieben, Bachs Musik regelmäßig zu   Das mag 1991 so gewesen sein, spielen und dass sie sie als Bereiche­ aber grundsätzlich stimmt es nicht. Nach dem Tod von Johann ­Sebastian rung empfinden. In der Thomaskirche Bach findet man immer spielen wir seine geist­ wieder Werke von lichen Werke und im ­Johann Christian und ­Gewandhaus alle anderen. Die Kollegen Bachs Musik ist allgegen­ Carl Philipp Emanuel lieben es, Bach im Spielplan. wärtig. Und es ist wichtig, Mendelssohn Bartholdy dass wir Bach nicht nur Bachs Musik führte die Matthäus-­ in der ­Thomaskirche regelmäßig zu Passion 1841 in Leipzig ­spielen. So wie die spielen. auf, plante aber schon ab Werke von Mendelssohn 1835 Konzertprogramme Bartholdy zur DNA des mit Bachs Werken. Gewandhaus­orchesters Danach war es je nach Gewand­ gehören, so ist es auch mit der Musik von Bach. hauskapellmeister unterschiedlich. Reinecke oder Abendroth haben oft Gab es nicht auch Stimmen, die Bach dirigiert. Und als Blomstedt 1998 nach Leipzig kam, hat er unver­ betonten, dass für Bachs Musik die Spezialensembles zuständig seien, die züglich Bach im Spielplan platziert. seit den 1950er Jahren massenhaft Die h-Moll-Suite wurde oft gespielt, gegründet wurden? auch die Brandenburgischen Kon­   Nikolaus Harnoncourt hat mit der zerte. Sein Nachfolger Chailly hat Gründung von Concentus Musicus sich ebenfalls intensiv mit Bach Wien 1953 den wohl wichtigsten Im­ beschäftigt, was sich in zahlreichen Medienprojekten widerspiegelt. Und puls für die historische Aufführungs­ auch Nelsons möchte Bach im Spiel­ praxis gegeben. In der Nachfolge entstanden viele ­Spezialensem­bles, plan verankern.

die sich auf höchstem Niveau mit der sogenannten Alten Musik beschäftigten. Für die Sinfonie­ orchester verengte sich daher das Repertoire. Doch seit vielen Jahren arbeiten Dirigenten wie Gardiner, Norrington oder H ­ erreweghe mit modernen Sinfonieorchestern. Die heutigen Musiker sind sehr gut ausgebildet, beherrschen verschiedene Spieltechniken und sind in allen Stilrichtungen zuhause. Und wenn vor diesen Musikern ein Orchester­leiter steht, der sich intensiv mit der Aufführungspraxis beschäftigt hat, dann kann auch ein modernes Sinfonieorchester sehr historisch spielen. ... und diese Erfahrung hilft dann auch beim Kernrepertoire?   Ja, unbedingt! Für Blomstedt, Chailly und Nelsons war und ist es wichtig, Dirigenten einzuladen, die dem Orchester neue Horizonte eröffnen. Als Norrington 2002 das erste Mal Brahms ohne Vibrato ­spielen ließ, hat das intensive Dis­ Das 1981 eröffnete kussionen ausgelöst. Wir haben aber dritte Ge­ wandhaus auch Musiker im ­Orches­ter, die privat oder in anderen Zusam­men­ mit dem Mende­ hängen auf historischen Instrumen­ brunnen ten spielen und diese Erfahrungen auf dem Augustus­ ein­bringen. Zudem ­initiieren wir platz im immer wieder Formate mit Gast­ Herzen Leipzigs


dirigenten, wie zum Beispiel Andrew Manze, der sein Wissen in Workshops dem Orchester vermittelt. Zu den Aufführungspraktikern, die das Orchester prägten, gehört auch John Eliot Gardiner. Wie kam es zu dieser Verbindung?   Riccardo Chailly, der mit Gardiner befreundet ist, hatte ihn während seiner Amtszeit oft eingeladen, als Gast­dirigent zu kommen. ­Gardiner besuchte Chailly anlässlich des ­Mahler-Festivals 2011, hörte bei einer Probe der Auferstehungssinfonie zu und war begeistert vom Klang und von der Spielkultur. Danach gab es einige Thomaner­ herausragende Projekte mit ihm und chor und seinem großartigen Chor. Ich erinnere Gewand­ haus­ mich an Schumanns Das Paradies und orchester die Peri oder an Brahms’ Ein Deutsches bei der Requiem. Aufführung von Bachs Johannes-

Ganz war der Name Bach vor 1998 Passion ­übrigens nicht verschwunden vom im April 2017 in der Spielplan des Gewandhauses: In Thomas­ Michael Schönheits Orgelkonzerten kirche spielte Bach eigentlich immer eine Leipzig Rolle ...   Schon Matthias Eisenberg hat regel­ mäßig Orgelwerke von Bach gespielt. unser Orchester sieht ihn dort jede Sein Nachfolger Michael Schönheit hat Woche oder auch im Rahmen von sich seit 1986 systematisch und um­ Tourneen. Ich finde es programma­ fangreich mit den Werken Bachs aus­ einandergesetzt. In bald jeder tisch eher verengend, wenn Saison finden wir besondere wir den ­Thomaskantor regel­ programmatische Ideen von mäßig im „Großen Concert“ Auch ein modernes zu Gast hätten. Gerade mit ihm. Blomstedt integrierte ihn Sinfonieorchester Blick auf die Darbietung der zudem in Orchesterprogramme. Viele Konzerte fingen dann mit Werke Bachs ist es doch viel kann sehr einem Orgelwerk von Bach an. historisch spielen. interessanter, Gastdirigen­ Zudem führt Schönheit seit der ten einzuladen und neue Gründung der Merseburger Hof­ interpretatorische Ansätze kennenzulernen. musik 1998 auch immer wieder die oratorischen Werke Bachs im Ge­ Das Gewandhausorchester spielt wandhaus auf. seit Jahrzehnten regelmäßig Bach in der Thomaskirche, allerdings Als Dirigent für Bach-Werke mit dem in wechselnden Besetzungen. Was Gewandhausorchester wäre auch spricht eigentlich gegen eine feste der Thomaskantor prädestiniert. Bach-Besetzung? Manch einer von Gotthold Schwarz’ Vor­gängern hatte sogar regelmäßige   Zunächst einmal die Struktur. ­Auftritte im „Großen Concert“. Das Gewandhausorchester hat mit Gewandhaus, Oper und Thomas­   Ja, das stimmt. So war Georg kirche drei Spielstätten parallel zu ­Christoph Biller immer wieder einmal bespielen. Wir haben überhaupt im Gewandhaus zu erleben. Einzelne keine Möglichkeit, eine dauerhafte Projekte wären sicher möglich, aber Festbesetzung aus diesem kom­ das sollte nicht zwingend Vertrags­ bestandteil eines Thomaskantors sein. plexen Spielbetrieb herauszulösen. Der Thomaskantor hat sein Aufgaben­ Bei besonderen Projekten könnte man vielleicht über eine kurzfris­ feld primär in der Thomas­kirche, und

tige Perio­­de nachdenken, aber dies müsste genau geplant werden. Übrigens können wir auch im Ge­ wandhaus und in der Oper keine dauerhafte Festbesetzung realisie­ ren. Wenn man dieses Ziel verfolgen will, dann kann man nur die Struk­ tur auflösen und Oper, Gewand­ haus und Thomaskirche mit einem jeweils eigenständigen Orchester bespielen. Zudem sind die Arbeits­ verträge der Musiker klar definiert. Alle müssen alle Spielstätten gleich­ berechtigt bespielen. Niemand kann sagen, dass er nur Oper oder nur im Gewandhaus spielen möchte. Diese Vielfalt ist unsere Einzigartigkeit. Was die Dienstplanung für das größte Orchester der Welt zweifellos sehr kompliziert macht?   Ja, denn das jeweilige Repertoire sowie die Besetzungsgrößen müssen miteinander abgestimmt werden. Wir treffen uns regelmäßig mit den verantwortlichen Kollegen von Oper und Thomanern, um die ­Spielpläne auf bis zu vier Jahre im Voraus zu koordinieren. Das Gewandhaus­ orchester hat heute 185 Planstellen

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ZUR PERSON und wird wie ein Pool organisiert. Hätten G ­ ewandhaus, Oper und Thomaner jeweils ein eigenes Orchester, dann müsste die Stadt Leipzig circa 250 Musiker finanzie­ ren. Wir können darum keine Spiel­ pläne aufstellen, die beispielsweise 200 Musiker benötigen. In der Praxis funktioniert die Koordination dieser enormen Komplexi­tät sehr gut. Wir arbeiten als Institutionen hervor­ ragend zusammen und können unsere künstlerischen Ideen immer realisieren.

Die Kollegen kennen Gotthold Schwarz sehr gut. Er ist ja oft für Herrn Biller eingesprungen, manche kennen ihn auch als Solisten oder als Dirigenten seines Ensembles Concerto Vocale. Herr Schwarz ist bei uns im Orchester gut vernetzt, man arbeitet kollegial miteinan­ der. Zudem ist er eine hochgradig integrative Persönlichkeit für die Thomaner.

mente, die den Raum und dessen Akustik stärker als bisher nutzen – etwa durch veränderte Aufstellungen. Wie nimmt das ­Orchester diese Ideen auf?   Solange wir das im organisato­ rischen Rahmen abbilden können, ist das Orches­ter sehr bereitwillig. Dies haben wir beispielsweise bei Gardiner gemacht, der bei bestimm­ ten Werken das Orchester stehend wünschte. Der Thomas­kantor hatte das künstlerische Ziel, schon bei der Motette am Freitag­abend eine Continuo-Gruppe ein­zu­setzen. Das ist logistisch nicht einfach, weil Freitag immer Konzert und parallel dazu Oper stattfinden. Aber wir haben auch dafür eine gute Lösung gefunden.

Festival kaum erschlossen. Wird sich das ändern?   Ja. Wir stehen mit den Kollegen des Bachfestes intensiv im Kontakt, haben gemeinsame Planungstreffen und stimmen uns eng ab. Nach der Neustrukturierung der Leipziger Festivallandschaft wird dies so bleiben. Die Zusammenarbeit mit ­Michael Maul und Peter Wollny macht große Freude!

Andreas Schulz

Den vollständigen Das Gewandhausorchester beteiligt sich stets am Bachfest, das nun Artikel finden um Mendelssohn Bartholdy erweiZu den Ideen, die in der Thomas­ tert worden ist. Aber bisweilen hat Sie im Bachkirche bisweilen realisiert werden, sich der Zusammenhang zwischen gehören immer öfter auch Experi- Magazin den Konzertprogrammen und dem

Der neue Thomaskantor ist für die Gewand­hausmusiker kein Unbekannter, er arbeitet schon seit Jahrzehnten in Leipzig. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Orchester?

Hagen Kunze im ­Gespräch mit ­Andreas Schulz im Foyer des Gewand­ hauses im August 2018

Wagen wir zum Schluss den Blick ein Vierteljahrhundert voraus in die Zukunft der 2040er Jahre: Wird Bach dann auch noch im Gewandhaus eine Rolle spielen?   Ich bin davon überzeugt, dass die Werke von Bach und Mendelssohn Bartholdy immer ein wesentlicher Teil des Repertoires des Orchesters bleiben werden. Es hängt natürlich davon ab, wer Gewandhauskapell­ meister ist und welche Affinität er zur Bach’schen Musik hat. Aber Pro­ gramme ohne diese beiden groß­ artigen Komponisten kann ich mir nicht vorstellen. Wie schon gesagt: Bach und Mendelssohn Bartholdy gehören zur DNA des Gewandhaus­ orchesters.

ZUM AUTOR Hagen Kunze arbeitet als Publizist, Musikkritiker und Lehrer. Zudem ist er als Kirchenmusiker aktiv.

Prof. Andreas Schulz (*1961) studie­rte in Hamburg Musikund ­Literaturwissenschaft sowie Musik­pädagogik und ­Er­zie­hungs­wissenschaft. Nachdem er mehrere Jahre für das Schleswig-­Holstein Musik Festi­val und als Leiter des ­Referats für Veranstaltungs­ wesen und Öffentlichkeits­ arbeit der Musikhochschule Lübeck gearbeitet hatte, war er von 1995 bis 1997 Geschäfts­führer der Glocke Veranstaltungs-GmbH Bremen. Im Jahr 1998 wurde er zum ­Gewandhausdirektor ernannt und ist somit für das gesamte künstlerische Management ­ des Ge­wandhausorchesters und des Gewand­hauses verantwortlich. Seit 2001 lehrt er als Honorarprofessor an der Hochschule Bremen für das Fachgebiet Musik- und Kulturmanagement.


thema

Johann Adam Hiller war von 1781 bis 1785 der erste Gewandhauskapellmeister. Kupferstich von Christian Gottlieb Geyser nach einem Ge­mälde von ­Heinrich Friedrich Füger, um 1775 (Bach-­Archiv Leipzig)

Zwischen Kaffeehaus und Tuchboden

Die Leipziger Musiklandschaft nach der Gründung des „GroSSen Concerts“

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Von Manuel Bärwald


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as Leipziger Musikleben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war geprägt von einer rasanten ­Entwicklung seiner Institutionen und einer Ten­ denz zu deren immer stärkeren Ver­flechtung. Ihren Ausgang nahm diese Entwicklung mit der Gründung des „Großen Concerts“ als privater Konzert­gesellschaft im März 1743. Das Ensemble, das von Leipziger Kaufleuten finanziert wurde, ent­ wickelte sich binnen kurzer Zeit zu einem stattlichen Orchester, dessen Publikumszulauf bald den privaten Rahmen der Konzerte sprengte. Be­ reits 1744 wechselten die Veranstalter ins Hinterhaus des Gasthofes „Zu den Drei Schwanen“ am Brühl, wo es einen geräumigen Konzertsaal gab. Die zeitgenössischen ­italienischen Repertoires – Opernsinfonien, Ora­ torien und Opernarien – ­dominierten diese Bühne seit den späten 1740er Jahren immer mehr. Weit gereiste italienische Sänger traten hier auf und die italienischsprachigen Passions­oratorien Johann Adolf ­Hasses erfreuten sich großer Be­ liebtheit. Ab den 1760er und 1770er Jahren wurde das Repertoire von Werken Carl Heinrich Grauns, ­Giovanni Battista Pergolesis, ­Joseph Haydns und Johann Gottlieb Naumanns ergänzt. Die Leipziger

Konzertprogramme standen damit über dreißig Jahre in einer beinahe unveränderten Tradition, die letzt­ lich nur während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) unterbrochen wurde und sich in erster Linie an den Repertoires der Höfe in Berlin und Dresden orientierte. Nachdem das Bach’sche Collegium Musicum infolge des Todes des Kaffeehaus­ betreibers Gottfried Zimmermann im Frühsommer 1741 seine Auf­ führungen eingestellt hatte, erhielt das Leipziger Musikleben nicht nur durch die Gründung des „Großen Concerts“, sondern vor allem auch durch die seit 1744 nach Leipzig ­reisenden italienischen Opern­ truppen neue Impulse. Die Ensem­ bles von Pietro und Angelo Mingotti präsentierten hier italienische Seria-Opern und Intermezzi von Pergolesi, Hasse und Gluck. In den 1750er Jahren folgte den Mingottis die Truppe von Giovanni Battista Locatelli. Statt der Seria-Werke er­ klangen nun in Leipzig die zur glei­ chen Zeit in Venedig so populären Drammi giocosi aus der Feder Carlo Goldonis in den Erstvertonungen von ­Baldassare Galuppi. Zeitgleich mit der Bühne der Operisten öffnete zur Ostermesse 1744 vor den Stadtmauern ein neues Gartenlokal seine Pforten, das sich in den folgenden Jahren zu einer

Das Schau­ spiel­haus in Leipzig wurde 1766 eröffnet. ­Kolorierte Radie­ rung von Christian Gottfried Heinrich Geißler, um 1830 (Stadt­ geschicht­ liches Museum Leipzig, Inv.-Nr. Gei I/22 a)

der beliebtesten Leipziger Konzert­ bühnen entwickeln sollte: Der Cafe­ tier Enoch Richter eröffnete damals einen Kaffeegarten vor den Toren der Stadt und übernahm um 1745/46 außerdem das Zimmermann’sche Kaffeehaus in der ­Katharinenstraße. Beide Lokale baute er zu Spiel­ stätten mit einem florierenden Konzert­betrieb aus, die mit kleinen Unter­brechungen noch bis 1794 als Auf­führungsorte dienten. Die italie­ nischen Operntruppen holten sich zur Verstärkung stets Musiker des „Großen Concerts“ und von ­Richters Bühne in den Orchestergraben. In Ermangelung eines O ­ pernhauses fanden ihre Aufführungen im städti­ schen Reithaus statt. Diese Situation verbesserte sich erst mit dem Bau eines Schauspiel- und Komödien­ hauses beim Ranstädter Tor im Nordwesten des Stadtzentrums. Unter­nehmer des Theaterbaus war der Leipziger Kaufmann Gottlieb ­Benedict Zemisch, der seit den 1740er Jahren schon die Geschäfte des „Großen Concerts“ leitete. Das Haus eröffnete am 10. Oktober 1766 und bot bis zu 900 Zuschauern Platz. Be­ spielt wurde die Bühne zunächst von Heinrich Gottfried Koch – einem ehe­ maligen Mitglied der Neuber’schen Truppe – und dessen Theatergesell­ schaft, die seit 1750 mit k ­ urfürstlichem Privileg in Leipzig auftrat.


Auf den Bühnen der Komödian­ ten und der Konzertgesellschaften erfreuten sich seit den späten 1740er Jahren deutschsprachige Singspiele immer größerer Beliebt­ heit. Besonders gut dokumentiert ist eine Produktion der Koch’schen Bühne aus dem Jahr 1752: Das Lust­ spiel Der Teufel ist los komponierte Johann Georg Standfuß, ein Musiker aus Kochs Ensemble. Den Text der Koch’schen Fassung hatte Christian Felix Weiße aus einer englischen Vorlage (Charles Coffeys The devil to pay) bearbeitet. Nach dem Sieben­ jährigen Krieg bearbeitete Weiße das Stück abermals, nun nach dem Vorbild der neuen französi­ schen Opéra comique. Ziel war die Schaffung einer komischen Oper in deutscher Sprache, eines Deutschen Singspiels. Für die musikalische Ausarbeitung des Librettos konnte Koch Johann Adam Hiller gewinnen, der seit 1763 das „Große Concert“ leitete und inzwischen einer der einflussreichsten Musiker in ­Leipzig geworden war. Die Aufführung dieses ersten Singspiels, das der Zusammenarbeit von Koch, Hiller und Weiße entsprungen war, fand am 28. Mai 1766 statt und wurde ein voller Erfolg. In der Folge entstan­ den aus dieser Zusammenarbeit bis 1781 noch ein knappes Dutzend weitere Deutsche Singspiele. Als Leiter des „Großen Concerts“ hingegen führte Hiller eigene Kom­ po­sitionen nur zu besonderen Anlässen auf. Ansonsten schrieb er die Tradition der Pflege von Hasses Werken fort. Eine weitere wichtige Säule der Orchesterarbeit bestand seit der Eröffnung des neuen Komö­ dienhauses in der zunehmenden Rolle als Opern- und Theaterorches­ ter. In den 1780er Jahren präsen­ tierten die Impresarios Pasquale ­Bondini und Franz Seconda hier zum ersten Mal die Opern von Wolfgang Amadé Mozart: Die Ent­ führung aus dem Serail (1783), Don Giovanni und Le nozze di Figaro (beide 1788), Die Zauberflöte (1793) und Così fan tutte (1794). Ein Problem aller Leipziger Kon­ zertstätten dieser Zeit war, dass sie ihren Besuchern keinen Konzertsaal bieten konnten, der hinsichtlich Größe und Akustik dem Renommee, das die Leipziger Konzert­landschaft

inzwischen genoss, angemessen war. Honorige Gäste der Messen beklagten diesen Umstand des Öfteren, sodass sich der Stadtrat immer mehr zum Handeln ge­ drängt sah. Carl Wilhelm Müller, ein enger Freund Hillers und seit 1771 in der Stadtverwaltung ange­ stellt – zunächst als Stadtrichter, später mehrfach zum Bürgermeister gewählt –, regte 1780 den Bau eines neuen Konzertsaals an, der sich im Gewandhaus über dem Boden, „wo Messenszeit die fremden Tuchma­ cher und Tuchhändler ihre Waaren feil haben“, befinden sollte. In diesem Saal musizierte fortan die 1775 von Hiller gegründete „Musik­ übende Gesellschaft“, die nun unter einer neuberufenen Konzertdirektion aus Leipziger Gelehrten und Kauf­ leuten stand. Dieses Konsortium berief Hiller zum Musikdirektor über die neugegründeten Gewand­ hauskonzerte. Als dieser Leipzig 1785 verließ, übernahm sein Schü­ ler Johann Gottfried Schicht die Konzert­leitung. Seit 1781 erklangen auf der Bühne im Gewandhaus nun immer seltener Hasses italienische Stücke. Sie wichen oratorischen Vertonungen deutscher Texte, darunter Kompositionen von Carl

Carl Wilhelm Müller (1728–1801) regte den Einbau eines Konzertsaals über dem Tuchboden des Gewand­ hauses an. Ölgemälde von Anton Graff, 1773 (Stadtge­ schichtliches Museum Leipzig, Inv.-Nr. Stadtrichter Nr. 38)

Theater­ zettel zur Leipziger Erstauf­ führung einer deut­ schen Bear­ beitung von Wolfgang Amadé Mo­ zarts Così fan tutte (Stadtge­ schicht­ liches Museum Leipzig, Inv.-Nr. MT/861/ 2006)

­ hilipp Emanuel Bach, Johann P Heinrich Rolle, von Schicht selbst und von dem Dresdner Kreuzkantor Christian Ehregott Weinlig. Die immer stärkere Verflechtung der musikalischen Institutionen Leipzigs brach sich mit der Rück­ kehr Hillers und seinem Amtsantritt als Thomaskantor im Jahre 1789 endgültig Bahn. Befördert durch die finanzielle Unterstützung, die ihm Bürgermeister Müller ge­ währte, wurde unter Hillers Ägide zur Winter­saison 1795/96 mit der Anstellung des Konzertmeisters ­Johann Ernst Villaret jene Zusam­ menarbeit zwischen Thomanerchor und Gewandhausorchester begrün­ det, die noch bis heute andauert. Die Jahrzehnte, die sich an Bachs Amtszeit anschlossen, stellten eine Phase der Neuausrichtung dar, die insbesondere dem sich grundlegend gewandelten Konzert- und Opern­ betrieb Rechnung trug. Die Wurzeln der modernen Musikstadt Leipzig liegen damit in den Jahren um 1800 und somit in einer Epoche, die musikalisch erst von der Genera­ tion der Schüler und Enkel-Schüler Johann Sebastian Bachs geprägt worden ist.

ZUM AUTOR Dr. Manuel Bärwald ist Musik­ wissenschaftler und wissen­ schaftlicher Bibliothekar. Am Bach-­Archiv Leipzig ist er seit 2009 tätig. 2016 erschien seine Doktor­arbeit zum Thema ­Italienische Oper in Leipzig (1744–1756).

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pioniere

Heinrich von ­­Herzogen­­berg ­signierte das um 1880 ent­ standene Foto (­Leipziger Städtische ­Bibliotheken – Musik­ bibliothek).

Von Konrad Klek

Mit dem Ziel, die bis dahin kaum aufgeführten Kantaten Johann Sebastian Bachs der Öffentlichkeit zu präsentieren, wurde auf Anregung Philipp Spittas 1875 der Leipziger Bach-Verein gegründet. 1920 fusionierte er mit dem Gewandhauschor. Mitbegründer Heinrich von Herzogenberg (1843–1900) war von 1876 bis 1885 Leiter des Bach-Vereins. Seine äußerst intensive Beschäftigung mit Bachs Werken beeinflusste seinen Kompositionsstil erheblich.

Studire ­Contrapunct mit wahrer Leidenschaft


D

er große Bach-Biograph Philipp Spitta (1841–1894) streifte Leipzig nur kurz: Von April 1874 an war er ein Jahr lang Lehrer an der Nikolaischule. Dann übernahm er höhere akademische Ämter in ­Berlin. Mit der Gründung des Bach-Vereins zu Leipzig gab er aber einen wichtigen Anstoß, um vornehmlich die im Zuge der Bach-Ausgabe erscheinenden Kantaten in ­Leipzig bekannt zu machen. Der Vereinsgründung am 31. Januar 1875 war als „Probe­lauf“ am 23. Januar ein Konzert in der Thomas­kirche mit den Kantaten BWV 4, 37 und 11 vorausgegangen. Chorleiter Alfred Volkland (1841–1905) wechselte bereits zum Herbst 1875 nach Basel, weshalb nach kurzem Interreg­ num durch Hermann Kretzschmar der bisherige Schriftführer des Vereins, Heinrich von Herzogenberg, für fast zehn Jahre die Leitung des Chores übernahm. Zusammen mit seiner ­Gattin Elisabeth, geborene von Stockhausen (1847–1892), lebte ­Herzogenberg als freischaffender Komponist seit 1872 in der sächsischen Musikmetropole. Nach dem Jura- und Musik­ studium in Wien hatte er zuvor in seiner Heimatstadt Graz gewirkt und sich nun bewusst umorientiert. Von der neuen Bach-Aufgabe ließ er sich begeistern – er verzichtete auf ein Chorleiter-Honorar, und seine musikalisch hochbegabte Gattin zog kräftig mit. Als Eiferer für reine Stimmung im Chorgesang probte Herzogenberg weitestgehend ohne Klavier! Im zweiten Jahr richtete er eine Chorschule ein, die tagsüber den (nicht berufstätigen) Damen auf die sängerischen Sprünge helfen sollte, die für Bach-Werke erforderlich sind. Drei Konzerte pro Jahr waren üblich: zwei Kantatenkonzerte in der Thomaskirche (Dezember und Februar/März) sowie ein Konzert im Mai an anderer Lokalität, auch außerhalb, mit gemischtem Programm

hinsichtlich der Komponisten und der Literatur (geistlich/weltlich und unter Einbeziehung von Instrumentalmusik). Leipzig hatte auf den Bach-Verein nicht gewar­ tet. Es gab bürgerliche Chöre wie den nach seinem Leiter benannten Riedel-Verein, und „scharf auf Bach“ war das Leipziger Publikum auch nicht. Da Spitta im fernen Berlin weiterhin die Funktion eines Spiritus rector ausübte, wechselten viele Briefe zwischen ihm und Herzogenberg hin und her – sie sind glücklicherweise erhalten und erge­ ben ein sehr genaues Bild. Die ersten zehn Jahre des Bach-Vereins waren kritische Jahre, umso mehr zählte die persönliche, auch finanzielle ­Opferbereitschaft der Protagonisten. Gehörte Bach schon nicht zu den Lieblings­ komponisten der Zeit, dann erst recht nicht in der per Vereins-Statuten vorgegebenen auf­ führungspraktischen Stoßrichtung der Noten­ text-Treue. Heiß diskutiert wurde damals die Frage der Generalbass-Aussetzung. Im Trend lag die symphonische Bearbeitung der Partituren, wo sich Begleitakkorde erübrigen. Für Spitta aber war die Orgelbegleitung bei Bach essenziell. So wurden stilistisch kompatible Orgelstimmen in Auftrag gegeben und in fünf Fällen Kantaten „im Clavier­auszuge mit unterlegter Orgelstimme“ auch gedruckt. In der Thomaskirche stand – vor dem Umbau von 1885 bis 1889 – noch die Orgel aus Bachs Zeiten, inzwischen stark verändert, unzuverlässig in der Funktion und widerborstig hinsichtlich des Stimmtons. Als Herzogenberg 1883 die Leitung der alljährlichen Matthäus-­ Wohnhaus Passion mit vereinigten Leipziger Chorkräften des Ehe­ zufiel, kam er auf die Idee, ein Harmonium als paars von Herzogen­ Continuo-Instrument einzusetzen. Die Erfahrung berg in der war durchaus positiv, weshalb das Harmonium Leipziger später in seinen eigenen Oratorien (Die Geburt Seeburg­ straße Christi op. 90, Die Passion op. 93) eine tragende Rolle bekam. Das Ehepaar von Herzogenberg fühlte sich in Leipzig sehr wohl. Mühelos fanden sie Anschluss an die kulturtragenden Kreise. „Sie sind, ohne unser Zuthun, wie von selbst in unsern engern Freundeskreis getreten, in den sie passen, als wären sie von jeher darin groß geworden“, berich­ tete im März 1873 die Komponistengattin und Seit 2017 Mäzenatin Hedwig von Holstein an das Ehepaar erinnert Rheinberger in München. Das Haus Wach mit dort eine Gedenk­­tafel Juraprofessor Adolf und Gattin Elisabeth (genannt an das ­Ehe- Lili, jüngste Tochter Felix Mendelssohn Barthol­ paar von dys) war ein weiterer wichtiger Bezugspunkt, ­Herzogenebenso die Familie von Gewandhaus-Konzert­ ­ erg. b meister Engelbert Röntgen. Dessen Sohn Julius (1855–1932), ein musikalisches Multitalent, bald in Amsterdam tätig, blieb lebenslang mit Herzogen­berg verbunden und bildete eine Brü­ cke zum gemeinsamen Freund Edvard Grieg (1843–1907), der, exakt fünf Tage jünger als Herzogenberg (und wie dieser nun 175 Jahre „alt“), seit einem Leipzig-Aufenthalt 1875 sein

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Duzfreund war. Kürzlich konnte die erste Leipziger Wohnstätte der ­Herzogenbergs in einem aparten „gothischen Haus“ in der Seeburgstraße 47 identifiziert und mit einer Gedenktafel aus­gestattet werden. Sie liegt nur 100 Meter von der Grieg-­ Gedenkstätte entfernt. Für weitere Künstlerpersönlichkeiten, die regelmäßig in ­Leipzig verkehrten, wurden die Herzogenbergs ihrerseits zur wichtigen Adresse, etwa für den Violinisten Joseph Joachim, Leiter der Berliner Musikhochschule, an die Herzogenberg 1885 berufen werden sollte. Clara Schumann, als 1819 Geborene eine ganze Generation älter, wurde unter anderem bei ihrer L ­ eipziger Programmgestaltung beraten. Zentral für die Herzogen­bergs wie für Leipzig war aber die „Brahms-Connection“. Auf Betreiben des Ehepaars kam Brahms, den beide von Wien her kannten, ab 1877 regelmäßig zu Brahms-Wochen in die Stadt, die ihn 1859 bei der Uraufführung seines ersten Klavier­konzerts noch so schmählich behandelt hatte. Nun bildete sich hier eine regel­ rechte Brahms-Gemeinde. Der Komponist logierte stets bei den Herzogen­bergs, jetzt in der Humboldtstraße 24, und ließ sich von „Lisl“ verwöhnen, über die Hedwig von Holstein schrieb: „Zu diesem Musikleben & zu ihrer superfeinen Cultur paßt sehr wunderlich ihre Leidenschaft für die edle Kochkunst.“ Der sehr gehaltvolle und umfangreiche Briefwechsel der Herzogenbergs mit Brahms erschien schon 1907 als erster (Doppel-)Band der Brahms-Briefausgabe. Kompositorisch eiferte Herzogenberg seinem Idol Brahms in vielerlei Hinsicht nach, etwa in den Gattungen der Kammer­ musik. Seine intensive Auseinandersetzung mit Bachs Werk motivierte ihn aber auch zu intensiven Kontrapunktstudien. In einem Brief an Grieg, der über mangelnde Inspiration geklagt hatte, riet er ihm am 24. April 1878: „Mach’s wie ich, wenn die Erfindungsader etwas matter schlägt, so arbeite ich Choräle und ähnliches, oder studire Contrapunct mit wahrer Leidenschaft. Um mich dabei fest zu halten habe ich mir eine sehr begabte Schülerin angeschafft, die mich förmlich zum Studium zwingt.“ Diese Schülerin ist die in ihrer Unkonventionalität legendäre Britin Ethel Smyth (1858–1944). Jahrzehnte später sollte sie in ihren autobio­graphischen Impressions that remained (1919) den Herzogenbergs und dem damaligen Leipziger Leben ein Denk­ mal setzen. Von seinen Kontra­ punktstudien veröffentlichte Herzogenberg Sechs Choräle für die Orgel op. 67, die beiden Orgel-Phantasien op. 39 und 46 sowie die Präludien und Fugen in den Clavierstücken op. 49. Signifikant, aber nur teilweise publiziert, sind Zwölf Fugen für das Pianoforte über ein gegebe­ nes Motiv, deren Manuskript in der Leipziger Stadtbiblio­ thek erhalten ist. Das Motiv: „C-a-f-f-e“! Die teilweise hoch komplexen Studien entstanden während eines Florenz-Aufent­ halts im Frühsommer 1880 als „germanisches Gegengift gegen Welschlands Üppigkeit“, wie er im September 1880 an Freund Spitta schrieb. Dieser zeigte sich unempfänglich für den hinter­

Die Foto­ grafie von Elisabeth von Herzo­ gen­berg stammt aus dem Nachlass des ­Leipziger Cellisten Julius ­Klengel (Univer­­si­täts­-­ biblio­thek ­Leipzig, Nachlass 252/6/2/ 2/71).

Titelblatt der Messe e-Moll von Heinrich von Herzo­ genberg (Sammlung Konrad Klek, ­Erlangen)

sinnigen Humor und riet in seiner Replik Anfang Oktober von der Publikation ab: „Auch muß ich bekennen, daß mir der Caffee als Motiv für ein so ernsthaftes und gründliches Werk nicht behagt.“ Ganz ernsthaft agierte Herzogenberg dann in den beiden großen chorsymphonischen Werken, die als „Trauerarbeit“ entstanden: die Todten­ feier op. 80, komponiert am Ende des Trauer­ jahres für seine 44-jährig verstorbene Gattin über Weihnachten 1892, und die Messe e-Moll op. 87, komponiert in drei Monaten direkt nach S ­ pittas überraschendem Tod am 13. April 1894. Die Todten­feier ist eine große zweiteilige Kantate nach Bach’schem Vorbild über Bibelworte und Choräle; auch ihre i­ nhaltliche Botschaft, das Zeugnis vom auferstan­denen Christus, kennzeichnet Bach’scher Geist. Die Messe birgt kontrapunktische Meister­ leistungen mit tiefem inhaltlichem Hintersinn in Fülle, präsentiert in opulentem, hochromanti­ schem Klanggewand. In Sachen Bach-Adaption durch Heinrich von Herzogenberg hat nicht nur Leipzig noch einiges zu entdecken!

ZUM AUTOR Konrad Klek, Dr. theol. und A-Kirchen­ musiker, ist Professor für Kirchenmusik und Universitätsmusikdirektor in Erlangen. Neben Johann Sebastian Bach ist Heinrich von Herzogenberg sein Spezialgebiet in künstlerischer Praxis wie w ­ issenschaftlicher Forschung. Von 2004 bis 2017 war er Präsi­ dent der Internationalen HerzogenbergGesellschaft.


forschung

Neue Forschungs­ ergebnisse im Bach-Jahrbuch 2017

D

ie Aufführung liturgischer lateinischer Kirchen­ musik, die zu Johann Sebastian Bachs allwöchent­ lichen Amtspflichten gehörte, war selten ein um­­fassender Gegenstand der Forschung. Der ­Bestand in Bachs Notenbibliothek, erstmalig durch Kirsten Beißwenger 1992 in ihrer Dissertation nachge­ wiesen, konnte seitdem durch weitere Abschriften Bachs er­ gänzt werden. Peter Wollny hat sich den nicht identifizierten Kompositionen in Abschriften Bachs angenommen – Werke, die man 1950 im ersten Bach-Werke-Verzeichnis noch zu Bachs eigenen oder möglicherweise eigenen Werken zählte, und die nun genauer bestimmt werden können: Das Sanctus in d (BWV1 239) stammt von Antonio Caldara aus dem Gloria der Missa Providentiae, ein Werk, das einen Weg über Prag nach Dresden fand, wo Bach es wohl kennenlernte; ebenso das Sanctus in G (BWV 240), dessen Prager Vorlage im nur schwer zugänglichen Archiv des Kreuzherrenstiftes unter den Anonyma ermittelt werden konnte. Die von Bach abgeschriebene Messe in C (BWV Anh. 25) stammt entweder von Francesco Bartolo­ meo Conti oder von einem nicht sicher identifizierten „Carolo Schmidt“, wie zwei aus Breslau stammende Parallelquellen an­ deuten. Das Sanctus in B (BWV Anh. 28) stammt aus einer sechs Messen umfassenden, 1727 in Augsburg gedruckten Sammlung von Carl Friedrich Ritter, einem schlesischen Augustinermönch. Die Durchsicht der hier genannten Werke, aus denen Bach zum Teil nur einzelne Sätze übernahm, zeigt darüber hinaus musika­

lische Einflüsse auf Werke Bachs. Auch dieser Bei­ trag Wollnys geht mit Identifizierungen von drei Kopisten einher, welche sichere Anhaltspunkte für die Datierung von Aufführungen geben. Eigenhändige Korrekturen Bachs in der Partitur des Weihnachtsoratoriums zum Eingangschor „Jauchzet, frohlocket“ BWV 248/1 nimmt Klaus Hofmann zum Anlass, das Ergebnis einer vor eini­gen Jahren publizierten Hypothese infrage zu stellen: nämlich, dass Bach auch in der geistlichen Parodiefassung die erste Zeile der weltlichen Vor­ lage zunächst noch beibehalten wollte: „Tönet, ihr Pauken, erschallet Trompeten!“ Hans-Joachim Schulzes biographischer Beitrag über Johann Christian Kluge, einem Orgelrevisor und Organisten wie Bach, zeichnet akribisch die biographischen Stationen und Tätigkeiten eines Musikers nach, dessen zahlreiche Anstellungen beispielhaft andeuten, in welcher Bedrängnis die oftmals schlecht bezahlten Organisten zur BachZeit offenbar lebten. Kluge bekleidete 1733–1748 das Organistenamt der Naumburger Wenzels­ kirche und genießt durch sein „Gegengutachten“ zur neuen Hildebrandt-Orgel, in welchem er 1746 die Orgelabnahme durch Bach und Gott­ fried Silbermann kritisiert (Bach-Dokumente


Von Christine Blanken

Bd. II Nr. 551), einen schlechten Ruf in der Bach-Biographik. Schulze weist hingegen dessen umfassende akademische Bil­ dung nach und deutet an, dass sich Kluges Lebensweg mehrfach mit dem Bachs gekreuzt haben dürfte. George B. Stauffer fördert erneut Belege zu einem von Johann Sebastian Bach selbst korrigierten Originaldruck zutage: Ein bis­ lang nie ausgewertetes Exemplar von Einige canonische Verænde­ rungen über das Weynacht-Lied: Vom Himmel hoch da komm ich her BWV 769 zeigt Bachs Hand in fünf kleinen Einträgen in roter Tinte – vergleichbar seinen Korrekturen in zwei Exemplaren der Clavier-Übung III und IV. Die folgenden sechs Beiträge des Bach-Jahrbuchs bilden gleichsam einen Berlin-Schwerpunkt: Der Auftraggeber beziehungsweise Namensgeber der soge­ nannten Brandenburgischen Konzerte, Markgraf Christian Ludwig (1677–1734), und einige Musiker seiner Kapelle stehen im Bach-Jahrbuch erstmals seit 1956 wieder im Fokus eines umfangreichen Beitrags. Rashid-S. Pegah fördert Details aus selten verwendeten Archivquellen zum Berliner Musikleben der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ans Licht, die bislang in der Bach-Forschung unberücksichtigt blieben. Doch Nachweise zum Verbleib von Christian Ludwigs reichhaltiger Musiksammlung stehen nach wie vor aus. Bald nachdem Carl Philipp Emanuel Bach die autographe Par­ titur der h-Moll-Messe BWV 232 mit seinem Erbteil nach Berlin gebracht hatte, entstanden erste Abschriften. Daniel Boomhower

setzt sich in seiner 2017 angenommenen Dissertation, deren Thesen hier zusammengefasst werden, mit diesen frühesten Abschriften der h-Moll-Messe aus­ einander, die von Berlin aus auch ihren Weg in Wiener Bach-Sammlungen fanden. Identifizierungen von Bachs Leipziger Kopisten haben in den letzten vier Jahrzehnten viele Korrek­ turen zur Datierung Bach’scher Vokalwerke ermög­ licht. Orgel- und Clavierwerke konnten von diesen Neuerkenntnissen meist nicht profitieren, da in den wenigsten Fällen noch Originalquellen vorliegen. Hier bildet Bernd Koskas Beitrag eine wertvolle Er­ gänzung: Untersucht hat er etwa 150 Abschriften der professio­nellen Berliner Kopisten Johann Gottfried Siebe und Johann ­Nicolaus Schober (deren Namen bereits ­Christoph Henzel mit Graun-Abschriften in Verbindung gebracht hatte). Koska kann ihre Ab­ schriften nun genauer datieren, was besonders für die Berliner Überlieferung von Bachs Orgelmusik­ quellen wichtig ist. Aus der preußischen „Königlichen Haus-Bibliothek“ fördert Tatjana Schabalina Quellen mit Instrumentalwerken Johann Christian Bachs aus den Beständen des Glinka-Museums in Moskau zu­ tage. Berthold Over weist auf eine bislang unbekannte ­Abschrift von Präludium und Fuge C-Dur BWV 531 mit einigen Lesarten-Varianten hin: Sie stammt vom Berliner Marien-Organisten J­ ohannes Ringk (1717– 1778), der als Kopist Bach’scher Werke bekannt ist. Dokumente aus Carl Philipp Emanuel Bachs ­Berliner Jahren fokussieren zwei weitere Beiträge: Bezug nehmend auf eine Forschungskontroverse weist Christoph Henzel nach, dass Carl Philipp Emanuel Bach in seiner Autobiographie von 1773 seinen Eintritt in die gerade erst neu formierte preu­ ßische Hofkapelle unter Friedrich II. um mindestens ein Jahr vorverlegt hat. Wenig bekannten Rechnungs­ belegen zufolge (bereits im Bach-Jahrbuch 1933 zitiert) kann Bach frühestens in der zweiten Jahreshälfte 1741 Hofcembalist geworden sein. Daran ändern Henzel zufolge auch oftmals behauptete Zahlungen aus einer vermeintlichen Privatschatulle des Königs nichts, denn diese ist erst für 1742 nachweisbar. Paul Corneilson bringt C. P. E. Bachs Trompeten- und ­Paukenstimmen zu Carl Heinrich Grauns berühm­ tem Te Deum mit einer besonderen, von Friedrich II. nach Ende des Siebenjährigen Kriegs 1763 angeblich persön­lich angeordneten Aufführung in Verbindung. Als Abschluss des Themas „Bach und Berlin“ werden in der 2015 begonnenen Reihe „Dokumen­ tation“drei verstreut publizierte Bemerkungen von Berliner Zeitgenossen zu Wilhelm Friedemann Bachs Aversion in Bezug auf das „Informiren“ in Aus­ schnitten zitiert.

ZUR AUTORIN Dr. Christine Blanken ist seit 2005 als wissen­­schaftliche Mitarbeiterin am Bach-­Archiv Leipzig tätig und leitet seit 2011 das ­Forschungs­referat II (Die Bach-Familie).

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